Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 10|2010
Auf dem Wasser
db deutsche bauzeitung 10|2010

Modul-Armada

Wasserwohnungen in Amsterdam-IJburg (NL)

Der auf künstlich aufgespülten Sandinseln entstehende Stadtteil IJburg bietet Raum für Experimente. Im Teilbereich Steigereiland wurde der Versuch unternommen, Sozialwohnungen und Hausboote mit Einfamilienhaus-Charakter auf kleinstem Raum zusammenzubringen. Als verbindendes Element dient ein modulares Bausystem, das einerseits flexibel ausbaubar ist und andererseits auch den weniger betuchten Bewohnern der Anlage ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln kann. Offen bleibt jedoch die Frage, inwieweit der direkte Anschluss an die Wasserwege die romantischen Erwartungen einiger Bewohner erfüllen und so manchen Nachteil der Lage mitten im See ausgleichen kann.

6. Oktober 2010 - Anneke Bokern
Gäbe es eine Rangliste der Niederlande-Klischees, dann stünden Hausboote vermutlich ziemlich weit oben, kurz hinter Tulpen, Windmühlen und Coffeeshops. Vermutlich ist das der Grund, weshalb sich im Ausland die Legende verbreitet hat, die Niederländer lebten massenhaft in schwimmenden Häusern und seien Experten im Wasserwohnungsbau. Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Zwar gibt es in den Niederlanden durchaus eine Menge Hausboote, aber architektonisch wertvolle Exemplare sind selten. Bewusst geplante, großmaßstäbliche Wassersiedlungen gab es bislang nicht. Doch in letzter Zeit entstehen erste Pläne für schwimmende Stadtviertel, z. B. in der Blauwe Stad bei Groningen, an den Noorderplassen in Almere und im Poelpolder nahe Den Haag. Wie man sich denken kann, ist der Grund dafür u. a. der Klimawandel. Nun sind die Niederländer aber nicht so naiv, zu glauben, dass schwimmende Eigenheime im Falle eines Deichbruchs ihre Rettung wären. Abgesehen vom hohen Lifestyle-Wert solcher Projekte, geht es vielmehr um ganz praktische Fragen des Wassermanagements und der Raumplanung. Denn aufgrund der Erderwärmung müssen in den Niederlanden immer mehr Wasserreservoires und Überlaufbecken angelegt werden, während in dem dichtbesiedelten Land gleichzeitig ein Mangel an Baugrund herrscht. Die naheliegende Lösung ist somit, auf dem Wasser zu wohnen.

Wiederum einen anderen, aber nicht weniger pragmatischen Hintergrund hat die neue Waterbuurt (Wassernachbarschaft) auf dem Steigereiland. Wie alle sieben Inseln des künstlichen Archipels IJburg, das derzeit östlich von Amsterdam entsteht, wurde auch die westlichste nach dem Pfannkuchenprinzip aus mehreren Schichten Sand aufgespült. Während sich das Neuland der anderen Inseln jedoch innerhalb eines Jahres setzt und bebaubar wird, befindet sich der nördliche Teil des Steigereilands über einer Urstromrinne und hat deshalb einen schwächeren Grund mit längerer Setzungszeit. An dieser Stelle befindet sich erst in 60 m Tiefe eine tragende Lehmschicht. Konventionelle Gebäude müssten auf Pfählen gegründet werden, die dreimal so lang wie üblich wären. Obendrein läuft quer über das Steigereiland eine Stromleitung, unter der nicht gebaut werden darf, so dass sich teure Landgewinnung dort nicht lohnt. Es lag also nahe, links und rechts der Stromschneise eine Wassersiedlung anzulegen. Dicht an dicht im Teich

Das Wasserviertel verbirgt sich hinter einem fünfgeschossigen Gebäuderiegel mit Wohnungen und Geschäftsräumen, der an der Haupterschließungsachse von IJburg steht. Durch vier große Tore sind die Stege erreichbar, an denen die schwimmenden Häuser liegen. Da die Wasserfläche im Westen und Osten von einem Deich begrenzt wird und sich am nördlichen Rand der Insel noch ein Viertel mit bis zu achtgeschossigen Wohnblöcken befindet, erscheint sie eher wie ein künstlicher Teich als wie ein umfriedeter Teil des IJsselmeers. Während an den Stegen nördlich des Strommasts individuell gestaltete Wasserwohnhäuser liegen, wurde der gesamte südliche Teil vom Architekturbüro Marlies Rohmer als Wohnanlage aus einem Guss entworfen, ähnlich den berühmten VINEX-Reihenhaussiedlungen auf dem platten Land. Insgesamt 75 Wohnungen gehören zum Projektgebiet, darunter 17 Deichhäuser am Haringbuisdijk und drei schmale, hohe Pfahlhäuser, die als Wahrzeichen neben der Schleuse und zwei beweglichen Brücken stehen. Der Großteil der Wohnungen liegt jedoch auf dem Wasser. Neben 13 Einfamilien- und zwölf Doppelhäusern gibt es 18 Häuser mit jeweils drei Wohnungen, die die ersten schwimmenden Mietwohnungen in den Niederlanden sind. Noch sind allerdings nicht alle Wassergrundstücke besetzt, denn die Häuser werden in einem kleinen Betrieb im IJsselmeerstädtchen Urk gefertigt, dessen Kapazität beschränkt ist. Bis Anfang 2011 sollen die Lücken gefüllt sein.

18 Wochen dauert der Bau eines Wasserhauses im Trockendock. Danach werden die Wohnungen – z. T. bereits aneinander gekoppelt, damit sie beim Transport nicht kippen – quer über das IJsselmeer geschleppt und an ihren Standort gebracht, leicht versetzt zueinander, um eine möglichst gute Aussicht zu gewährleisten. Das Viertel ist ziemlich dicht geraten, denn der Abstand von Wand zu Wand beträgt nur 12 m. Von den inneren Stegen aus sieht man vor lauter Häusern kaum Wasser. Das liegt auch daran, dass die Stege etwas niedriger als die Eingangstüren liegen und die Häuser insgesamt drei Geschosse zählen. Im Gegensatz zu den meisten niederländischen Wasserwohnungen, deren Proportionen aus Gründen der Stabilität jenen eines Bootes gleichen, sind die Häuser von Marlies Rohmer eher kubisch und ähneln damit gewöhnlichen Wohnhäusern. Unterhaltsfreie Holzoptik

Jedes Haus ist an zwei Stahlpfählen festgemacht, wobei ein zwischen zwei Ringen angebrachter Kunststoffgleiter ermöglicht, dass es sich mit dem Wasserspiegel auf und ab bewegt. Gezeiten gibt es im IJsselmeer nicht, so dass nur mit maximal 60 cm Höhenunterschied gerechnet wurde. Dieser Wert errechnet sich aus einem Pegelunterschied von ca. 10 cm zwischen Sommer und Winter, dem Wasserstand bei extremem Dauerregen und der Differenz zwischen völlig leerem und sehr schwer beladenem Haus. Als Schwimmkörper dient eine Betonwanne, die 1,50 m tief im Wasser versinkt. Sie besteht aus doppelt bewehrtem Beton und gilt nicht nur als leckfrei und unsinkbar, sondern benötigt auch keine weitere Aussteifung, so dass ein frei einteilbares UG entsteht, das bei den Einfamilienhäusern 6,80 x 9,20 m und bei den gekoppelten Wohnungen 4,85 x 9,20 m misst. Um durch den Beton dringenden Wasserdampf abzuführen, befindet sich in der Wanne eine isolierte Vorsatzwand mit einem belüfteten Luftspalt. Der Aufbau besteht aus einer Holzskelettkonstruktion, die mit Kunststoffplatten ausgefacht und damit sehr leicht ist. Dadurch liegt der Schwerpunkt der Häuser niedrig. Zwar können sie zunächst in eine gehörige Schieflage geraten, wenn die Bewohner beim Einzug ihre Möbel aufstellen, aber das lässt sich mit nachträglich angebrachten Schwimmelementen beheben. Der Zugang zu den meisten Wohnungen liegt in der Seitenfassade, damit der Höhenunterschied zwischen Steg und Tür über eine möglichst lange, auf Rädern gelagerte Laufbrücke bequem überbrückt werden und die Hauptfassaden komplett verglast werden konnten. Nur bei den Mittelwohnungen in den Dreiergruppen befindet sich die Eingangstür in der Hauptfassade und ist über eine flexible Scherentreppe zu erreichen. Dahinter liegt bei allen Häusern das Hochparterre mit Küche und einem weiteren Zimmer. Das Wohnzimmer und die Terrasse befinden sich im auskragenden OG, Schlafzimmer und Bad liegen im UG. Um etwas Abwechslung in das Konzept zu bringen, konnten die Bewohner selbst aussuchen, in welche Richtung ihre Dachterrasse orientiert sein sollte, auch lassen sich die Häuser mit Elementen aus einem Baupaket wie Wintergarten, Ponton oder Markise erweitern. Daneben sorgen die unterschiedlichen Farben der Seitenfassaden aus Mineralfaser-Paneelen in Holzoptik für Variation. Dieses Material wählten die Architekten, ebenso wie die Kunststofffensterrahmen, weil die Fassaden komplett unterhaltsfrei sein müssen. Größere Fensterformate und schlichtere Paneele, die gar nicht erst versuchen, wie Holz auszusehen, hätten sich besser gemacht.

Zahnloser Tiger

Obwohl man es in einem Land, das Erfahrung mit Hausbooten hat, nicht erwarten würde, lagen die größten Probleme im Anschluss der Siedlung an Strom und Wasser sowie im Brandschutz. Letztlich wurden die Leitungen, inklusive einer trockenen Steigleitung, in einem Betontunnel unter die perforierten Metallstege gehängt und für jedes Haus ein Stromzähler auf dem Steg platziert. Da jeder Steg zwei Fluchtwege bieten muss, wurden die Stegenden verbreitert und in der Mitte mit einer hüfthohen Trennwand aus Glas unterteilt, hinter der die Bewohner im Brandfall kriechend flüchten sollen. Unter den Stegen befinden sich kleine Propeller, die das Wasser in Bewegung halten und verhindern sollen, dass der See umkippt. Damit die Häuser nicht irgendwann auf Schlick aufsetzen, wird außerdem alle 10 Jahre der Grund ausgebaggert, wofür die Bewohner ihre schwimmenden Terrassen zeitweise entfernen müssen. Es bedarf aber ohnehin einer gewissen Opferbereitschaft, wenn man auf dem Wasser wohnen will, denn alle Einkäufe müssen von der Garage zum Haus getragen werden, bei Umzügen kommt als Transportmittel nur ein Handwagen infrage, schwere Schränke sollten möglichst weit unten platziert, austariert und festgeschraubt sein, und von Hängelampen wird ganz abgeraten. Dafür bekommt man ein Eigenheim mit eigenem Bootsanleger und direktem Zugang zum IJsselmeer zum moderaten Preis von 2 300 Euro/m² (Durchschnitt Amsterdam: 3 600, IJburg: 3 200, Flevoland: 1 900 Euro). Marlies Rohmer findet ohnehin, dass das Wohnen auf dem Wasser nicht mit allen Mitteln den Gewohnheiten des Lebens an Land angeglichen werden muss: »Das ist, als wenn man sich einen Tiger ins Haus holt und ihm alle Zähne zieht.«

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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