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TEC21 2010|44
Netzstadt Glattal
TEC21 2010|44
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Stadtbahn – Dritte Etappe

Die Glattalbahn führt als Tangentiallinie zur Kernstadt Zürich durch die Städte und Gemeinden im Glattal. Seit den ersten Ideen für ein neues Verkehrssystem in der Netzstadt Glattal sind 20 Jahre vergangen, in denen geplant, projektiert und realisiert wurde. Mit der Inbetriebnahme der dritten Etappe ist die Erschliessung vorerst beendet. Die besonderen Herausforderungen beim Bau waren das dicht besiedelte Gebiet und die Forderung, den Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten.

28. Oktober 2010 - Andreas Flury, Hannes Schneebeli
Wo und wie sollte sich eine neue Stadtbahn im aufstrebenden Gürtel von Arbeits- und Wohnstätten des Mittleren Glattals ins System und in die Netze der bestehenden Grob- und Feinverteiler einreihen? Sollte sie mehr als S-Bahn, mehr als Tram oder sogar als vollkommen konfliktfreie Hochbahn ausgestaltet werden, wie es erste Ideen im Jahre 1988 propagierten? Die zuständigen Gremien entschieden sich für eine Bahn auf Stadtniveau, die auch auf dem Tramnetz der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) verkehren kann. Gegenüber einer Hochbahn hat dies den Vorteil, dass die Passagiere ebenerdig ein- und aussteigen und die Linien umsteigefrei durchgebunden werden können.

Flexibler als eine S-Bahn, schneller als Tram und Bus

«Mittelverteiler» – der erste Name des neuen Systems brachte die Idee auf den Punkt. Es sollte sich weder um eine S-Bahn noch um ein Tram handeln. Geplant wurde vielmehr eine Stadtbahn, die den Raum rasch, sicher und zuverlässig erschliesst und an die Bahnhöfe der Region anbindet. Rasch bedeutet, dass das System mit einer Beförderungsgeschwindigkeit von 25 km/h verkehrt und damit konkurrenzfähig zu den übrigen Verkehrsträgern ist. Sicher und zuverlässig heisst, Konflikte mit den übrigen Verkehrsträgern zu vermeiden und Kreuzungen zum Beispiel mit Lichtsignalanlagen oder Schranken zu sichern. Um beides zu erreichen, ist ein hoher Anteil Eigentrassee nötig; bei der Glattalbahn liegt dieser bei 96 %. Lediglich auf 4 % der Strecke teilt sie sich den Raum mit den übrigen Verkehrsteilnehmenden. Sie erhält ihr Trassee während beschränkter Zeit priorisiert. Im Umkreis von 400 m um die Haltestellen soll das Nachfragepotenzial möglichst hoch sein. Diese Vorgabe zur Standortwahl wurde unter anderem mittels GIS-Analysen optimiert und verifiziert. Daneben gab es in der Planung viele Randbedingungen zu beachten, unter anderem die Vorgabe des Regierungsrates des Kantons Zürich auf Wahrung der Leistungsfähigkeit des Strassennetzes oder die Querung von bestehenden SBB-Gleisen und Autobahnen (vgl. Kasten Seite 25).

Auf GrossBohrpfählen über die Autobahn

Wenn immer möglich verläuft die Glattalbahn auf der Stadtebene, wo sich auch ihre Fahrgäste bewegen. In einigen Bereichen war dies aufgrund verschiedener Faktoren nicht möglich. Etwa 20 % der Neubaustrecke befinden sich deshalb auf Brücken. Der Viadukt Glattzentrum in Wallisellen ist mit 1200 m die längste Brücke im Netz der Glattalbahn. Er steht auf knapp 100 Grossbohrpfählen von 90 oder 120 cm Durchmesser und bis zu 35 m Länge. 10 000 m³ Beton wurden verbaut und 1500 t Lehrgerüstmaterialien verwendet. Ausgeführt ist die Hohlkastenbrücke in Spannbetonbauweise. Die mittleren Abstände zwischen den Stützen betragen 35 m, die maximale Spannweite liegt bei 47 m. Der Viadukt überquert die SBB-Linie Wallisellen–Winterthur/Uster und die Nationalstrasse A1 Zürich–Winterthur. Genau über der SBB-Linie und der Nationalstrasse befinden sich die Gleisabschnitte mit der grössten und nach Gesetz maximal zulässigen Querneigung von 105 mm. Die Steigungen der Rampen von 58 und 55 ‰ liegen dagegen unter dem gesetzlichen Maximum von 70 ‰. Zwischen der Überlandstrasse und der Glatt durchquert das Trassee ein Grundstück, für das zurzeit ein Gestaltungsplan erarbeitet wird. Der Eigentümer beabsichtigt, beidseits des Trassees Hochbauten zu erstellen und diese mit einer Einstellhalle unter dem Bahntrassee zu verbinden. Um gute Voraussetzungen für dieses Vorhaben zu schaffen, wurde anstelle des ursprünglich vorgesehenen Dammes die zweite lange Brücke der dritten Etappe erstellt. Mit dieser Lösung konnten gleichzeitig Probleme mit dem schlechten Baugrund an dieser Stelle gelöst werden.

Technische Sonderkonstruktionen

Bei der Projektentwicklung der Viadukte musste eine Lösung für die Kraftübertragung zwischen Gleis und Brückenbauwerk sowie für die Brückenisolierung gefunden werden. Verformungen der Brückenüberbauten und ein allfälliger negativer Einfluss auf das Gleis mussten verhindert werden. Des Weiteren stand eine gebrauchstaugliche Ausführung der Dilatationen und der Schienenauszüge zur Diskussion sowie die Schnittstellen zwischen dem Brückentragwerk und dem Gleisoberbau einschliesslich Entwässerung. Die Realisierung eines schotterlosen Gleisoberbaus, einer sogenannten festen Fahrbahn, auf langen Brücken ist für die Schweiz neu. Aus diesem Grund musste bei der Projektierung eng mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) als Bewilligungsbehörde zusammengearbeitet werden. Die Interaktionen zwischen Brücke und Gleisoberbau mussten dargestellt werden, und es waren verschiedene rechnerische Nachweise notwendig, damit das Gleisoberbauprojekt definitiv genehmigt werden konnte. Die Viadukte weisen grosse Abschnittslängen zwischen den Dilatationsfugen auf. Die Längsverschiebungen der Brücke werden durch Schienenauszüge aufgefangen. Diese sind die sichtbarsten technischen Sonderkonstruktionen als Resultat der Projektierung.

Verkehrsführung beim Arbeiten in dicht bebautem Gebiet

Der Bau der Glattalbahn fand in intensiv genutzten städtischen Räumen statt. Bereits vor Baubeginn staute sich in den Spitzenstunden der Verkehr auf dem Strassennetz. Es wurde angenommen, dass sich insbesondere während des Baus der dritten Etappe die Verkehrssituation weiter verschärfen würde. Die Verkehrsbetriebe Glattal AG (VBG) hat deshalb Spezialisten beauftragt, ein Verkehrsführungskonzept für die Bauzeit auszuarbeiten. Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der betroffenen Städte und Gemeinden sowie den Spezialisten erarbeitete periodisch Lösungsvorschläge, um die Verkehrsführung während der lokalen Bauphasen optimal zu gestalten, Voraussetzungen für einen möglichst störungsfreien Busbetrieb zu schaffen und den Ausweichverkehr in sensible Quartiere zu unterbinden. Hauptbestandteil des übergeordneten Verkehrsführungskonzeptes war ein Informationskonzept. Via Internet, News-Mails, Informationsschreiben und Medienanlässe wurden Anrainer und Verkehrsteilnehmende über bevorstehende Bauphasen oder aktuelle Behinderungen informiert und erhielten Tipps zum Verkehrsverhalten.

Bei Fragen, Kritik oder Anregungen konnten die Betroffenen über ein Formular auf der Internetseite sowie über ein Infotelefon rund um die Uhr mit der VBG Kontakt aufnehmen. Ergänzend zu den lokalen Massnahmen empfahlen die Verkehrsspezialisten, das Baugebiet grossräumig zu umfahren und bevorzugt die Autobahnen zu benutzen. Zur Unterstützung dieser Empfehlung wurden die ursprünglich vorgesehenen Baustellen auf den Zufahrtsachsen zu den Autobahnanschlüssen zurückgestellt.

Die Stadt unter der Stadt sanieren

Die Bevölkerung ist gewohnt, dass der Verkehr trotz Bau oder Unterhalt von Strassen fliesst. Genauso selbstverständlich sind praktisch ununterbrochen funktionsfähige Werkleitungen. Es ist undenkbar, dass ein Quartier oder ein Haus auch nur für Tage vom Wassernetz getrennt, eine Erdgashochdruckleitung zu einem Heizwerk in der kalten Jahreszeit oder eine Fernsehstandleitung während eines Grossanlasses unterbrochen werden. Im Perimeter der Glattalbahn befindet sich die normale Bandbreite von Ver- und Entsorgungsleitungen wie Abwasser, Wasser-, Strom- und Erdgasversorgung, Telecom und diverse Steuerkabel. Im Gegensatz zum Strassenbau ist es bei Werkleitungen kaum möglich, Trassees temporär zu verschieben oder Querschnitte zu verengen. Der Platz der bestehenden, noch in Betrieb stehenden Werkleitungen steht nicht zur Verfügung. Daraus resultiert die Herausforderung, zwischen den «wild» verlegten, bestehenden Werkleitungen genügend Platz für die neuen Trassees zu finden.

In einem durchschnittlichen Tiefbauobjekt der Glattalbahn betrug der Kostenanteil der Werkleitungen bis zu 25 % der Gesamtobjektsumme.1 Die Realisierung der Werkleitungen ist mit viel Handarbeit verbunden; der Einsatz von Baumaschinen ist selten möglich. Dieser Umstand erklärt die oft gehörte Meinung, dass nach Baubeginn auf der Stadtebene kaum mehr etwas passiert. Die Herausforderung, genügend Platz für die neuen Trassees zu finden, ist noch nicht bewältigt, wenn im Untergrund physisch Platz für die Leitungen gefunden ist. Es gilt zu prüfen, ob Projekte an der Oberfläche die getroffene Wahl zulassen. Beispielsweise ist es nicht zulässig, über eine Erdgashochdruckleitung Bäume zu pflanzen. Auch der Bau von Fundamenten für Signalisationen ist nicht zulässig, wenn sie in den Nahbereich einer Erdgashochdruckleitung zu liegen kämen. Wenig sinnvoll ist es, Leitungen längs und unterhalb des Bahntrassees zu platzieren: Die Zugänglichkeit für die erforderlichen Unterhaltsarbeiten wäre durch den Bahnbetrieb extrem beeinträchtigt.

Bewohner und Umwelt respektieren

Es ist offensichtlich, dass nicht nur der künftige Betrieb der Glattalbahn Konsequenzen für die Umwelt haben wird, sondern schon die Bauzeit Auswirkungen auf Umwelt und BewohnerInnen der Region mit sich brachte. Bereits in der Bauphase mussten die umweltrechtlichen Vorgaben eingehalten werden. Aus diesem Grund verfügte das BAV als Genehmigungsbehörde Umweltauflagen. Diese betreffen zum Beispiel Massnahmen zur Begrenzung der Luftbelastung, zur Schonung von Gewässern und Boden, zum Schutz von Biotopen und zur Beseitigung von Altlasten. Als System leistet die Glattalbahn einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Umweltqualität. Für Fahrten, die bisher mit dem Auto durchgeführt wurden, bietet die neue Glattalbahn- Linie eine attraktive Alternative. Bestehende Buslinien werden durch die Stadtbahn abgelöst.

Sie verkehrt mit «naturemade basic»-zertifizierter Energie (sofern vom energieversorgenden Werk angeboten). Das heisst, der Bezug besteht aus mehrheitlich blauem Strom aus zertifizierten Wasserkraftanlagen und einem Anteil Ökostrom von rund 5 %. Das Einzugsgebiet der Glattalbahn stellt hohe Anforderungen bezüglich Erschütterungsund Körperschallschutz. Zahlreiche Unternehmungen aus der Hightech- und der Dienstleistungsbranche haben sich neben dem Trassee angesiedelt.

Wo nötig, wurden daher sogenannte «Masse-Feder-Systeme» eingebaut. Die mindestens 22 cm dicken, armierten Gleistragplatten sind mit Elastomer- oder bei geringeren Anforderungen mit Mineralwollmatten unterlegt. Dieses System reduziert die Erschütterungen und den Körperschall markant. Die Wirkungsweise beruht auf einfachen physikalischen Prinzipien: Je grösser die abgefederte Masse und je weicher die Federn, desto grösser ist die Wirkung.

Das Standardgleis der Glattalbahn ist mit einem Schotterrasen verfüllt, der rund 3 Dezibel Lärm schluckt. Garant für die Minimierung der Lärmausbreitung ist jedoch in erster Linie das Rollmaterial. Auf der Linie 12 wird der Fahrzeugtyp «Cobra» eingesetzt. Dank den Einzelradaufhängungen quietscht dieser in den Kurven nicht.

Umgang mit der Dynamik im Umfeld

Nirgends hat sich das Umfeld um das Glattalbahntrassee derart stark verändert wie entlang der dritten Etappe. Vor allem zwischen dem Bahnhof Wallisellen und Giessen in Dübendorf ist das Trassee in Gestaltungspläne eingebunden, die erst nach Abschluss des Bauprojekts der Glattalbahn im Jahr 2001 erstellt wurden. Um der Gefahr zu begegnen, ein veraltetes Projekt in ein dynamisches Umfeld zu bauen, wurde die Linienführung der dritten Etappe nach der Freigabe zur Realisierung im Jahr 2007 auf den Prüfstand gehoben. Insgesamt 22 Projektänderungen wurden unter Einbezug der Standortgemeinden und der Anrainer prozesshaft entwickelt. Elf davon mussten dem BAV zur Plangenehmigung eingereicht werden. Da sowohl der Kostenrahmen als auch der Ablaufplan für die dritte Etappe vorgegeben waren, mussten die Lösungen immer mit Blick auf Kosten und Termine entwickelt werden.

Vielen Unkenrufen zum Trotz kann das Projekt Glattalbahn Ende 2010 seinen Abschluss feiern. Es zeigt sich, dass der Bau und Betrieb einer Stadtbahn in sehr dicht bebautem Umfeld möglich ist. Die Projektziele Leistung (Quantität und Qualität), Kosten und Termine sind im ganzen Glattalbahnprojekt mit grosser Wahrscheinlichkeit im vereinbarten Rahmen erreicht; in den ersten zwei Etappen ist diese Aussage gesichert, in der dritten entspricht sie der aktuellen Prognose.

[ Andreas Flury, Dr. sc. techn., dipl. Kultur-Ing. ETH/SIA; Direktor VBG und Gesamtprojektleiter Glattalbahn
Hannes Schneebeli, dipl. Geomatik-Ing. ETH/SVI, Exec. MBA; Leiter Infrastruktur VBG und stv. Gesamtprojektleiter Glattalbahn ]
Anmerkung:
[1] Das Bundesgericht entschied mit Urteil vom 27. April 2005 (BGE 131 II 420 ff.), dass die Anpassungen von Werkleitungen, die durch den Bau der Glattalbahn verursacht werden, von der VBG zu tragen sind. Vorbehalten bleibt die Abgeltung der Vorteile, die den Leitungseigentümern aus den Neuanlagen entstehen (Mehrwertabgeltung)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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