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TEC21 2010|44
Netzstadt Glattal
TEC21 2010|44
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Verkehrslandschaft

Der Aufbau der nationalen Verkehrsinfrastruktur hat den Raum Zürich Nord erschlossen und seine Entwicklung geprägt. Mit der Glattalbahn, die zum ersten Mal interne Verbindungen schafft, könnte eine eigene, die politischen Grenzen überwindende Identität entstehen.

28. Oktober 2010 - Andreas Hofer
Die vom ehemaligen ETH-Dozenten Martin Geiger1 entwickelte Standort-, Nutzungs- und Landwerttheorie (SNL-Theorie) kennt nur zwei Faktoren für die Güte eines Standorts: sein «Beziehungspotenzial» und den «umweltbedingten Eigenwert». Einfacher formuliert: «Wie nahe bin ich an möglichst vielen anderen Orten?» und «Habe ich Seesicht?». Diese beiden Faktoren bestimmen die Standortentscheide von Betrieben ebenso wie die Nachfrage nach Wohnraum, wobei die Wohnungssuchenden die weichen Faktoren bei der Standortwahl höher gewichten. Da ein gutes Beziehungspotenzial lärmige und zerschneidende Verkehrsinfrastruktur braucht, gibt es einen latenten Widerspruch zwischen guter Erreichbarkeit und hoher Wohnqualität.

Verkehr und wirtschaftliche Kräfte prägen den Raum

Mit der SNL-Theorie kann die räumliche Entwicklung seit der Industrialisierung erklärt werden – so etwa die Bildung von Westends in den meisten europäischen Metropolen (nah an den Schalthebeln der Macht, aber durch die vorherrschenden Westwindlagen vom Rauch aus den Schloten der Fabriken abgewandt), durchgrünte Vororte um die Endstationen des städtischen öffentlichen Verkehrs und schlussendlich Nebenzentren um S-Bahn-Stationen, Autobahnkreuze und Schnellzughalte. Die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz und die räumliche Nähe verleitete die Landesplanung, über Jahrzehnte vom föderalismuskompatiblen Konzept der Schweiz als Netzwerk von intakten kleinen Städten in einer agrar geprägten Landschaft zu träumen: das Mittelland statistisch und wirtschaftlich eine international konkurrenzfähige Grossstadt – aber in der Erscheinung ländlich, provinziell.

Die wirtschaftlichen Kräfte führen aber nicht zu einer demokratisch austarierten Homogenität, sondern sie differenzieren Räume, lassen Knoten wachsen, reissen Peripherie in den Wachstumsmahlstrom oder hängen sie von der Entwicklung ab. Die Nähe und die Erreichbarkeit von vielen Standorten im schweizerischen Mittelland spannen jeden Ort in ein Beziehungsgefüge mit mehreren Nachbarn. So schuf der Nationalstrassenbau im Dreieck Basel, Bern und Zürich, um das Autobahnkreuz Härkingen, einen Knoten mässiger, aber kumulierter Attraktivität mit einer eigenartigen Mischung aus Distributionszentren, Grossmärkten, Sexclubs und Tankstellen. Solche Orte gibt es mittlerweile entlang der Ausfallachsen aller grösseren Städte in der Schweiz und bei wichtigen Verkehrskreuzungen. Zusammen mit den in einigem Abstand wuchernden Wohnsiedlungen sind sie das Mittelland, die Agglomeration. Der Norden von Zürich war in seiner Geschichte mehrmals umkämpfter Ort für Verkehrsinfrastrukturen, bezüglich ihrer Linienführung und Lage. Dabei standen bis zum Bau der Glattalbahn nie Entwicklungsziele für den Raum selber im Vordergrund, sondern Zürich Nord war der Schauplatz von übergeordneten technischen, politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen. In ihrer Summe und Zufälligkeit gestalteten sie das heute dynamischste Wachstumsgebiet der Schweiz, oder – leicht vorgreifend – in den Worten Martin Geigers: Der Knoten mit dem höchsten Beziehungspotenzial der Schweiz war damit von Zürich weg in ein «Niemandsland» verschoben, aus dem sogleich eine neue Stadt zu wachsen begann

Der Kampf um die nationale Verkehrsinfrastruktur

Mitte des 19. Jahrhunderts tobte zwischen verschiedenen privaten Gesellschaften der Kampf um die Erschliessung der Schweiz mit der Eisenbahn. Die Konkurrenz um Strecken, Linienführungen und die möglichst schnelle Anbindung von Gütern und potenziellen Passagieren verhalfen der Schweiz zu einem der weltweit dichtesten Netze, dessen Elemente aber in wichtigen Punkten nicht aufeinander abgestimmt waren und das ökonomisch verhängnisvolle Parallellinien aufwies. Schauplatz einer dieser Kämpfe war Oerlikon. Nachdem 1856 eine von Zürcher Freisinnigen finanzierte Verbindung zwischen Zürich, Winterthur und Romanshorn über Oerlikon in Betrieb genommen war (Nordostbahn NOB), versuchten Winterthurer Industrielle durch das Furttal eine Konkurrenzlinie vom Boden- an den Genfersee zu bauen (Nationalbahn S.N.B).

Erbitterte wirtschaftliche Machtpolitik verhinderte den Anschluss von Zürich an diese Strecke und trieb die Nationalbahn nach wenigen Jahren in den Konkurs. Es blieb der Eisenbahnknoten in Oerlikon, der die damals wichtigsten Industriestädte Zürich, Winterthur und Baden verband. Industriebetriebe nutzten die strategische Lage; Oerlikon, das erst mit der zweiten Eingemeindung 1934 zu Zürich kam, wuchs vom Bauerndorf zum Fabrikstandort.2 Der nächste und wohl folgenschwerste Infrastrukturentscheid war die Standortwahl für den internationalen Zivilflughafen während des Zweiten Weltkriegs. Der Bund plante diesen «Schweizerischen Zentralflughafen» in Utzensdorf zwischen Bern und Solothurn. In den Zeiten der Anbauschlacht wog jedoch das Argument der lokalen Bevölkerung, dass für den Bau gewaltige Mengen wertvolles Ackerland geopfert werden müssten, schwerer. 1945 fiel der Standortentscheid für den Waffenplatz Kloten. Dieser lag in einem landwirtschaftlich ungenutzten Ried und gehörte praktischerweise bereits dem Bund.

Der letzte planerisch-politische Prozess, der das Schicksal von Zürich Nord prägte, war die Nationalstrassenplanung. Nachdem sich in den 1960er-Jahren in der Stadt Zürich massiver Widerstand gegen die Verknüpfung der Ost-West-Achse mit der Abzweigung in den Süden im Gebiet des Hauptbahnhofes von Zürich (das sogenannte Ypsilon) formiert hatte, wichen die Planer gegen aussen aus und trieben die Realisierung eines Autobahnrings voran. Der erste Sektor dieses Rings ist die 1985 fertiggestellte Nordumfahrung mit dem Gubristtunnel, der zweite die kürzlich eröffnete Westumfahrung (vgl. TEC21 17/2009). Während 25 Jahren erschloss also die Ringautobahn nicht Zürich, sondern die nördliche Peripherie. Zürich Nord liegt zwischen City und Flughafen, ist mit der wichtigsten Autobahnachse der Schweiz erschlossen und mit dem Bahnhof Oerlikon an den Fern- und S-Bahn-Verkehr angebunden. Bezüglich Beziehungspotenzial gibt es keinen besseren Standort in der Schweiz. Wie sieht es mit dem zweiten Faktor, dem umweltbedingten Eigenwert, aus?

Fehlende Identität

Zwischen den Katzenseen und dem Greifensee, der Glatt und Riedlandschaften und um den Hardwald als «Central Park» der Region liegen acht Gemeinden und zwei städtische Kreise, die sich von Bauerndörfern zu Subzentren entwickelt haben. Eingestreut sind Einkaufszentren, Fachmärkte für jedes Bedürfnis, Multiplexkino, Messezentrum, Sport- und Freizeitanlagen, Parks und Grünräume, Arbeitsplätze in allen Branchen, ETH-Institute und Hochschulen. Die städtischen Wohnquartiere sind durchgrünt und bestens ans Zentrum angeschlossen. Die Gemeinden liegen steuerlich im kantonalen Mittelfeld und wachsen stark, viele von ihnen haben gute Wohnlagen, zu Zeiten der Swissair Pilotenhänge genannt. Der Fluglärm ist ein grosses Thema, das aber die Entwicklung zu einem attraktiven Wohnort nicht bremsen konnte.

Die Anzahl der Arbeitsplätze entspricht ungefähr der Anzahl Menschen, die im Gebiet wohnen – das gleiche Verhältnis wie in der Kernstadt Zürich. Zürich Nord ist also nicht eine Schlafstadt, sondern ein Wirtschaftszentrum mit grossen Zupendlerströmen.3 Was dem Raum im Gegensatz zur Kernstadt fehlt, ist eine eigene Identität. Weder in Schwamendingen noch in einer der Glattal-Gemeinden würde sich ein Bewohner als «Glattaler» bezeichnen. Die Gründung des Standortmarketing-Labels «Glow. das Glattal» im Jahr 2001 konnte an diesem Umstand wenig ändern. Das Netzwerk blieb zu unverbindlich, und die einzelnen Gemeinden sind nicht bereit, zugunsten eines grösseren Ganzen ihre Eigenständigkeit einzuschränken. Näher an der Realität liegt das ebenfalls 2001 erschienene Buch «Annähernd perfekte Peripherie»4, das an der ETH erarbeitet und von Mario Campi, Franz Bucher und Mirko Zardini verfasst wurde. Die Autoren nähern sich dem Gebiet auf vielschichtige Weise, sie zeigen die Brüche, die widersprüchlichen Strukturen und die Inseln im Raum. Sie reden von einer neuen, autonomen urbanen Wirklichkeit: der Glattalstadt. Durch die Verdichtung und Beschleunigung eines weitgehend ungesteuerten Urbanisierungsprozesses wachsen die Gemeinden an der Peripherie zu einem Raum zusammen.

Agglomeration 2.0

Dieser Raum wird nun zum Pionierprojekt für die Zukunft der Agglomeration, einer Wirklichkeit, welche die Schweiz bei anhaltendem wirtschaftlichem Wachstum immer stärker prägen wird und die sich mit unabsehbaren Folgen zwischen die festgefügten Wahrnehmungsbilder von Stadt und Land zu schieben beginnt. Zaghaft nehmen Hochschulen, die Kunst und politische Instanzen in den letzten Jahren diesen Ball auf. Agglomeration ist zwar noch nicht trendy, aber immerhin Gegenstand von Fotoarbeiten von Fischli/Weiss, von Nationalfondsprojekten und Entwurfssemestern an Hochschulen. In Neu-Oerlikon ist zurzeit ein Gewerbegebäude mit dem verspielten Namen «Noerd» im Bau, das neben der Produktion der Freitag-Taschen auch Platz für kreatives Gewerbe bieten wird, und die Szenegastronomen der Gasometer AG betreiben seit diesem Jahr als erstes Lokal ausserhalb der Trendquartiere in Zürich West die Ziegelhütte in Schwamendingen. Dies sind starke erste Zeichen. Die Eröffnung der Glattalbahn könnte als Veredelung der Agglomeration zur traditionellen Stadt gesehen werden. Wo ein Tram fährt, ist nicht Dorf, sondern Quartier. Doch dies wird ein widersprüchlicher und langfristiger Prozess sein. Der neue Verkehrsträger überlagert bestehende Strukturen, schafft mit seinen Stationen häppchenweise Zentralität im Niemandsland und fördert den Trend zu Grossprojekten mit einer postmodernen, synthetischen Identität. Der Glattpark, der seinen umweltbedingten Eigenwert mit einem See steigerte, war hier nur der Anfang. Das Richti-Areal, Mittim und Integra Square in Wallisellen, der InsiderPark und die Bebauung Giessen in Dübendorf behaupten alle, neue Zentren zu sein. Es besteht die Gefahr, dass diese professionell vermarkteten Grossinvestitionen zu taubstummen, ein bisschen zu dicht geratenen Wohnsiedlungen werden, die beziehungslos im Raum stehen. Und es besteht einmal mehr die Hoffnung, dass ein nur mässig durch politische Instanzen regulierter Prozess uns mit etwas Neuem überraschen wird, dass die schiere Menge des Wachstums schliesslich doch so etwas wie Identität produziert: wohl nicht Stadt, aber vielleicht Agglomeration 2.0.

5Die Baugenossenschaft Kraftwerk 1 auf dem Zwicky-Areal

Die Totalunternehmung Senn BPM hat sich ein Teilgebiet des Zwicky-Areales in Dübendorf für die Entwicklung gesichert. Anfang 2009 lud sie über Wüest & Partner die Genossenschaft Kraftwerk1 (vgl. TEC21 42/2001) ein, sich als potenzielle Investorin am Prozess zu beteiligen. Die drei Partner erarbeiteten in der Folge die planerischen Grundlagen (das Baufeld ist Teil eines Gestaltungsplans) und führten einen Studienauftrag mit fünf eingeladenen Architekturbüros durch. Das Areal ist schwierig, lärmig und gross. Das Zürcher Büro Schneider Studer Primas gewann die Konkurrenz. Zurzeit läuft das Bewilligungsverfahren für den abgeänderten Gestaltungsplan. Der Baubeginn ist im Jahre 2012, der Bezug für das Jahr 2014 geplant.

Das circa 25 000 m² grosse Teilgebiet bietet Platz für 250 Wohnungen, Gewerbe- und Verkaufsräume. Unter Einbezug der angrenzenden – in Wohnungen und Gewerberäume umgenutzten – alten Fabrik und der benachbarten Baugebiete entsteht in den nächsten Jahren ein neues Quartier an der Grenze von Wallisellen und Dübendorf, durch dessen Mitte auf der Neugutstrasse die Glattalbahn fährt. KraftWerk1 beabsichtigt, etwa die Hälfte des Teilgebiets zu übernehmen. Weitere Flächen sollen an institutionelle Anleger und als Eigentumswohnungen verkauft werden.

Das Projekt von Schneider Studer Primas überrascht mit einer radikalen Haltung. An einem Standort, der sich auch vorstädtisch interpretieren liesse, schlagen die Architekten eine hochurbane Struktur vor, die sich an Bildern von Industriearealen orientiert. Ein Ring aus dünnen, geknickten Scheiben schirmt das Areal vom Lärm ab. Hier sind in einer flexiblen Struktur kleinere Wohnungen möglich, bei denen alle Zimmer lärmabgewandt gelüftet werden können. In den Sockeln der Scheiben gibt es zweigeschossige Hallen für Gewerbe, Wohnateliers und Grosswohnungen. Schliesslich besetzen grosse, allseitig orientierte Wohn- und Gewerbeblocks das Arealinnere.

Das Areal und das Architekturprojekt haben das Potenzial für vielschichtige Interpretationen der Arbeitenden und Wohnenden. Günstige Mieten und möglichst rohe Räume sollen einen Cluster aus Gewerbe-, Wohn- und Kulturprojekten ergeben – eine Art neu gebauter Freiraum, wie er im Raum Zürich durch die Verwertung der letzten Brachen rar geworden ist.
Anmerkungen
[1] Die Standort-, Nutzungs- und Landwerttheorie wurde in den 1970er-Jahren vom Architekten Martin Geiger an der ETH Zürich entwickelt und später gelehrt. Zur SNL-Theorie vgl. TEC21 10/2007 und www.snl-geiger.ch
[2] H.-P. Bärtschi: Industrialisierung, Eisenbahnschlachten und Städtebau. Birkhäuser, Basel 1983
[3] Die Definition des geografischen Raumes Zürich Nord und der Glattalregion ist uneinheitlich. Der regionale Zusammenschluss «glow. das Glattal» umfasst acht Gemeinden mit circa 100 000 Arbeits- und circa 100 000 Wohnplätzen (www.glow.ch). In den städtischen Kreisen 11 und 12 wohnen weitere 100 000 Menschen und befinden sich 40 000 Arbeitsplätze (Statistik Stadt Zürich: Bevölkerung [2. Quartal 2010])
[4] M. Campi, F. Bucher, M. Zardini: Annähernd perfekte Peripherie. Glattalstadt/Greater Zurich Area. Birkhäuser, Basel/Bosten/Berlin 2001
[5] Für das Internet bezeichnen die Begriffe Web 2.0 und «Social Media» die Verlagerung der Inhaltsproduktion von den Medienkonzernen zu den Mediennutzern. Eine ursprünglich aus dem militärischen und dem elitären Forschungskontext entwickelte Technologie wird von den Nutzenden übernommen und mit deren Inhalten gefüllt. Die Unterscheidung in Produzent und Konsument verwischt sich. Für städtische Räume könnte dieser Prozess die demokratische Aneignung und gestalterische Überformung der gebauten Strukturen durch die Nutzenden im Raum sein

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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