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TEC21 2010|45
Stadthaus Zürich
TEC21 2010|45
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Provisorien leben länger

Das Zürcher Stadthaus entstand im Zuge der Transformation des linken Limmatufers im 19. Jahrhundert, als grosse Teile der mittelalterlichen Stadt repräsentativen Verwaltungs- und Geschäftshäusern weichen mussten. Stadtbaumeister Arnold Geiser errichtete das erste Stadthaus im Stil der Neorenaissance, wenige Jahre später integrierte es sein Nachfolger Gustav Gull in einen neugotischen Erweiterungsbau. Beide Etappen enthalten Spolien aus abgebrochenen Bauten. Die aktuelle Sanierung hat die vielfältigen architektonischen Qualitäten des denkmalgeschützten Gebäudes wiederbelebt und mit neuen Nutzungsanforderungen in Einklang gebracht.

5. November 2010 - Theresia Gürtler Berger
1898 erschien es mehr als konsequent, das Zürcher Fraumünsterkloster bis auf die Kirche niederzulegen, um Platz für ein grösseres Stadthaus zu schaffen: 1524 hatte Katharina von Zimmern, die letzte Äbtissin des Fraumünsterklosters, alle «Freiheiten und Rechte» des «königlichen Eigenklosters Ludwig des Deutschen von 853»1 an die Stadt Zürich übergeben. Sie beendete damit die jahrhundertelange Vorrangstellung des «hofeigenen» adligen Damenstifts gegenüber der Stadt. Schon Jahre vor der Reformation war die Stadt politisch und wirtschaftlich so stark, dass sie Teile des Klosters unter anderem als städtischen Werkhof umgenutzt hatte. Doch bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert blieb die Stadtverwaltung in den Konventsbauten des «Fraumünsteramtes» einquartiert. Erst mit der Industrialisierung und dem Anwachsen der Stadtbevölkerung in der Gründerzeit und spätestens mit der Eingemeindung 1893 kam es zur Überformung des Fraumünsterklosters wie in der übrigen Altstadt.

Schon 1859 hatte Stadtingenieur Arnold Bürkli bei der Planung der neuen Seequaianlagen eine grossmassstäbliche Blockrandbebauung für das kleinräumige Kratzquartier samt Fraumünsterkloster vorgesehen. Das Gebiet um das Kloster war mit seiner Nähe zur gerade umgesiedelten Post inmitten zukünftiger Geschäftshäuser für öffentliche Bauten prädestiniert. Folgerichtig sahen zeitgenössische Wettbewerbsbeiträge, wie derjenige von Gottfried Semper, hier ein Stadthaus vor. Erst im September 1881 fiel indes der Entscheid, Bürklis Quaianlagen auszuführen. Vier Jahre später war das Bauhaus samt Steinhütte, das seit 1803 als Stadthaus gedient hatte, abgebrochen. Doch statt ein monumentales Stadthaus als Mittelpunkt des neuen Quartiers zwischen Schanzengraben, Limmat und der Seequaianlage zu bauen, reduzierte man das Raumprogramm aus Kostengründen auf den blossen Ersatz der verloren gegangenen Verwaltungsräume.

Arnold Geisers erstes Stadthaus

Vorgängig musste Stadtbaumeister Arnold Geiser (1844–1909) das Potenzial für Umbau und Vergrösserung der bestehenden Gebäude des Fraumünsterklosters abklären. Erst dann entschloss sich der Stadtrat, das Eckgrundstück zwischen Fraumünsterstrasse und Kappelergasse im Südwesten des Klosterareals für den «ersten Neubau eines Verwaltungsgebäudes» der Stadt Zürich frei zu räumen (Abb. 1). Nach wie vor galt Geisers Stadthaus als Provisorium, das «auch zu Privatzwecken seine Nutzung finden konnte», falls der gewünschte Monumentalbau doch realisiert würde; andererseits sollte es «ausgedehnt werden» können. 1885 war das Stadthaus, ein Neorenaissancebau in der Formensprache der italienischen Stadtrepubliken, bezugsbereit (Abb. 3).2 Aus dem abgebrochenen Schirmvogteihaus, dem Sitz der Vormundschaftsbehörde an der Adresse In Gassen 14, liess Geiser die spätgotische Fenstersäule und die Wappendecke als Spolien in das Sitzungszimmer des 1. OG einbauen. Er nahm damit die «schöpferische Denkmalpflege» von Gustav Gull (1858–1942), die Übernahme regionaler Bautraditionen, vorweg.

Geiser leitete den Abbruch grosser Teile der mittelalterlichen Stadt auf der linken Limmatseite ein. Er setzte die Neuschöpfung des Zürcher Stadtzentrums im Sinne Bürklis und des 19. Jahrhunderts fort. Die innerstädtische Umformung gipfelte in romantischen Heimatstilvisionen des «planenden» Stadtbaumeisters Gustav Gull zu einem grossräumigen Zürcher Verwaltungskomplex. Doch Gulls Plan- und Bautätigkeit Limmat-abwärts auf dem Oetenbachgelände, dem Gelände des ehemaligen Dominikanerinnenklosters, endete abrupt mit dem Ersten Weltkrieg. Der Komplex blieb Stückwerk und Gulls repräsentatives Stadthaus Fiktion.

Gustav Gulls Erweiterungsbau

Spätestens 1893, mit der ersten Eingemeindung, war das Geiser-Stadthaus für die Verwaltungsaufgaben der wachsenden Grossstadt bereits zu klein. Ab 1895 projektierte Gull ein zweites, nun dreimal so grosses Stadthaus: erneut auf dem Fraumünsterareal, wieder ein Provisorium, nun die Erweiterung des ersten Stadthauses.

1900 waren dafür alle Klostergebäude bis auf die Kirche abgebrochen (Abb. 2). Neben Johann Rudolf Rahn, einem der Begründer der Schweizer Denkmalpflege, dokumentierte unter anderen auch Gull die abgetragenen Konventsbauten. Selbstbewusst setzte er sein Stadthaus vor die Flucht der Fraumünsterkirche an den Stadthausquai. Ein hanseatisch norddeutscher Treppengiebel stand für den Zürcher Bürgerstolz. In fünfjähriger Bauzeit verleibte sich das zweite Stadthaus ungeniert den jungen, architektonisch gerade aus der Mode geratenen Vorläufer ein.

Geisers Neorenaissancebau war in den Raumstrukturen, den Proportionen und in der Materialität bis hin zur Polychromie der Farben von Geisers Lehrer Gottfried Semper geprägt; Gull jedoch ordnete ihn seinem eigenen Farb- und Formenkonzept unter. Die Dekorationsbemalung verschwand unter beigen Anstrichen, die Türen wurden hölzern. Der Eingang von der Kappelergasse her wurde mit einem Fenster zugesetzt, die Eingangstreppe unter einer hölzernen Bodenkonstruktion verborgen, und die Wandpilaster wurden abgeschlagen. Den für Zürich einzigartigen, mit Säulen und Wandvorlagen gegliederten Lichthof dagegen erhielt er.

Die Spuren der Zeit – und der Umgang damit

Im Laufe der Jahrzehnte geriet Geisers repräsentativer Neorenaissancebau in Vergessenheit. Nachdem 1968 der Lichthof für Archivräume zugebaut worden war, verschwand mit dem Licht auch die architektonische Qualität des Hauses endgültig. Auch Gulls Erweiterungsbau wurde im Laufe der Jahrzehnte durch Um- und Neunutzungen, Unterhaltsmassnahmen sowie technische und räumliche Anpassungen verunklärt und im Erscheinungsbild banalisiert. Die aktuelle Instandsetzung sah Raumoptimierung und haustechnische Erneuerungen vor – nur scheinbar harmlose Eingriffe, denn mittlerweile waren die Häuser am Rande ihrer Nutzungskapazität angelangt. Nach der Instandstellung der Fassaden versuchte man, die räumlichen und architektonischen Qualitäten im Inneren wieder sichtbar zu machen. Das Zürcher Büro Pfister Schiess Tropeano Architekten musste zudem bei fortlaufendem Betrieb über Etappierungen einen «flächeneffizienten, optimal genutzten Verwaltungsbau» schaffen – eine grosse logistische Herausforderung. Gestiegene Anforderungen an Sicherheit, Brandschutz, Infrastruktur und Energiebedarf sowie an die Repräsentation galt es mit dem begrenzten Potenzial der historischen Häuser in Einklang zu bringen. Dies alles musste denkmalpflegerisch angemessen und mit einer eigenständigen, einheitlichen architektonischen Handschrift erfolgen. Das architektonische und das denkmalpflegerische Konzept waren daher eng miteinander verknüpft.

Mit der ersten Bauetappe kehrten Licht, Farbe und Architekturformen ins Geisers Stadthaus zurück. Der Lichthof konnte bis zur gläsernen Staubdecke unterhalb des Dachgeschosses wieder geöffnet werden (Abb. 15 sowie Abb. 17 und 18, S. 40). Mit der Öffnung der Eingangshalle auf der Seite Kappelergasse gewann das Treppenhaus seinen räumlichen Auftakt wieder. Der originale erste Stadthauseingang von der Kappelergasse her kommt feuerpolizeilichen Anforderungen entgegen und dient, behindertengerecht ausgebaut, der Entlastung des Eingangs am Stadthausquai. Zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Geschichte setzt sich Geisers Stadthaus vom Erweiterungsbau Gulls gestalterisch ab: Es sind zwei Stadthäuser in einem.

Alte Qualitäten wieder sichtbar gemacht

Die originale Ausstattung in Gulls Stadthaus wurde direkt am Bau und über zeitgenössische Literatur «befundet». Gull arbeitete mit nur wenigen Elementen: Pigmentierte Lasuren, Beizen und Lacke betonten die Hölzer der Lamberien, Türen und Bänke, beige Leimfarbe an Wänden und Decken steigerte die Holzfarben, hob das warme Rot der Tonplatten und das Graugrün der Sandsteine hervor. Die Sterne im Gewölbe der offenen Eingangshalle fehlen noch, aber im Eingangsoktogon ist die spätgotisch inspirierte Rankenbemalung im Gewölbe freigelegt. In der Halle sind die bemalten Brüstungsfelder der Zünfte und die beiden Stadtansichten an den Stirnwänden unter der Glastonne gereinigt und wo erforderlich retuschiert worden (inneres Titelbild S. 27 und Abb. 13). Spielerisch übernimmt die Malerei von 1900 in den Brüstungsfeldern der Umgänge Farben und Formen des spätgotischen Klosters; Ranken, Blüten und Tiere illustrieren jedoch nicht das ausgefeilte theologische Programm der Stiftsdamen, sondern die Zürcher Zünfte. Ein mittelalterliches Christusemblem, der Knabe im Blütenkelch, ist weltlich konnotiert.

Ein Besuch im Basler Bauamt zeigte Leistungsfähigkeit und Reparaturmöglichkeiten der in Vergessenheit geratenen Falconnier-Gläser3 der Glastonne über der Halle (vgl. «Historisches Tonnendach aus Glasbausteinen», S. 42 ff). Die wuchtigen Leuchter der 1970er-Jahre sind aus der Tonne verschwunden. Neben den originalen floralen Wandleuchtern belichten runde Wandleuchten die Halle über den umlaufenden Galerien. Verborgen über der Glastonne und noch unter dem jetzt verschattbaren gläsernen Satteldach erbringen Strahler die nötige Grundbeleuchtung der Halle.

Anpassungen an neue Anforderungen

Das Stadthaus zählt zu den meistfrequentierten Amtshäusern der Stadt. Dem trägt ein Stadtbüro als erste, offen gestaltete Anlaufstelle in der Schalterhalle Rechnung. Für die Denkmalpflege war dies ein schwerer Eingriff: Die bisher umlaufende geschlossene Schalterfront ist über fünf Bögen für das Stadtbüro neu gestaltet beziehungsweise geöffnet (Abb. 1, S. 35). Der Stadtratssaal, der einige Jahre zuvor durch Arthur Rüegg und Silvio Schmed renoviert, neu möbliert und «technisiert» worden ist, war von der Sanierung ausgenommen. Neu eingefügt wurde ein Konferenz- und Medienraum. Trauzimmer und Musiksaal mussten dagegen technisch, unter anderem mit einer Lüftung, optimiert werden. In beiden Räumen fand sich ein Patchwork aus originaler Ausstattung und jüngeren Einbauten. Hier setzt das Sanierungs- und Gestaltungskonzept ein: Im Trauzimmer macht ein dunkler, rötlich pigmentierter Lack die von den spätgotischen Äbtissinnenzimmern inspirierten Flachschnitzereien der Wand- und Deckentäfer wieder lesbar. Tapeten fügen die isolierten Täferflächen wieder zu einem Raum. Die moderne Möblierung und Beleuchtung ist auf einer Teppichinsel konzentriert und besetzt die Raummitte, der Teppich nimmt die floralen Muster des originalen Linoleums auf. Der Musiksaal wiederum erneuerte zum dritten Mal sein Innenleben (vgl. Kasten S. 30–31). Das Stadtbüro im Erdgeschoss der Halle, die Cafeteria im Dach (Abb. 19, S. 41), die Weiterführung der Gull’schen Treppe ins Dachgeschoss (Abb. 9, S. 37) und die Brandschutztüren in den Korridoren sind nüchtern gestaltet; Metall bestimmt die architektonische Erscheinung. Daneben wurden viele technische Erneuerungen versteckt geführt. Komplexe Eingriffe für Sicherheit und Brandschutz integrierte man gestalterisch oder nahm sie optisch zurück: an sich die Quadratur des Kreises.

Aus denkmalpflegerischer Sicht ist es dem Team von Handwerkern, Restaurateuren, Ingenieuren und Architekten um Rita Schiess gelungen, hochkomplexe Nutzungsanforderungen mit architektonischer Feinarbeit in den historischen Bestand einzufügen. Es ist zu hoffen, dass umsichtiger Unterhalt der hohen architektonischen Qualität des «Dauer-Provisoriums Stadthaus» – nach nun 486 beziehungsweise 115 Jahren am gleichen Standort – auch in den kommenden Jahren gerecht wird.
[ Theresia Gürtler Berger, Projektleiterin, Praktische Denkmalpflege, Amt für Städtebau der Stadt Zürich ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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