Zeitschrift

TEC21 2010|46
Sturzgefahr am Lopper
TEC21 2010|46
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Am hängenden Seil

Am Loppernordhang ist eine Plattform – einem Adlerhorst gleich – auf mächtigen Stützpfeilern in die steil abfallende Felswand namens Reigeldossen gebaut. 230 m weiter unten schimmert der Vierwaldstättersee. Die Pontonbrücke, die Hergiswil und Stansstad provisorisch verbindet, liegt wie eine Perlenkette im blauen Wasser. Aber es ist kein Aussichtspunkt zum Verweilen, sondern eine Baustelleninstallation für umfangreiche Felssicherungsarbeiten zum Schutz der darunterliegenden Kantonsstrasse.

12. November 2010 - Pirmin Bossart
Der Lopper war für den lokalen Verkehr zwischen Hergiswil und Stansstad, aber auch für die spätere Autobahn-Transitachse schon immer ein Problemgebiet. So ist es an diesem südöstlichen Ausläufer des Pilatus mit seinen steil abfallenden Flanken in den letzten Jahrzehnten regelmässig zu Steinschlägen gekommen. Die Schichten aus den Gesteinsarten Schrattenkalk oben, Kieselkalk unten und der Drusberg-Formation dazwischen sind in diesem Gebiet stellenweise instabil. In der Nidwaldner Fürio-Chronik und im Nidwaldner Ereigniskataster sind seit 1915 Steinschläge und kleinere Felsstürze am Loppernordhang festgehalten.1 1937 wurde ein Velofahrer von einem Stein erschlagen. 1951 verschüttete ein Felssturz die Strasse auf einer Länge von 60 Metern; die Felsbrocken gruben sich damals fast zwei Meter in die Strasse ein. 1958 folgte ein weiterer «Steinhagel». Mit der Eröffnung der Autobahn von Hergiswil nach Stansstad 1965 und später der des Gotthardtunnels wurde die Sicherheit in diesem Abschnitt ein vordringliches Thema. Das Gelände kam unter Beobachtung. Weil wiederholt Steinschläge niedergingen, wurden einzelne Felspartien gesichert, Steinschlagnetze und Galerien gebaut. Trotz diesen ersten Massnahmen fielen 1974 Felsbrocken mit Stückgewichten von mehreren Tonnen auf die Lopperstrasse zwischen der Achereggbrücke und Hergiswil. 1981 blockierten Steine die Autobahn auf dem Lopperviadukt. 1984 wurde das A8-Teilstück Alpnachstad–Hergiswil mit dem Loppertunnel in Betrieb genommen. Einen grossen Schritt für mehr Sicherheit vor Steinschlag bedeutete 2008 die Eröffnung des Kirchenwaldtunnels, der den offen geführten Abschnitt der A2 entlang des Nordhangs des Lopperberges ersetzt. Gleichzeitig wurden auch die A2 und die A8 unterirdisch miteinander verbunden. Die beiden Röhren kosteten 500 Millionen Franken. Erst mit dieser Verlegung der Autobahn in den Berg konnte am Loppernordhang eine umfassende Überprüfung und anschliessende Felsräumung in Angriff genommen werden. Hätte man diese Arbeiten früher durchführen wollen, wäre eine Schliessung der Autobahn und der Kantonsstrasse unabdingbar gewesen. Das hätte die wichtigste Nord-Süd-Verbindung für Monate unterbrochen.

Damoklesschwert

Im Juni 2009 beauftragte das Astra Spezialfirmen, beim A2-Achereggtunnel und beim Lopperviadukt Felssicherungsarbeiten durchzuführen. Es ging darum, Holz zu schlagen, Steinblöcke zu räumen, die Netze bei den Galerien zu leeren und neue Schutznetze zu montieren. Drei Monate nach Beginn der Arbeiten, am 12. Oktober 2009, lösten sich im Bereich Buchenloch am Lopper 40 m³ Gesteinsmaterial. Ein Teil der 100 t Stein und Geröll ging auf die Kantonsstrasse zwischen Hergiswil und Stansstad nieder. Dabei wurde ein Nidwaldner Förster, der an diesem Tag eine Geländebegehung machte, vom Steinschlag erfasst und lebensgefährlich verletzt. Er hatte grosses Glück im Unglück: Zufällig waren an diesem Montag zwei Mechaniker mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Sie hörten die Hilferufe und konnten die Bergung des Verletzten organisieren. Dieses Steinschlagereignis bedeutete eine Zäsur in der Planung. Den Verantwortlichen wurde klar, dass die begonnene Säuberung des Geländes intensiviert und ausgeweitet werden musste. Probl emzone reigeld ossen Der Reigeldossen ist eine bis 150 m breite und 230 m hohe Felswand, direkt über dem Lopperviadukt, mit einer Neigung von 70 º. Bei einer ersten geologischen Überprüfung nach den Ereignissen vom Oktober 2009 wurden rund ein Dutzend absturzgefährdete Kluftkörper mit einem Volumen von 300 bis 600 m³ entdeckt. Wie hoch das Risiko von Stein- und Blockschlag tatsächlich ist und wie locker das Material in der Wand «klebt», wurde erst nach dem Beginn der Arbeiten am Fels klar. Am Reigeldossen dringen die Arbeiter buchstäblich in Neuland vor. Jede lokale Situation kann erst beurteilt werden, wenn die Arbeiter vor Ort das Gestein begutachten können. Eine Ferndiagnose ist kaum möglich und wäre sehr unsicher. Sämtliche «Sanierungsarbeiten» erfolgen ab der eingangs erwähnten Plattform auf der Schrattenkalkschicht. Hier lagern Wassertanks, Kompressoren, Armierungseisen, Dieseltanks, Notstromaggregate. In blauen Containern sind Büro, Aufenthalts-, Sanitäts- und Trocknungsräume eingerichtet. Die Versorgung wurde in den ersten Monaten, bis die Materialseilbahn erbaut war, mit Helikoptern sichergestellt.

Seit Ende Juli 2010 ist neben der Plattform auch ein grosser Baukran in Betrieb. Er scheint direkt aus dem Felsen zu wachsen, ruht aber auf einem 5 × 5 m grossen Fundament. Zur Stabilisierung der Bodenumgebung wurden Stahlanker versetzt, die mehrere Meter in den Untergrund eingebohrt wurden. Extensometer (Sensoren zur Messung von Längenänderung bzw. Dehnung) und Klinometer (Messinstrument zum Messen der Steigung bzw. Winkelmessung im Bauwesen) sorgen dafür, dass jede kleinste Bewegung registriert und dementsprechend Alarm ausgelöst wird. Die Kranelemente wurden mit dem stärksten Helikopter der Schweiz vom Typ Kamov KA32 A12 zum Standort geflogen und an Ort und Stelle zusammengebaut. Mit seiner Ausladung von 60 m bringt der Kran Personen und Material an die richtigen Stellen. Generell sind Personentransporte mit Hebemitteln nur in begründeten Einzelfällen möglich. Aufgrund der ausserordentlichen Situation am Reigeldossen haben das Bundesamt für Gesundheit und die Suva den Personentransport mit dem Turmdrehkran als Ausnahmefall taxiert und unter Einhaltung zusätzlicher Auflagen zeitlich befristet bewilligt.arbeiten am hängenden seil Jeder, der in der Felssicherung arbeitet, muss über eine entsprechende Ausbildung verfügen, denn das «Arbeiten am hängenden Seil» ist in der Bauarbeitenverordnung gesetzlich klar geregelt (vgl. Kasten S. 24). Arbeiten am hängenden Seil dürfen nur durchgeführt werden, wenn mindestens zwei Arbeiter sich gegenseitig überwachen und nötigenfalls retten können. Jede Person ist mit zwei getrennt voneinander befestigten Seilen gesichert, einem Arbeitsseil und einem Sicherungsseil für den Notfall.

Eine Felsräumung wird immer von oben begonnen. Dabei arbeiten sich die Ausführenden am Seil Meter für Meter abwärts, beklopfen mit dem Brecheisen den Fels, entfernen lose Steine oder sichern gefährliche Felspartien mit Felsnägeln, Stahlnetzen und Beton. Die Arbeitsschritte sind klar geregelt: Nur Steine, die nicht grösser als 1⁄8 m³ sind, dürfen gelöst und den Hang hinunterbefördert werden, um nicht weitere Zerstörungen an den Strassenbauwerken anzurichten. Grössere Steine oder Felspartien, die nicht stabil sind, müssen entsprechend fixiert werden. Bei heiklen Stellen wird zudem immer ein beratender Geologe beigezogen, was aktuell fast täglich notwendig ist.

Notfall- und Sicherheitskonzept

Dass die Felsräumungsarbeiten ihre Zeit brauchen, hat nicht zuletzt mit den Sicherheitsmassnahmen zu tun. Für jede Etappe müssen detaillierte Sicherheitsdispositive ausgearbeitet werden. Allein das Notfall- und Sicherheitkonzept für den Abschnitt Reigeldossen ist 30 Seiten stark. Es stuft für jede einzelne Baustelle im Fels das Risiko ein, ermittelt dessen Eintrittswahrscheinlichkeit und listet die standardisierten Abläufe auf. Es legt die Verantwortlichkeiten fest und beschreibt, unter welchen Bedingungen gearbeitet oder nicht gearbeitet wird. Bei starkem Regen, starkem Wind sowie bei Schnee und Eis wird auf Einsätze verzichtet. Das Konzept hält auch fest, wo und wie die diversen Installationen zu erfolgen haben. Es dauerte Monate, bis die Arbeiter überhaupt darangehen konnten, die spektakuläre Baustellenplattform im Fels einzurichten. Zunächst musste ein Pfad durch das unwegsame Gelände angelegt werden, um den Standort zu erreichen. Dann wurden die Bäume in der Umgebung gerodet, die oben liegenden Felspartien von Steinen gesäubert und als Schutz vor möglichen Spontanereignissen eine Steinschlagverbauung von 100 m Länge und 7 m Höhe errichtet.

Schliesslich brachten Helikopter mit Dutzenden von Flügen das nötige Baumaterial ins Gelände. Auch die Strassenbauwerke mussten geschützt werden. Sie waren teilweise bereits beschädigt und der Gefahr ausgesetzt, während der Reinigung noch heftiger durch Steinschlag in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Der Lopperviadukt wurde mit 300 Baumstämmen unterspriesst und die Brückenplatte mit einer meterhohen Pneuschicht geschützt. Auch die bergseitige Steinkorbmauer musste komplett hinterfüllt und um 2 m erhöht werden. Für diese gefährlichen Arbeiten, die knapp drei Wochen dauerten, haben die Projektverantwortlichen mehrere Sicherheitsdispositive erarbeitet und von der Suva genehmigen lassen.

Der Preis der Sicherheit

Nach dem grossen Steinschlag im Oktober 2009 mussten nicht nur die Felsräumungsarbeiten ausgeweitet, sondern auch die Kosten nach oben korrigiert werden. Im Mai 2009 ging das Astra für das ursprüngliche Sanierungsprojekt Achereggtunnel / Lopperviadukt / Schutzbank noch von 48 Millionen Franken aus. Inzwischen rechnet man mit 23 Millionen Franken Mehrkosten. Die aufwendigen Sicherheitsarbeiten, die ganze Felsräumung, die vielen Helikopterflüge, die unvorhergesehenen Ereignisse, die Erstellung der Notbrücke: All das kostet Geld. Ende Winter 2010, so hofft man, ist auch der Bereich Reigeldossen so gut wie möglich geräumt. Im Frühling 2011 sollen die Pontonbrücke abgebaut und die Seestrasse wieder geöffnet werden. Nach einem Unterbruch von etwa ein bis zwei Jahren werden dann die eigentlichen Instandsetzungsarbeiten an den Galerien, am Lopperviadukt und am Achereggtunnel beginnen. Der Abschluss der Sanierungsarbeiten ist nicht vor 2014 vorgesehen. In ein paar Jahren also wird am Lopper wieder der «courant normal» eingekehrt sein. Tausende von Arbeitsstunden und Dutzende Millionen von Franken sind nötig, um auf diesem kleinen Abschnitt der Nord-Süd-Achse eine akzeptable Sicherheit herzustellen. Zumindest den lokalen Verkehrsteilnehmenden, die dann wieder unter den ruppigen Felsabschnitten vorbeifahren, dürfte es bewusst sein, dass es nicht selbstverständlich ist, wie ungestört sie diese paar Kilometer zurücklegen können.
Anmerkung
[1] Link: www.astra.admin.ch/autobahnschweiz/01337/01347/02562

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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