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anthos 2010/4
Landschaftsqualität
anthos 2010/4
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Der Klang der Landschaft

Die «Qualität» der Landschaft wird meist anhand visueller Charakteristika fest gemacht. Ihr Klang wird vernachlässigt.

26. November 2010 - Yvonne Christ
Es regnet in Strömen. Die Aufmerksamkeit der Ohren reicht nur wenige Meter in das Rauschen hinein. Die Ferne verschwindet, die Umgebung wird zum akustischen Kokon, durchbrochen von heransirrenden Windböen und vereinzeltem Pferdegewieher. So klingt Landschaft. Oder besser, dies ist eine der unendlichen Möglichkeiten, die sich so zugetragen hat, aber auch ganz anders hätte sein können.

Akustische Raumqualität
Auf das Thema akustische Raumqualität bin ich bei landschaftsästhetischen Bewertungsarbeiten im Feld gestossen. Die sichtbaren Elemente waren auf dem Aufnahmebogen erfassbar und wurden durch eine Fotografie dokumentiert. Rasch war klar, dass mit der benutzten Bewertungsmethode nach Wöbse[1] die hörbaren Elemente indes nur rudimentär aufgenommen werden können. Dies steht in Widerspruch zur Macht von Geräuschen: Das atemberaubendste Bergpanorama, der lieblichste Flusslauf und die ergonomisch ausgefeilteste Sitzbank bieten keine Aufenthaltsqualität, wenn der lokale Geräuschpegel irritiert oder überraschende Klänge stören.

Im Masterprogramm an der ZHdK habe ich einen akustischen Aufnahmebogen erarbeitet, welcher die optisch orientierten Systeme ergänzen könnte. Die Auseinandersetzung mit der hörbaren Dimension von Landschaft erwies sich als eine Entdeckungsreise zu persönlichen Raum- und Landschaftsvorstellungen, welche ich mir über die Jahre unbemerkt zurecht gelegt hatte. Je nach hörender Person und individuellen Präferenzen wird eine akustische Situation anders gehört und bewertet: Scheint ein Geräusch wichtig, realisiert man es bewusst, wird es als unwichtig eingestuft, kann es gut «überhört» und somit nur unbewusst wahrgenommen werden. Wie jede Fertigkeit kann auch Hören trainiert werden. Was für Musik und Profimusiker nahe liegend ist, könnte auch für Geräusche und Klänge im öffentlichen Raum denkbar sein.

Raumorgan Ohr
Das Gehör dient zusammen mit dem Gleichgewichtssinn als dreidimensionales Raumorgan. Dank der relativ langsamen Schallausbreitung von 330 Meter pro Sekunde können wir die Raumtiefe zuverlässig einschätzen. Das auditorische System hat eine sehr schnelle Reizaufnahme: Ein digitales Musikstück weist eine Taktfrequenz von einer vierzigtausendstel Sekunde auf, damit man keine Störung der Schallübertragungsinformation hört.[2] Dagegen stehen 25 Bilder pro Sekunde, die eine Bilderabfolge als bewegten Film erscheinen lassen!

Akustische Landschaft erfassen
Der «Aufnahmebogen zur Dokumentation akustischer Erlebnisqualität» ist als Leitfaden gedacht, um eine Situation an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeitspanne akustisch zu erforschen. Die gehörten Einzelheiten werden vor Ort und später zuhause anhand einer Tonaufnahme möglichst genau schriftlich festgehalten. Die Dokumentation kann dazu dienen, akustisch interessante Orte zu erkennen, zu benennen und gezielt weiter zu entwickeln. Es könnten damit auch akustische Entwicklungen unterhalb der Lärmgrenze über eine längere Zeit verfolgt werden. Möglich wäre auch, den Bogen als Hör-Schulungs-Instrument zu verwenden. In allen Fällen ist die Auseinandersetzung mit dem untersuchten Landschaftsausschnitt sehr zeitintensiv und setzt einen gezielten Auftrag voraus. Da die Erfassung der akustischen Landschaft sehr subjektiv ist, ist es wichtig, die erfassten Parameter zunächst möglichst genau zu benennen. Falls mehrere Personen beteiligt sind, ist ein gemeinsames Verständnis der verwendeten Begriffe wie «Geräuschdiversität: hoch-mittel-niedrig» durch Tests und eine Art Eichung unumgänglich, um zu vergleichbaren Resultaten zu kommen. Eine Eichung sollte sich an den Eckpunkten der benutzten Parameter orientieren, welche zwar von Ort zu Ort unterschiedlich sein können, jedoch innerhalb einer Forschungsfrage konsistent bleiben müssen.

Die Gliederung des Raumes in einen weiter entfernten «Hörbereich 2. Priorität» und einen näher gelegenen und unmittelbar präsenten «Hörbereich 1. Priorität» hat sich bewährt. Der «Klangregler» am Ende der Seite dient der Erfassung der Qualität einzelner Schallquellen: Je gleichmässiger Schallwellen in den Raum schwingen, umso eher wird ein Klang als Ton(-höhe) gehört. Breiten sich Schallwellen unregelmässig im Raum aus, erscheint ein Klang als Geräusch. Diese Feinunterteilung offenbart ungeahnte akustische Raumqualitäten, die als Basis anschliessender konzeptionell-strategischer Überlegungen dienen können. Der Bedarf danach ist schon heute gross.

Gesundheitsrisiko Lärm
Aktuell lässt die jährliche Lärmbelastung durch Strasse und Schiene geschätzte 125 Millionen Schweizer Franken an Gesundheitskosten auflaufen, zusätzlich entstehen circa 875 Millionen Franken Kosten durch Mietminderung.[3] Die Belästigung durch Lärm ist in der Schweiz die am häufigsten wahrgenommene Umweltbelastung. Rund 2,2 Millionen Menschen – knapp ein Drittel der Bevölkerung – sind tagsüber Strassenverkehrslärm über dem Grenzwert ausgesetzt, nachts 2,1 Millionen.[4] Bahnlärmmessungen werden im Auftrag des Bundesamtes für Verkehr an sechs charakteristischen Standorten in der ganzen Schweiz durchgeführt. Die Messstationen sind das ganze Jahr rund um die Uhr in Betrieb und erfassen die Lärmemissionen und ergänzende Messparameter jeder Zugsdurchfahrt, die Messresultate werden publiziert.[5] Angesichts der wachsenden Mobilität werden Erfolge in der Lärmreduktion teilweise wieder aufgehoben.[6] Lärmminderung durch emissionsärmere Reifen[7] und lärmmindernden Strassenbelag könnten als Elemente eines Gesamtkonzeptes die Situation dennoch entschärfen.

Zuständigkeitslücke
In der Beschäftigung mit der hörbaren Landschaft sind einige Dinge ohrenfällig: Verkehrs- und Wettergeräusche, tierische und menschliche Emissionen und die Messbarkeit des jeweiligen Schalldrucks in der Einheit Dezibel. Hört man genau hin, schälen sich Nuancen und Varianten heraus, die hochinteressant, jedoch schwierig quantifizier- und benennbar sind. Landschaftsakustische Phänomene unterhalb des Lärm-Grenzwertes sind heute kaum wissenschaftliche Untersuchungen wert. Dabei ist die Qualität des hörbaren öffentlichen Raumes ein hoch interessantes Studienobjekt. Wer aber wäre dafür zuständig? Da das Amt für Lärmschutz nicht in Frage kommt (dieses ist erst oberhalb des Grenzwertes zuständig), vielleicht Touristiker (Erholung durch Ruhe) oder Pädagogen (ungestörte kindliche Sprachentwicklung durch störungsfreie Hör-Umgebung). Auch Ingenieure und Akustiker könnten sich ins Zeug legen!

Ohrraumpioniere
Tatsächlich sind es vor allem Kunstschaffende, die sich des Themas annehmen. Sie messen keine Dezibelwerte, sondern greifen mit subtilen Aktionen in den Klang der Landschaft ein. Punktuelle grossflächige Aktionen wie die Klangnacht in Rümlingen[8] oder die Bespielungen des Jurahanges zwischen Ligerz und Tüscherz[9] stehen neben kleineren, länger andauernden lokalen Installationen[10].

Überlieferungen zur Arbeit am Klang der Landschaft sind aber weit älter. So enthält beispielsweise das futuristische Manifest «Die Kunst der Geräusche – Mailand, 11. März 1913» des Klangkünstlers Luigi Russolo Ausführungen zu unterschiedlichen Klangwerten von Bäumen. In den 1960er-Jahren versuchten Pioniere wie der Komponist R. Murray Schafer und der Stadtplaner Michael Southworth, Prinzipien akustischen Designs zu entwickeln.[11] 1970 wurde in Vancouver das «World Soundscape Project» initiiert, welches die akustische Landschaft kategorisieren wollte. Schafers Nachfolger Barry Truax[12] stellte die CD «Handbook for Acoustic Ecology»[13] zusammen.

In der Schweiz ist unter anderen der Geograf Justin Winkler eine prägende Figur der kleinen Soundscape-Szene, welche mittlerweile weltweit vernetzt ist und in der Zeitschrift «The Soundscape Journal»[14] ihre Aktivitäten dokumentiert. Im Internet werden auf «klanglandschaft.org» laufend aktuelle und vergangene Projekte vorgestellt.[15]

In Zukunft sollte es nicht nur darum gehen, Lärm zu verbieten. Um Raum- und Landschaftsidentität zu erhalten, brauchen wir einen bewussteren Umgang mit den zwei polarisierenden Extremen laut und leise, und ein viel grösseres Erfahrungswissen zu den dazwischen liegenden Qualitäten der Klänge und Geräusche im öffentlichen Raum. Die gezielte Beschäftigung auch mit dem urbanen Hörraum ist ein ungehobener Schatz vor unseren Haustüren, der mehr Aufmerksamkeit und Pflege verdient hätte.
[*] Die Bilder hat Karen Kägi 2010 für ihre Masterarbeit «Landschaft im Siedlungsraum» im Rahmen ihres Master of Arts in Design | Kommunikation | Erkenntnis-Visualisierung an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK erarbeitet. Das Projekt fand in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL statt. Informationen und Kontakt: http://www.karen-kaegi.ch.

[1] Wöbse, H.H.: Landschaftsästhetik: Über das Wesen, die Bedeutung und den Umgang mit landschaftlicher Schönheit. Stuttgart 2002.
[2] Schweizerische Interpretenstiftung SIS, Fachgruppe Gesundheit (Hrsg.): Tagungsmappe Interdisziplinäres Symposium
«Gefahren für das Musikalische Gehör». Tonhalle Zürich. Zürich 2002.
[3] Bundesamt für Raumentwicklung (ARE): Externe Lärmkosten des Strassen- und Schienenverkehrs der Schweiz, Aktualisierung für das Jahr 2000. Bern 2004.
[4] Bundesamt für Raumentwicklung (ARE): Externe Gesundheitskosten durch verkehrsbedingte Luftverschmutzung in der Schweiz, Aktualisierung für das Jahr 2000. Bern 2004.
[5] Aktuelle Daten und periodische, kommentierte Messberichte zum Download http://www.bav.admin.ch/ls/01300/index.html?lang=de. (Zugriff 20.9.2010)
[6] BSF/BAFU: Umweltstatistik Schweiz in der Tasche 2010. http://www.bafu.admin.ch/publikationen/publikation/01548/index.html?lang=de. S. 12. (Zugriff 20. 9. 2010)
[7] http://www.bafu.admin.ch/laerm/01146/07468/index.html?lang=de.
[8] www.neue-musik-ruemlingen.ch.
[9] www.viniterra.ch, 21. August 2010 in Biel, CH.
[10] http://www.kronberg.ch/hoerwanderung.htm.
[11] Bernius V.; Kemper P.; Oehler R.; Wellmann, K.-H. (Hrsg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Göttingen 2006.
[12] http://www.sfu.ca/~truax/index.html
[13] Truax, B. (Hrsg.): Handbook for Acoustic Ecology, CD-ROM Edition. Cambrigde 1999.
[14] http://interact.uoregon.edu/MediaLit/wfae/library/new_newsletter/NSNL02.html und http://www.sfu.ca/sonic-studio/.
[15] siehe http://www.klanglandschaft.org/, dort stösst man auch auf vergangene Projekte wie «Davos Soundscape» , eine Auftragsarbeit des Davos Musikfestival 2007: http://www.davosoundscape.ch/.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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