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TEC21 2011|01-02
Baustoff Schnee
TEC21 2011|01-02
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Physik in der Schneedecke

Fallen Schneekristalle auf den Boden und häufen sich zu einer Schneedecke an, entsteht ein komplexes Material. Anfangs noch puderartig, wachsen die Kristalle an ihren Berührungspunkten zusammen und bilden eine poröse Gesamtstruktur. Diese Struktur bleibt keineswegs erhalten. Die sich verändernden physikalischen Eigenschaften untersucht das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos, um damit zum Beispiel Computermodelle zu verbessern, welche die Eigenschaften des Schnees vorhersagen und in der Lawinenprognose eingesetzt werden.

31. Dezember 2010 - Martin Heggli, Martin Schneebeli
Natürlicher Schnee entsteht, wenn Wasserdampf enthaltende Luft in der Atmosphäre abkühlt. Bei einer gewissen druckabhängigen Temperatur ist die Luft mit Wasserdampf gesättigt. Eine weitere Abkühlung führt zu einer Übersättigung, sodass die Luft den enthaltenen Wasserdampf loswerden möchte. Dies wäre möglich, wenn der Wasserdampf zu Eiskristallen kondensieren könnte. Allerdings ist die spontane Bildung von Eiskristallen erst bei rund –40 °C möglich. Bei wärmeren Temperaturen gelingt dies nur, wenn Kondensationskeime vorhanden sind. Das sind in der Regel kleinste Teilchen in der Luft, sogenannte Aerosole. Ausgehend von diesen mikroskopisch kleinen Teilchen können sich auch bei Temperaturen über –40 °C Eiskristalle in der Luft bilden. Abhängig von den Umgebungsbedingungen wie Temperaturverhältnissen und Übersättigungsgrad der Luft mit Wasserdampf bilden sich verschieden geformte Eiskristalle. Ihnen allen gemeinsam ist der hexagonale Aufbau des Kristallgerüsts (Abb. 1 und 2).

Ganz anders entsteht der technische Schnee, im Volksmund auch als «Kunstschnee» bekannt. Bei Beschneiungsanlagen wird das Wasser durch feine Düsen in die Luft gespritzt. Die Tröpfchen gefrieren bei ausreichend langer Flugzeit durch die Luft, bevor sie auf den Boden fallen. Damit die technische Beschneiung schon bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt möglich ist, werden die Wassertröpfchen zusätzlich mit kleinen Eiskristallen aus sogenannten Nukleationsdüsen geimpft, sie dienen als Gefrierkeime. Mit Druckluft wird dabei gemischtes Wasser aus feinen Düsen versprüht. Durch die Expansion der Druckluft kommt es zu einer starken Abkühlung, wodurch diese Tröpfchen schon unmittelbar nach dem Austritt aus der Nukleationsdüse gefrieren. Die Schneekristalle aus den Schneimaschinen sind runder als natürlicher Schnee, deshalb hat Letzterer eine höhere Dichte und muss für die Pistenpräparation weniger bearbeitet werden.

Schneekristalle unter der Lupe

Es ist erstaunlich, dass Schnee weiss aussieht. Denn sowohl flüssiges Wasser als auch reines Eis – man denke an Eiswürfel in einem Getränk – sind durchsichtig und farblos. Tatsächlich sind auch die einzelnen Schneekristalle durchsichtig, wenn man sie mit einer Lupe oder unter dem Mikroskop betrachtet. Da die Schneedecke aber aus vielen übereinander geschichteten Einzelkristallen besteht, passiert das Licht immer wieder die Grenze zwischen Eis und Luft. An jedem dieser Übergänge wird das Licht gebrochen und ein Teil davon reflektiert. Da es dabei vom Schnee diffus in alle Richtungen gestreut wird, erscheint uns dieser letztlich weiss. Um die physikalischen Eigenschaften von Schnee im Allgemeinen zu verstehen, ist es somit wichtig, seinen Aufbau zu kennen. Denn beispielsweise die Wärmeleitfähigkeit oder die Festigkeit von Schnee hängen von der Struktur des Netzwerks ab, in dem die Eiskristalle angeordnet sind. Die Gruppe Schneephysik am WSL-Institut für Schneeund Lawinenforschung SLF in Davos erforscht deshalb die Struktur dieses Werkstoffes.

Röntgenbilder von Schneeproben

Die Forschenden untersuchen den Schnee im Labor mithilfe eines Mikro-Computertomografen (Mikro-CT). Bei dieser Methode, die vor rund zehn Jahren zum ersten Mal zur Untersuchung von Schnee angewendet wurde, macht ein Spezialgerät etwa 500 bis 1000 verschiedene Radiografien von einer Schneeprobe – das sind klassische Röntgenaufnahmen, wie sie auch in der Medizin für Knochen- und Gewebeuntersuchungen verwendet werden. Die Aufnahmen erfolgen aus einem immer wieder leicht veränderten Blickwinkel. Spezielle Computeralgorithmen berechnen und rekonstruieren aus dieser Information die dreidimensionale Struktur des Schnees. Die Aufnahmen zeigen, dass Schnee eine hochporöse, bikontinuierliche Struktur ist: Er besteht aus einem festen Eisgerüst und einem durchgehend verbundenen Luftporenraum, der einen sehr grossen Volumenanteil einnimmt. Bei Neuschnee kann der Luftanteil bis zu 95 Vol.-% ausmachen, aber auch älterer Schnee enthält noch etwa 70 Vol.-% Luft. Selbst der stark bearbeitete und verdichtete Schnee auf einer Rennpiste besteht noch fast zur Hälfte aus Luft (Abb. 3 bis 5). Der Vorteil des Mikro-CT ist, dass die Schneeprobe bei der Messung nicht beschädigt wird. Sie kann deshalb immer wieder untersucht werden. Dadurch ist es möglich, die Veränderung der Schneestruktur direkt zu beobachten. In Experimenten zeigte sich, dass sich zum Beispiel unter gewissen, in der Natur häufig vorkommenden Bedingungen – nämlich einem von der Schneeoberfläche zum Boden gerichteten Temperaturgradienten – die Mikrostruktur des Schnees rasch verändert. Schnee ist also nicht die vermeintlich ruhige Materie, die man vermuten würde, wenn man eine friedliche, verschneite Winterlandschaft betrachtet. Ganz im Gegenteil, in ihrem Inneren ist die Schneedecke ständig im Umbau. Man spricht von Schneemetamorphose.

Umwandlung und Neubildung von Schneekristallen

Eine langsame Veränderung der Schneestruktur findet statt, wenn der Schnee eine konstante Umgebungstemperatur hat. Die Schneemetamorphose – die Umwandlung der Schneekristalle – wird dabei lediglich durch das physikalische Prinzip der Energieminimierung angetrieben: Die zu Beginn stark verästelten Schneekristalle streben nach einer energieärmeren Form, indem sie sich in gröbere, rundlichere Kristalle mit einer kleineren Oberfläche verwandeln. Solche konstanten Temperaturbedingungen findet man vor allem in den tiefen Schichten einer polaren Schneedecke. In den oberflächennahen Schichten der saisonalen, alpinen Schneedecke sind es vor allem räumliche Temperaturunterschiede, die zu einer deutlich schnelleren Strukturänderung der Kristalle führen.

Ein Schlüsselbegriff, um diese raschen Veränderungen zu erklären, ist die «homologe Temperatur». Als homologe Temperatur bezeichnet man die Temperatur eines Werkstoffs relativ zur absoluten Temperatur seines Schmelzpunktes in Kelvin – für Festkörper liegt sie entsprechend zwischen 0 und 1. Schnee mit einer Temperatur von –5 °C hat zum Beispiel eine homologe Temperatur von 0.98 (268 K / 273 K = 0.98). Im Vergleich zu reinem Eisen würde dies einer Temperatur von etwa 1500 °C und bei Aluminium einer Temperatur von 640 °C entsprechen. Schnee muss also, obwohl er kalt erscheint, im physikalischen Sinn als eigentliches «Hochtemperaturmaterial» bezeichnet werden – als Festkörper, der sich sehr nahe bei seinem Schmelzpunkt befindet. Die Wassermoleküle im Eis bewegen sich deshalb relativ stark, und einzelne Moleküle können das Kristallgerüst leicht verlassen. Weil Eis ausserdem bei einer bestimmten homologen Temperatur im Vergleich zu anderen Substanzen einen hohen Dampfdruck aufweist, hat es eine starke Tendenz zu sublimieren, das heisst, es geht direkt vom festen in den gasförmigen Aggregatzustand über, ohne sich vorher zu verflüssigen. Durch diese Sublimation verschwinden Teile des Eisgerüsts und werden in Form von Wasserdampf durch die Luftporen an kältere Stellen, weil diese normalerweise höher oben liegen, in der Schneedecke transportiert. Dort kondensiert der Wasserdampf wieder und baut so neue Strukturen auf. Die Mikrostruktur des Schnees wird dadurch gröber, und kantige Kristallformen entstehen. Das Resultat dieser Schneemetamorphose hängt davon ab, wie die Temperaturverhältnisse in der Schneedecke sind; insbesondere ob grosse, kleine oder überhaupt keine Temperaturgradienten vorhanden sind; ob der Gradient immer in die gleiche Richtung zeigt oder seine Richtung im Lauf des Tages ändert. Denn der Dampfdruck des Eises ist von der Temperatur abhängig – je wärmer das Eis, desto höher der Dampfdruck.

Mechanische Eigenschaften von Schnee

Die Untersuchungen im Mikro-CT dienen nicht nur dazu, die Struktur des Schnees und seine Metamorphose zu untersuchen, sondern sie helfen auch dabei, die mechanischen Eigenschaften von Schnee besser zu verstehen. Dazu hat man am SLF in den letzten Jahren die mit dem Mikro-CT gemessene Mikrostruktur des Schnees analysiert und in ein Finite- Element-Modell umgewandelt. Es wurde aus Balkenelementen aufgebaut (Abb. 6), was die Anzahl der Elemente des Modells gegenüber tetraeder- oder würfelförmigen Elementen um zwei Grössenordnungen verringert. Das ermöglichte es, das Kriechen von Schnee numerisch zu simulieren. Die Kriecheigenschaften dieses Balkenmodells wurden ermittelt, wobei den einzelnen Modellbalken die Materialgesetze von monokristallinem Eis mit zufälliger Orientierung zugewiesen wurden. Es zeigt sich, dass die berechneten Deformationseigenschaften mit den im Experiment beobachteten übereinstimmen.

Visko-Elasto-plastisches Material

Zusätzlich zur temperaturgetriebenen Dynamik ist die Schneedecke ständig der Gravitation ausgesetzt, im einfachsten Fall führt dies zu einer Verformung der Eisstruktur. Der Schnee verformt sich durch sein Eigengewicht in Abhängigkeit von seiner Temperatur und seiner Dichte. Je kälter und dichter, desto viskoser ist der Schnee. Je nachdem, wie schnell der Schnee verformt wird, reagiert er unterschiedlich: Bei kleinen Dehnungsgeschwindigkeiten erfolgt eine plastische Verformung, bei hohen Dehnungsgeschwindigkeiten ist das Verhalten elastisch-spröd. In der Literatur werden oft besondere Mechanismen wie zum Beispiel Korngrenzen- Gleiten herangezogen, um die Deformation von Schnee zu erklären. Die neuen Untersuchungen des SLF zeigen jedoch, dass sich die Deformation von Schnee durch die Mikrostruktur und die mechanischen Eigenschaften seines Bauelements Eis hinreichend erklären lassen.

Schnee, vor allem lockerer Neuschnee, ist auch ein kompressibles Material. Seine Kompressibilität hängt in erster Linie von der Dichte, aber auch von Temperatur, Schneeart und Feuchtigkeit ab. Seine Festigkeit ist bezüglich Druck, Zug, Scherung und Penetration messbar. Die Festigkeit bezüglich Penetration wird als Härte bezeichnet. Die Bindungen sind der wichtigste Parameter bezüglich der Schneehärte. Je grösser die Anzahl und der Durchmesser der Bindungen ist, desto härter wird der Schnee. Ausserdem wird der Schnee härter, je kälter er ist. Neuschnee ist ein sehr poröses Material, dessen Dichte durch Kompression stark vergrössert werden kann. Da die Festigkeit des Schnees mit der Dichte in der Regel zunimmt, wird der Schnee verdichtet, um Skipisten zu präparieren oder Blöcke für den Iglubau auszusägen. Der verdichtete Schnee braucht eine gewisse Zeit, damit sich die Körner durch Sinterung verbinden können und so die endgültige Festigkeit erreichen.

Forschung an Einzelaspekten führt zum Gesamtbild

In der Natur wirken verschiedene Einflüsse gleichzeitig auf die Dynamik des Schnees ein und lassen sich nicht immer klar trennen. Deshalb werden im Labor einzelne Aspekte separat untersucht, um so Schritt für Schritt weitere Puzzleteile der mechanischen und thermischen Eigenschaften von Schnee zu identifizieren. So trägt die Schneephysik stufenweise zum nachhaltigen Fortschritt in Lawinenvorhersage, Wintersportindustrie und Klimaforschung bei. Die Ergebnisse werden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Fachbüchern publiziert oder fliessen in Projekte mit Industriepartnern ein. Eine verschneite Winterlandschaft bietet also nicht nur einen wunderschönen Anblick, unter dem sanften Weiss verstecken sich interessante physikalische Phänomene.

[Martin Heggli, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos
Martin Schneebeli, Leiter Team Schneephysik, WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos]


Literatur:
Fauve, M.; Rhyner, H.; Schneebeli, M., 2002: Pistenpräparation und Pistenpflege. Das Handbuch für den Praktiker. Davos, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung. 134 S.
Kerbrat, M.; Pinzer, B.; Huthwelker, T.; Gäggeler, H.W.; Ammann, M.; Schneebeli, M., 2008: Measuring the specific surface area of snow with X-ray tomography and gas adsorption: comparison and implications for surface smoothness. Atmospheric Chemistry and Physics
Pinzer, B.R.; Schneebeli, M., 2009: Snow metamorphism under alternating temperature gradients: Morphology and recrystallization in surface snow. Geophysical Research Letters – Weitere Informationen: www.slf.ch/forschung_entwicklung/schnee

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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