Zeitschrift

TEC21 2011|01-02
Baustoff Schnee
TEC21 2011|01-02
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Langsames Wasser

Tiefe Temperaturen verlangsamen den Rhythmus des Lebens auf der Erde. Das trifft insbesondere auch für das Element Wasser zu. In flüssigem Zustand passt es seine Form aufgrund der Erdanziehung augenblicklich der Umgebung an. In gefrorenem Zustand als Eis oder Schnee sind diese Bewegungen nicht aufgehoben, aber extrem verlangsamt. So sehr, dass sich mit diesen Materialien in unseren Breitengraden im Winter stabile Bauwerke erstellen lassen. Die Planung und Herstellung solcher Bauten basiert weitgehend auf Erfahrungswerten von einigen spezialisierten Fachfirmen.

31. Dezember 2010 - Markus Schmid
Bauten aus Schnee werden weder in der Architektur noch im Ingenieurwesen wahrgenommen, behandelt oder gar bewirtschaftet. In unserer Region haben solche Objekte, abgesehen von Eiskanälen für Bobrennen oder Sprungschanzen für Skispringer, auch kaum Tradition. Doch seit gut 15 Jahren haben die Wintersportorte das Iglu als Touristenattraktion entdeckt. Pünktlich zu Saisonbeginn erstellen Fachleute jedes Jahr aufs Neue diese traditionell nordischen Inuit-Behausungen. Aus zu Beginn einfachen Schneehöhlen haben sich längst grosse Schneehotels mit Eventcharakter entwickelt. Zum Spannungsfeld zwischen Naturerlebnis, Hüttengaudi und Wellnesstrip gesellen sich vermehrt auch Fragen rund um die Themen Sicherheit, Bauauflagen, Naturschutz und Nachhaltigkeit.

Luft und Wasser

Der klassische Iglubau mit dem Aussägen und Stapeln von Schneeblöcken hat mit der heutigen Art des Schneehotelbauens wenig gemein. Professionelle Unternehmer haben eine Technik mit Ballonen erfunden und patentieren lassen. Das Prinzip ist simpel und effizient zugleich: Speziell geformte Kunststoffballone werden an Ort und Stelle aufgeblasen und platziert. Danach schieben Pistenfahrzeuge den Natur- oder Kunstschnee rings um den Ballonpark zu einem Widerlager zusammen. Wenn dieser Sockel fest steht, wird mit Fräsen weiterer Schnee auf die Ballone befördert. Nach und nach verdichtet sich die Schneedecke auf den spitzen Gewölbeformen. Sind die Gewölbe stark genug, kann das Pistenfahrzeug über das künftige Schneehotel fahren, ohne dass die Struktur einbricht. Anschliessend wird die Luft aus den Ballonen abgelassen, und die Kunststoffhüllen können durch Zugänge und innere Verbindungen herausgezogen werden. Danach werden die Ballone an andere Standorte transportiert oder gleich vor Ort wieder aufgeblasen, um weitere Räume am Schneehotelpark anzubauen.

Die Ballone haben keine Kugelform, sondern ähneln im Querschnitt einem gotischen Spitzbogen. Statisch bieten diese spitzen Kegelformen ideale Voraussetzungen, um mit einem Material zu bauen, das viel Druck, mässig Schub und kaum Zug zulässt. In der kurzen Geschichte der Schneehotels ist es noch nie zu einem Versagen der Gewölbe gekommen – und dies, obwohl keine rechnerischen Analysen der geplanten Tragwerke durchgeführt werden. Alles basiert auf Erfahrungswerten und der Einschätzung der Fachleute. Die fertigen Schneehäuser deformieren sich während ihrer Lebensdauer von November bis April mehr oder weniger stark, je nach Witterung und lokalem Klima. Daher werden die Innenräume permanent kontrolliert und nachbearbeitet. Die Stärken der Schalenstrukturen sind aber zu Beginn so stark, dass nie nachträglich Schnee aufgebracht werden muss, zumal auch der natürliche Schneefall nach und nach für eine zusätzliche Verdickung der Aussenform sorgt.

Luxus und Nachhaltigkeit

Das Erlebnis einer Übernachtung oder die Teilnahme an Events im modernen Igludorf wird heute von jeder grossen Wintersportregion angeboten. Die Nachfrage steigt ständig, und sowohl Einzelpersonen als auch Familien und Firmen schätzen das besondere Erlebnis in der Kälte. Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, werden zwangsläufig immer mehr Annehmlichkeiten in die Schneehotels integriert. Das beginnt bei Auflagen aus Dämmplatten auf Möbel und Betten aus Schnee, die mit Fellen abgedeckt werden, und endet bei Saunaräumen und Whirlpools im «Cabrioiglu». An einem abgelegenen Ort hoch in den Alpen in Badekleidern den klaren und eiskalten Winterhimmel zu geniessen, verspricht Genuss pur. Um diesen Luxus mit einem guten «Öko-Gewissen» in Einklang zu bringen, müssen plausible Pro-Argumente gefunden werden. Nachhaltigkeit bietet sich als perfekte Lösung an. Daher existieren bereits Nachhaltigkeitsberichte und -zertifikate der Fachfirmen für Iglubau.[1]

Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass eine Übernachtung im Iglu einen relativ kleinen «Klima-Fussabdruck» hinterlässt, allerdings unter Ausblendung der Frage, wie die Besucher angereist sind und welche Aktivitäten sie rund um das Igludorf ausüben. Reisen im Flugzeug und Aktivitäten mit Motorgeräten wie Skidoos oder Quads machen bekannterweise den Löwenanteil des CO2-Ausstosses aus. Der WWF Deutschland hat zu dieser Problematik einen interessanten Bericht2 verfasst. Auch warme Kleidung und die relativ einfache Kost tragen zur guten Bilanz bei, denn eine Übernachtung im vollbeheizten und beleuchteten Hotelzimmer mit der rund um die Uhr warmen Küche beansprucht mehr Energie. Dazu kommen noch die Verwendung von deklariertem Ökostrom zur Herstellung des Kunstschnees, zum Heizen von Sauna und Whirlpool sowie die Kompensation der Treibhausgasemissionen Scope I und Scope II entsprechend dem GHG-Protokoll (siehe Kasten).

Betrachtet man das Thema mit etwas Distanz, wird wirklich klar, dass Igludörfer in der heutigen Grösse vergleichsweise wenig Anteil am Problem Treibhausgasausstoss haben, egal ob mit oder ohne Ökostrom. Und das liegt wie erwähnt in der Natur der Sache. Somit bleibt nur die Frage: Ist es legitim, in den Alpen temporäre Herbergen aus Schnee zu bauen, um damit Umsatz zu generieren? Betrachtet man die lokale Grösse und die Einbettung eines Igludorfes in Bezug auf das gesamte Skigebiet, so ist die Zusatzbelastung gering, zumal im Frühjahr der Schnee schmilzt und die Bauten restlos verschwinden. Die Wertschöpfung für die Region, die vom Tourismus lebt, ist sicher höher mit solchen Anlagen. Und schliesslich werden dadurch Umweltprojekte in aller Welt finanziell unterstützt (Kompensation CO2-Ausstoss). Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich Igludörfer durchaus vertreten.

Auflagen und Naturschutz

Mit der Zunahme von Anzahl und Grösse der Schneehotels und deren Bettenkapazität haben sich auch die Behörden des Themas angenommen, denn die Auswirkungen auf die umgebende Natur und die Risiken von Personenschäden steigen in gleichem Mass. In Bezug auf Personensicherheit existieren bereits einige Beispiele vom Kanton Bern. Neben den Auflagen zur Bestimmung eines Sicherheitsbeauftragten und zur Herstellung von Fluchtwegen werden auch Handfeuerlöscher vorgeschrieben. Nun möchte man annehmen, dass der Brandschutz in einem Bau aus Schnee und Eis kaum ein ernstzunehmendes Thema sein könnte. Doch vor zwei Jahren hat in einem Berner Igludorf eine Kerze die Reisetasche einer Touristin entzündet; die Qualmbildung forderte sieben Verletzte mit Verdacht auf Rauchvergiftung. Es ist anzunehmen, dass solche Fälle auch andernorts vorkamen, aber durch rechtzeitiges Entdecken niemand zu ernsthaftem Schaden kam. Deshalb werden keine Kerzen mehr in Schlafräumen und Verbindungsgängen zugelassen. Nachhaltigkeitsberichte haben dieses Verbot bereits aufgenommen und den Lichtersatz mit LED als CO2-Reduktion taxiert. Solche Entwicklungen müssen jedoch kritisch hinterfragt werden, denn die Fabrikation und der meist lange Transportweg von LED-Leuchten ist nach Expertenmeinungen nicht ökologisch.

Auch der Wildtier- und Naturschutz hat sich bereits mit dem Bau und dem Betrieb von Schneehotels befasst. Im Wesentlichen werden die Störung von Wildtieren, Lichtsmog und Lärm als Probleme erkannt und beurteilt. So dürfen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen keine Outdoorevents rund um die Anlagen durchgeführt werden. Die Aussenbeleuchtung ist auf ein Minimum zu reduzieren, und Schneeschuhwanderungen sind nur nach Absprache mit dem zuständigen Wildhüter möglich. Die Initianten, Erbauer und Betreiber solcher Anlagen haben also einiges an Auflagen zu erfüllen. Aber dieses Gleichgewicht gilt es zu halten, um Naturschutz und Tourismus in Einklang zu bringen. Und die Macher haben den Begriff Naturschutz bereits als Marketinginstrument entdeckt, wie der Nachhaltigkeitsbericht[1] zeigt.

Schnee für Ingenieure und Architekten

Noch hat die Gilde der Former und Planer diese spezielle Art der Hochbauten nicht entdeckt. Doch diese Nische könnte technisch und wirtschaftlich durchaus interessant sein, um das Bauen mit Schnee und Eis weiterzuentwickeln. Denkbar sind etwa detaillierte Untersuchungen am Material, um Kennwerte zu erhalten, statische Analysen der Gewölbetragstrukturen oder die Entwicklung von Mischformen mit Druckelementen aus Schnee mit Schub- und Zugelementen aus anderen Materialien. Auch Studierende könnten das Thema in Semesteroder Abschlussarbeiten aufgreifen. In den Disziplinen Architektur, Bauingenieurwesen oder Bauphysik wären interessante Arbeiten und neue Erkenntnisse garantiert. Ein Aufruf, sich des langsamen Wassers anzunehmen.


Anmerkungen:
[01] Nachhaltigkeitsbericht Saison 2009/2010 der Iglu-Dorf GmbH:
www.iglu-dorf.com/pdf/ID_Nachhaltigkeitsbericht200910_lang_de.pdf
[02] Der touristische Klima-Fussabdruck, WWF Deutschland:
www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/pdf_neu/Der_touristische_Klima-Fussabdruck.pdf

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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