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db deutsche bauzeitung 02|2011
Pumpen, heizen und entsorgen
db deutsche bauzeitung 02|2011

Camouflage für ein Kraftwerk

»Iller-Wasserkraftwerk« in Kempten / Allgäu

Dass technische Anlagen künstlerisch überformt werden, ist erstens selten – die Ingenieure haben hier zumeist das Sagen – und zweitens heikel: Metaphorisches, wie ein Heizwerk als Vulkan (im Goetheanum), oder Fantastisches, wie in Hundertwassers Wiener Müllverbrennungsanlage, wirkt oft unbeholfen oder dekorativ. Beim Bau eines Laufwasserkraftwerks in Kempten wählten die Architekten, spät hinzuberufen, einen anderen Ansatz. Das Echo ist enorm.

8. Februar 2011 - Christoph Gunßer
Staubalkenwehr, Zulauf, Maschinenhaus – das sind seit jeher die Teile eines Wasserkraftwerks, heutzutage allenfalls noch ergänzt um »Fischaufstiegshilfen«. In Kempten stand eine solche Standard-Planung als Ersatz für ein kleineres Kraftwerk der 50er Jahre kurz vor der Realisierung. Doch dann erhoben die Genehmigungsbehörden Einspruch: Im Naturraum der Iller, zwischen zwei denkmalgeschützten alten Textilfabriken, solle sich die Anlage besser einfügen. Da eine der mächtigen Fabriken derzeit zu Wohnungen umgebaut wird, sollte zudem für einen besseren Schallschutz gesorgt werden.

Um die Auflagen zu erfüllen, rief der Bauherr – der regionale Energieerzeuger – einige Architekten zu einem Wettbewerb zusammen. Den gewann das Kemptener Büro becker architekten mit einem tatsächlich außergewöhnlichen Ansatz: Über Stauwehr, Zulauf und Turbinenhaus stülpten die Planer eine stromlinienförmige Betonskulptur, die zu beschreiben schwerfällt. Eine dem Flussbett entwachsene, geschliffene Felsformation? Ein kalbender Gletscher? Ein gestrandeter Wal? Ein neuer Dinopark? Jedenfalls haben wir es hier weder mit einer platten Metapher noch mit reiner Dekoration zu tun. Die Form scheint von innen heraus gewachsen, nur für diesen Ort geschaffen.

Der Technik übergestülpte Skulptur

Fangen wir mit den Fakten an: Das Kraftwerk nutzt einen Höhenunterschied von 5,10 m zur Energieerzeugung. Über den Zulaufkanal und Saugschläuche werden zwei sogenannten Kaplan-Turbinen pro Sekunde 64 m³ Wasser zugeführt – dieses »Schluckvermögen« wurde gegenüber dem Vorgängerbau mehr als verdreifacht. Die senkrecht eingebauten Schaufelräder der 45 t schweren Turbinen drehen sich dagegen um ein Vierfaches langsamer und darum leiser als die alten: Mit nur 150 Umdrehungen pro Minute leisten sie jeweils 1 370 kW, zusammen 10,5 Mio. kWh im Jahr, was ausreicht, um rund 3 000 Haushalte mit Strom zu versorgen.

Die darüber gestülpte Hülle, ein mehrfach unbestimmtes Flächentragwerk, ist das Ergebnis intuitiver Formfindung. Als Ausgangspunkt der Entwurfsüberlegungen beschreibt Michael Becker die »Versinnbildlichung der Wasserdynamik vom beruhigten Einlauf über das Aufwerfen und Hinabstürzen des Wassers im Bereich der Turbinen und das nach der Stromerzeugung wieder der Iller zugeführte Durchlaufwasser«. Die »vom Flusslauf ausgewaschenen Gesteinsformationen in unmittelbarer Nachbarschaft des Kraftwerksstandorts mit ihren teils bizarren Anmutungen« nennt Becker als wesentliche weitere Inspirationsquelle. Doch die Vieldeutigkeit war gewollt: »Fast jeder Betrachter findet seine eigene Metapher«, hat der Architekt bemerkt.

Die beiden Endpunkte Krafthaus (mit Generatoren und Transformator) und Staubalkenwehr (mit Rechenreinigungsanlage) verbindet der Entwurf mit einer durchgängigen Gebäudehülle, die ungefähr in der Mitte unter dem historischen Stahlfachwerkbogen des Kabelstegs hindurchtaucht, der damit vor dem Abriss bewahrt werden konnte.

Der gesamte, knapp 4 000 m³ Rauminhalt fassende Aufbau wurde in Ortbetonbauweise errichtet. Punktuelle Gleitlager verbinden die Haube mit dem technischen Unterbau. Eine umlaufende, 2 cm weite Horizontalfuge betont effektvoll diese Trennung. Längenverformungen lassen sich so unabhängig ausgleichen. In Querrichtung stabilisieren Rippenbögen wie Spanten eines umgedrehten Schiffsrumpfs die Konstruktion – tatsächlich wurden sie zuerst errichtet und erst dann eine sägeraue hölzerne Schalung als »Beplankung« aufgebracht. Das Motiv der »ruppigen Rippen« – Schalungsspuren sind überall sichtbar – gliedert und rhythmisiert den Bau-Körper: Mal schlüpft der Besucher durch schmale, spärlich beleuchtete Katakomben, in denen man sich wie in der Speiseröhre eines Dinosauriers vorkommt, dann wieder findet er sich in weiten, zum Wasser offenen Gewölben wieder. Das Ganze wirkt wie ein piranesihaftes Labyrinth, in das ein nicht unbeträchtlicher Teil der im Kraftwerk verbauten 3 000 t Beton geflossen ist. 230 t Baustahl kamen hinzu. Die Statiker des ersten, »normalen« Kraftwerksentwurfs sollen von der Überarbeitung durch die Architekten zunächst wenig begeistert gewesen sein, griff diese doch auf eigenwillige Weise in die Routine des großen Münchener Ingenieurbüros ein.

Die 25 cm dicke Hülle des Aufbaus erhielt als oberen Abschluss eine im Vergleich zu Blecheindeckungen kostengünstigere und zudem fugenlose PU-Beschichtung; der Iller-Splitt darin sorgt für eine kleinteilig-changierende Oberfläche. Selbst Türen und Luken überzieht dieses dauerhafte Finish, so dass eigentlich nichts darauf hinweist, dass es sich bei der Skulptur nicht um ein Kunstwerk handelt. Selbstverständlich wurden sämtliche Maschinen erst nach der Errichtung der Hülle vom Kran durch maßgeschneiderte Luken eingebaut und lassen sich auch auf diesem Wege wieder austauschen.

Um Tauwasser gar nicht erst entstehen zu lassen, sind die lauten Räume im Maschinenhaus innen mit einer Lage Schaumglas beschichtet; auch das Summen der Mechanik wird dadurch einkapselt. Das Rauschen des Wassers an den Auslässen halten die scharfkantig ausgeformten Hauben zumindest teilweise zurück: Am Staubalkenwehr wurde neben der Fischtreppe eigens ein auf diese Weise überwölbter Notablauf geschaffen, denn das Wasser darf nach den (ziemlich aberwitzigen) Lärmschutzbestimmungen nur an den durchschnittlich acht Tagen im Jahr rauschen, an denen das Wehr vom Hochwasser überspült wird.

Vieldeutiger Publikumsmagnet

Das Licht wird hingegen nicht reglementiert: Aus den »Mäulern« und Fugen der Konstruktion dringt bei Dunkelheit rätselhaftes, z. T. farbiges Licht, und in den »Felsspalten« versteckte Strahler inszenieren die plastische Erscheinung im dunklen Fluss. Ein neuer Radwanderweg führt hinter hoher Betonbrüstung am Kraftwerk vorbei. So rückt diese »vergessene Ecke« der Stadt wieder ins Bewusstsein der Menschen. Zur Eröffnung des Kraftwerks im vorigen Jahr kamen 10 000 Schaulustige, und die wöchentlichen Führungen sind noch immer überbucht – der Betreiber hat eigens vier Arbeitsplätze zu diesem Zweck geschaffen, zielt dabei aber freilich mehr auf die Promotion seines Ökostrom-Angebots. Die Leute kommen jedenfalls wegen des eigenartigen Bauwerks.

Auch der Architekt kann sich vor Anfragen aus dem In- und Ausland kaum retten. Auf den »Bilbao-Effekt« angesprochen, mag Michael Becker jedoch mit dem Jetset der Hadids und Gehrys nicht in einen Topf geworfen werden. Auch wenn einem bei oberflächlicher Betrachtung tatsächlich Verwandtschaften mit modischen »Blobs« und »Faltungen« in den Sinn kommen – Becker versteht seinen Beitrag als dienendes (»devotes«), auf den Ort bezogenes Bauwerk, dessen hoher Identifikationswert gerade aus dieser Unterordnung erwachse. Da hat kein Star seine Duftmarke hinterlassen, kein CAD-Programm eine nie dagewesene Pirouette gedrechselt. Und das ist für nicht medial vorbelastete Betrachter (falls es die noch gibt) wohl auch glaubhaft erlebbar.

Mögen die Ingenieure es auch als höchst ineffiziente Materialschlacht betrachten – die Kraftwerkshülle entstand komplett in bildhauerischer Handarbeit. Es existiert ein drei Meter langes Modell davon, das am Ende eingescannt und auf der Baustelle anhand von 4 000 Messpunkten umgesetzt wurde: eine banale Bauaufgabe, in einer rätselhaften Skulptur zum Verschwinden gebracht.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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