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TEC21 2011|22
Zeichen und Wunder
TEC21 2011|22
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Zeichen und Atmosphären

Bedarf Architektur der interpretatorischen Deutung, oder soll sie rein intuitiv erfasst werden? Die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore bewirkte mit der Zeit Überdruss und wurde abgelöst vom Streben nach einer «atmosphärischen Architektur», die unmittelbar sinnlich erlebbar sein sollte. Diese wiederum lief Gefahr, in Kunstschamanentum zu kippen. Der Autor des folgenden Essays plädiert für eine Versöhnung zwischen semiotischer Deutung der Zeichen und synästhetischer Wahrnehmung der Atmosphären.

27. Mai 2011 - Ákos Moravánszky
Es ist der erste Augenblick der Betrachtung, der die ganze Bedeutung eines Werkes offenbart, und nicht, was darauf folgt, wenn man auf das Werk mit einem leeren Blick zurückschaut. Der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg vertrat jedenfalls diese Meinung: Die Essenz des Ganzen wird im ersten Moment der Begegnung sofort erfasst, die weitere Analyse bringt keine wesentlichen Erkenntnisse mehr, die ersten Eindrücke werden nur durch eine Sequenz von weiteren Betrachtungen ergänzt. Der glückliche Augenblick bleibt bis heute eine Art Utopie des unmittelbaren Sehens von Angesicht zu Angesicht, die leibliche Wahrnehmung des Raums «an sich», mit allen Sinnen, unverstellt durch Reflexion, Ideologien oder Bilder anderer uns bekannter Räume aus der Geschichte oder privater Erinnerung.

«Jenseits der Zeichen» war der Zwischentitel des ersten Kapitels, «Eine Anschauung der Dinge», in der 1998 erstmals publizierten Textsammlung «Architektur Denken» von Peter Zumthor; der Text war ursprünglich Teil eines im November 1988 in Santa Monica gehaltenen Vortrags. Mit dem gleichen Titel hat Bruno Reichlin 2001 einen Aufsatz im Themenheft «Differenz und Identität» der Zeitschrift «Der Architekt» veröffentlicht. Er berichtet in diesem Essay von dem «wachsenden Widerwillen» der jüngeren Architektengeneration «gegenüber jeglichem theoretischen Konstrukt, jeder Schlussfolgerung oder Erklärung, die sowohl die schöpferische Sinngebung in der Projektierungsphase als auch die kritische Rezeption des Werkes in einem rationalen Diskurs zu erfassen versucht…».[1]

Maschinerie der Interpretation

Worauf Rechlin hier anspielt, ist die semiotische Analyse, die in den 1970er- und 1980er-Jahren auch in der Schweizer Architektur einflussreich wurde. Semiotik war geeignet, die sprachlichen Defizite der Moderne zu kritisieren: ihre Unfähigkeit, eine Bedeutung zu kommunizieren, welche die Stadtbewohner entschlüsseln und verstehen können. Zeichen lesen – literarische Texte, Werbung, Körpersprache, medizinische Symptome und nicht zuletzt Architektur, das war das Gebiet der Semiotik. Sie hat sich in kurzer Zeit zu einer Wissenschaft zur Deutung der verschiedensten Phänomene von der Alltagskultur bis zum Städtebau entwickelt. Egal, ob eine Säule, ein Portal, ein Wohnhaus oder ein Stadtbezirk, die Semiotik hat eine Methodologie und eine Begrifflichkeit entwickelt, die ihre Grundlagen in Ferdinand de Saussures «Cours de linguistique général» (1906–11) fand. In den 1990er-Jahren wirkte diese Lehre bereits wie eine gut geölte Maschinerie, die fähig ist, die verschiedensten Werke interpretativ zu bearbeiten, ohne ihre Qualitäten beurteilen zu können. Besonders die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore hat gezeigt, dass die Anwendung literarischer Kriterien auf die Architektur, wie Charles Jencks es vorexerzierte, zu keinen zufriedenstellenden Resultaten führt. Das spätere Werk von Aldo Rossi, wie das Bonnefantenmuseum in Maastricht (1990) oder der Technologiepark Fondo Toce (1993), vermochte nicht einmal seine früheren Anhänger zu überzeugen.

Kunst Schamanentum und der warme Bauch der Architektur

Bruno Reichlin wollte der mit der Semiotik unzufriedenen jüngeren Generation ihre Stimme geben, kontrastierte im zitierten Aufsatz die Rationalität der Methode mit der ihnen gesuchten«Wärme». Er stellte die Gründe für deren Unzufriedenheit mit viel Empathie dar, wollte andererseits seine Kritik nicht unterdrücken. Vor allem nicht, wenn er hinter den markigen Worten von einer neuen Ästhetik der Unmittelbarkeit und Präsenz einen alten Antiintellektualismus und Kunstschamanentum vermutete. Er bemerkte in seinem Aufsatz, dass die alten Spekulationen über Synästhesie, welche subjektivistischen Ansätzen in der Ästhetik den Weg ebnen sollen, einen durchaus ideologischen Charakter haben.

Ein modellhaftes Beispiel der «atmosphärischen Architektur» war der Schweizer Pavillon für die Weltausstellung Expo 2000 in Hannover von Peter Zumthor. Das Aufeinanderprojizieren der Sinneseindrücke im Zumthors Ausstellungspavillon «Klangkörper Schweiz», der Holzgeruch, Tast- und Geschmackerlebnisse vermittelte,[2] schuf eine Atmosphäre, die Teilnahme versprach. Durch Hören der Free-Alpen-Jazzklänge von Hans Koch, durch Riechen, Schmecken der Bündner Gerstensuppe und Tasten der rohen Holzflächen sollte man von einer deutlichen Präsenz ergriffen werden. Ein Bewusstseinszustand wurde hervorgerufen, der sich vom Objekt nicht distanzierte, sondern unreflektiert und ganz körperlich blieb. Das ist es wohl, was Reichlin als die Vereinigung mit dem«warmen Bauch der Architektur» bezeichnete und was jenem Phänomen entspricht, das der Philosoph Gernot Böhme als Atmosphäre beschrieb. Böhme wollte damit etwas zur Sprache bringen, was weder als rein subjektiv noch als rein objektiv ausgewiesen werden kann. Atmosphären werden erspürt, gefühlt und sind doch als das, was uns umgibt, was uns von aussen an- und berührt, überaus real. Böhme spricht deshalb auch von «quasi-objektiven Gefühlen». In seinem Text «Über Synästhesien » definierte Böhme Atmosphäre als den «primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung», das Ganze,«in das alles Einzelne, das man dann je nach Aufmerksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist». Er verband Atmosphären mit der«Ekstase der Dinge»: Ein Ding, wie etwa ein blauer Krug, zeigt seine Präsenz, indem es «aus sich heraustritt».[3] Er gab einige Beispiele: «Man kommt aus belebter Strasse und betritt einen Kirchenraum. Oder man betritt eine noch unbekannte Wohnung. Oder man hält zur Rast bei einer Autofahrt an, geht ein paar Schritte, und plötzlich öffnet sich der Blick auf das Meer. In solchen anfänglichen Situationen wird deutlich, dass, was zuerst […] wahrgenommen wird, in gewisser Weise der Raum selbst ist. Dabei ist aber mit Raum nicht etwa im kantischen Sinne die reine Anschauung des Ausser- und Nebeneinanders gemeint, sondern die affektiv getönte Enge oder Weite, in die man hineintritt, das Fluidum, das einem entgegenschlägt. Wir nennen es in Anlehnung an die Terminologie von Hermann Schmitz die Atmosphäre. […] Man wird Dinge erkennen, man wird Farben benennen, Gerüche identifizieren. Wichtig ist, dass dann jedes einzelne […] von der Atmosphäre getönt ist. Die Möbel drängen sich in kleinbürgerlicher Enge, das Blau des Himmels scheint zu fliehen, die leeren Bänke der Kirche laden zur Andacht ein. So jedenfalls erfährt es der Wahrnehmende. Der ästhetische Arbeiter weiss es auch anders. Er weiss nämlich, wie er durch Raumgestaltung, durch Farben, durch Requisiten Atmosphären erzeugen kann.»[4] In Böhmes Argumentation werden durch die Ästhetik der Atmosphären sowohl Subjekt/Objekt- als auch Hochkultur/Trivialkultur-Divisionen überwunden. Künstler, Designer, Schaufensterdekorateure und ihre Zimmer dekorierende Teenager sind gleichsam «ästhetische Arbeiter»[5]. Das Problem ist, dass er in seinen Schriften historisch und kulturell unspezifische Situationen verwendet: «Man betritt eine Wohnung, und es schlägt einem eine kleinbürgerliche Atmosphäre entgegen. Man betritt eine Kirche, und man fühlt sich von einer heiligen Dämmerung umfangen. Man erblickt das Meer und ist wie fortgerissen in die Ferne. Erst auf diesem Hintergrund bzw. in dieser Atmosphäre wird man dann Einzelheiten unterscheiden. »6 Er bemerkt zwar die «ästhetische Haltung» des erfahrenden Subjekts, diese Haltung wird jedoch in seiner Analyse nicht weiter untersucht, nicht einmal wirklich berücksichtigt. Es wird angenommen, es gäbe eine affektive Einstimmung auf ein atmosphärisches Ding, bar jeder kulturellen Prägung – als wären Atmosphären für jeden in gleicher Weise erfahrbar.

Vom ersten Augenblick zum Blick zurück

Es ist aber offensichtlich, dass der Unterschied zwischen der von Böhme so bezeichneten «kleinbürgerlichen Atmosphäre» und dem «gestimmten Raum» des Schweizer Pavillons oder eines Wohnhauses eben nicht als Beweis dienen kann, dass diese Architekturen bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung wirken. Eine genaue Analyse der Umstände, wie etwas«atmosphärisch» wahrgenommen wird, ist notwendig. Wir könnten ja im Prinzip auch Werke, die eine semantische Strategie verfolgen, «atmosphärisch» erleben, die Zeichen haben ja auch ihre Materialität. Welche Art von Wissen muss der Besucher mitbringen, um in der Atmosphäre des Pavillons die Schweiz zu erkennen? Die Kommentare der Besucher, ihre Versuche, das Gebäude als Ausdruck einer «Schweizer Identität» zu verstehen, haben gezeigt, dass Semiotik die Intentionen der Besucher beeinflusst, wie sie solche atmosphärische, immersive Umgebungen «lesen» wollen.

Solche Überlegungen legen es nahe, die synästhetische Wahrnehmung der Atmosphären und die semiotische Deutung der Zeichen nicht als zwei sich widersprechende, diametral entgegengesetzte Vorschläge zu betrachten. Semiotik in der Architektur muss sich nicht nach dem Modell der Sprache orientieren, sondern die Frage der Wahrnehmnung der Umwelt allgemeiner fassen, etwa so, wie Jacob von Uexküll die Lebenswelten der Tiere, ihre Merk- und Wirkräume untersuchte. Andererseits darf die ästhetische Theorie der Atmosphären nicht bei Greenbergs «erstem Augenblick» bleiben, sondern muss den weiteren Prozess der Reflexion untersuchen, der kulturell vermittelt und nicht «jenseits der Zeichen» stattfindet.


Anmerkungen:
[01] Bruno Reichlin: «Jenseits der Zeichen», in: Der Architekt. März 2001, S. 62
[02] Roderick Hönig (Hg.): Klangkörperbuch. Lexikon zum Pavillon der Schweizerischen Eidgenossenschaft an der Expo 2000 in Hannover. Birkhäuser, Basel 2000, S. 45
[03] Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 32f.
[04] Böhme, «Über Synästhesien», in: Daidalos 41. 1991, S. 26–36, hier S. 35
[05] Böhme, Atmosphäre (wie Anm. 3), 21f.
[06] Böhme, «Über Synästhesien» (wie Anm. 4), Abb. 11

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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