Zeitschrift

TEC21 2011|24
Brücken mit Geschichte
TEC21 2011|24
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Dreigelenk in Stahlbeton

Die vom Kanton Bern als schützenswert eingestufte Garstattbrücke von Robert Maillart im Simmental ist über 80 Jahre alt und hat bisher alle Verkehrslasterhöhungen gut überstanden. Der Schwerverkehr setzte der Dreigelenkbogenbrücke jedoch zu und verursachte Schäden. Das Büro Diggelmann + Partner hat sie deshalb 2010 instand gesetzt und ihre Tragfähigkeit durch gezielte Verstärkungen erhöht – das ursprüngliche Erscheinungsbild veränderte sich nur bei den Endlängsträgern an den Widerlagern.

Robert Maillart hat in seiner zweiten Schaffensperiode (1920–1940) die Mehrzahl seiner Brücken im Kanton Bern realisiert. Von den insgesamt 18 sind noch 14 erhalten, wovon die meisten von der kantonalen Denkmalpflege als «schützenswert» eingestuft werden.[1] Dass die formschönen und schlanken Konstruktionen, die sich «durch absolute Ökonomie der Mittel»[2] auszeichnen, mehr als 70 Jahre ohne wesentliche Eingriffe überdauert haben, mag erstaunen – lässt sich aber erklären. Maillart hat neben der statischen Berechnung stets auch der konstruktiven Ausbildung einen hohen Stellenwert beigemessen. Ein Blick auf die Karte zeigt zudem, dass er seine Brücken mehrheitlich in abgelegeneren Gebieten realisierte, in Gemeinden, die sich damals keine kostspieligen Bauwerke leisten konnten (Abb. 3)[3]; weil das Verkehrsaufkommen und die Fahrzeuggewichte auf diesen Strassen weniger schnell zunahmen als anderswo, genügten diese Brücken über lange Zeit den Anforderungen. Als im Jahr 2000 alle schweizerischen Strassen für Lastwagen bis 40 t freigegeben wurden, kamen die Maillart-Brücken an ihre Belastungsgrenze. Überprüfungen und Nachrechnungen zeigten zwar erhebliche Tragsicherheitsreserven, sodass die ursprünglich für Fahrzeuggewichte von 13 t ausgelegten Bauwerke bis maximal 32 t freigegeben werden konnten. Weil der zunehmende Schwerverkehr den Bauwerken jedoch progressiv zusetzte und durchgehende 40-t-Korridore gefordert wurden, mussten Lösungen für die Brücken gefunden werden. Das Tiefbauamt des Kantons Bern betraute das Ingenieurbüro Diggelmann + Partner – als Nachfolgebüro von Maillarts Berner Filiale – mit der Aufgabe, Konzepte für die Erhaltung einiger dieser Brücken zu erarbeiten und umzusetzen.

Erhaltungswert einer Maillart-Brücke

Mit der Erarbeitung der Konzepte wurde teilweise auch der Rückbau diskutiert. Bauwerke von Robert Maillart sind jedoch grundsätzlich erhaltenswert. Ein Blick ins Merkblatt SIA 2017 «Erhaltungswert von Bauwerken»[4] zeigt, dass vor allem immaterielle Kriterien dafür sprechen. Die Brücken haben sowohl einen hohen historisch-kulturellen als auch handwerklich-technischen Wert, was indirekt zu einem wesentlichen gestalterischen Wert führt. Eine Brücke Maillarts kann und darf nicht unbedacht abgerissen oder verunstaltet werden (vgl. Kasten S. 24), sondern nur, wenn eine vertiefte Abklärung keine andere valable Lösung aufzeigt, zum Beispiel bei einem ungenügenden Durchflussprofil unter der Brücke.[5]

Eine Maillart-Brücke im Simmental

Maillart entwickelte zwei neue Tragwerkssysteme für Betonbrücken: den versteiften Stabbogen und den Dreigelenkbogen mit Kastenträger. Die Garstattbrücke in Boltigen auf der Hauptstrasse durch das Simmental ist ein Beispiel für eines dieser beiden Tragsysteme. Dieses zweitletzte Projekt von Maillart vor seinem Tod, das er 1939 erbaute, gehört zur Gruppe der Dreigelenkbogen, von denen im Kanton Bern vier von ursprünglich fünf noch erhalten sind – und dies weitgehend im Originalzustand. Die Brücke wurde 2010 von Diggelmann + Partner erneuert und zeigt, mit welchen Eingriffen ein für damalige Verhältnisse innovatives und effizientes Bauwerk hergerichtet werden kann.

Maillart wählte für diese schiefwinklige Überquerung der Simme zwei in Längsrichtung verschobene, konisch verlaufende Kastenträger, die er stark vereinfacht hat: Der Bogen ist nur theoretisch vorhanden, er ist effektiv aufgelöst in gerade Linien. Die Zwillingsbrücken sind mit einer Spannweite von 32 m ausgeführt und tragen je eine Fahrspur. Eine ist – nach Norm SIA 112 (1935) – jeweils für zwei hintereinanderstehende Lastwagen von je 13 t plus eine verteilte Last von 440 kg/m2 dimensioniert. Die im Jahr 2001 durchgeführte statische Überprüfung nach Norm SIA 462 bzw. der Publication ICOM 444-46 erfolgte bereits nach den Überlegungen der inzwischen gültigen Norm SIA 269 «Erhaltung von Tragwerken» und ergab eine maximal zulässige Belastung von 32 t pro Fahrspur. Die Gelenke bestehen aus eingeschnürten Betonquerschnitten und wurden nach Leonhardt[7] nachgewiesen. Die Zustandsuntersuchung wies einen kompakten, hochfesten Stampfbeton (C50/60) aus und Karbonatisierungstiefen bis 35 mm. Hauptschadensursache war das undichte Scheitelgelenk, sodass ungenügend abtropfendes, chloridhaltiges Wasser zu Korrosion an der Bewehrung der Brückenuntersicht führte.

Die Ingenieure sahen Verstärkungen vor, die aufgrund der technischen Randbedingungen erforderlich waren und die die Denkmalpflege gleichzeitig als die schonendsten erachteten. Alle Verstärkungsmassnahmen wurden dabei gemäss den Neubaunormen SIA 260 ff. bemessen. Ursprünglich trug ausschliesslich der flache Dreigelenkbogen die Lasten in den kiesigen Baugrund ab (Abb. 6). Die Kämpfergelenke wurden so unter den aktuellen Lasten überbeansprucht. Durch eine unsichtbare, innenseitige Verstärkung der Kastenwände (Abb. 4) und die sichtbare Verstärkung der Endlängsträger sowie deren Einspannung im Widerlager konnten die Kämpferbereiche entlastet werden (Abb. 5 und 7). Ihre Querkraftbeanspruchung reduzierte sich so weit, dass die intakten, filigranen Kämpfergelenke belassen werden konnten. Mikropfähle stellen ausserdem sicher, dass sich unter den Fundamenten keine klaffende Fuge einstellt. Die nur 16 cm starke Fahrbahnplatte wurde um 8 cm aufbetoniert und mit neuen Konsolen versehen, die die gleichen Proportionen aufweisen wie die ursprünglichen. Die relativ gut erhaltenen Seitenwände wurden lokal instand gesetzt und hydrophobiert. Hingegen mussten die korrodierten Untersichten grossflächig abgetragen und mittels Spritzmörtel reprofiliert werden.

Die Bauingenieure veränderten das statische System der Brücke in Absprache mit der Bauherrschaft bewusst nicht. Sie beliessen das Scheitelgelenk und die Längsfuge zwischen den Zwillingsbrücken. Damit blieb das aus Sicht der Denkmalpflege wichtige Tragsystem erhalten, und man vermied die aus technischer Sicht problematischen neuen, schwer beherrschbaren Zwängungen – akzeptierte aber den entsprechenden Unterhalt der Fugen.

Brückenbild prägendes Geländer

Neben dem Tragwerk wird auch diese Brücke Maillarts durch ein filigranes, einfaches Profilgeländer geprägt. Es genügt bezüglich Rückhaltevermögen und Personenschutz nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Ein robusterer Nachbau, allenfalls mit Drahtgitterfüllungen, ist meist ausreichend und einem modernen, aber unpassenden Rückhaltesystem vorzuziehen. Der Nachbau des Geländers für die Garstattbrücke besteht wie schon das ursprüngliche aus U-Pfosten und Winkelprofilen mit analogen Proportionen. Er wurde jedoch als durchgehendes Zugband ausgebildet. Die Pfosten sind nicht mehr eingemörtelt, sondern aus Unterhaltsgründen mit Fussplatten aufgedübelt, die auf der Aussenseite der U-Pfosten versteckt sind. Leitplanken sind in Absprache mit der Bauherrschaft keine montiert, denn eine Gefahrenanalyse zeigte, dass die neuen, 20 cm hohen Bankette für die vorhandene Ausbaugeschwindigkeit von 60 km/h ausreichend sind.

Zusammenspiel alter und neuer Tragelemente

Durch die sorgfältige Instandsetzung funktioniert das Zusammenspiel der alten und der neuen Tragelemente. Ihre Dauerhaftigkeit bleibt für rund 50 weitere Jahre gewährleistet. Danach können neue Instandsetzungsmassnahmen nötig werden. Damit bleibt auch dieses historisch- kulturell wertvolle Bauwerk den nachfolgenden Generationen erhalten und gewährleistet gleichzeitig eine den aktuellen Bedürfnissen entsprechende Nutzung – umgesetzt mit einem im Vergleich zu einem Ersatzneubau verhältnismässigen Einsatz der finanziellen Mittel.


Erhaltungsphilosophie

In der Regel wird ein Bauwerk für nicht mehr als einige Jahrzehnte bis zum Ablauf der Lebensdauer erhalten. Wenn denn aber eine wertvolle Brücke erhalten bleiben soll, dann nicht nur für einige Jahrzehnte, sondern für möglichst viele Generationen. Dazu bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Erfüllt die Brücke die Nutzungsanforderungen weiterhin oder sind diese zukünftig geringer, ist eine Instandsetzung oder Konservierung ausreichend. Beispiele dafür sind die denkmalgeschützten Rossgraben- und Schwandbachbrücke (erbaut 1932 bzw. 1933 und instand gesetzt 2005 bzw. 2006) in der Region Schwarzenburg im Kanton Bern. Die Überprüfung erfolgt gemäss der seit 1. Januar 2011 gültigen SIANorm 269 «Erhaltung von Tragwerken».

Genügt das Bauwerk hingegen bezüglich Belastung oder Geometrie nicht mehr, ist eine Verstärkung oder Erweiterung nötig. Dies bedeutet in der Regel einen wesentlichen Eingriff ins Bauwerk, der unter Beizug der Denkmalpflege behutsam und mit Respekt für die bestehende Bausubstanz zu erfolgen hat. Einerseits sollen das Tragwerkskonzept und das bewährte statische System nicht grundlos verändert werden, andererseits sollen die Eingriffe nach Möglichkeit dort erfolgen, wo sie entweder nicht bzw. kaum sichtbar sind oder wo die Originalsubstanz bzw. -oberfläche bereits früher verloren ging. Massnahmen, die gleichzeitig der Instandsetzung und der Verstärkung dienen, sind besonders effizient: z. B. Vorbetonierungen auf chloridbelasteten und deshalb abzutragenden Oberflächen der Troginnenseiten. Originale Ober- flächen sollen hingegen erhalten bleiben und nur lokal repariert werden, auf vollflächige Beschichtungen ist zu verzichten. Erhaltungsmassnahmen ermöglichen es zudem, frühere Verunstaltungen rückgängig zu machen. Geometrischen Veränderungen wie Verbreiterungen oder Kurvenstreckungen sind aus ästhetischen und aus statischkonstruktiven Gründen enge Grenzen gesetzt. Liegen entsprechende Forderungen vor, ist mit der Bauherrschaft im Detail abzuklären, inwieweit darauf allenfalls verzichtet werden kann und wo Kompromisse möglich sind.

Die meisten Brücken Maillarts können mit geeigneten Massnahmen für aktuelle Verkehrslasten verstärkt werden. Dies setzt jedoch eine eingehende Auseinandersetzung mit den vorhandenen Tragwerken voraus, was durch die vollständig erhaltenen Unterlagen erleichtert wird. Aufgrund der Bewehrungspläne und der auf wenigen Seiten festgehaltenen handschriftlichen Berechnung sind kaum stark unterdimensionierte Tragwerksteile auszumachen; alle Tragwerksteile erreichen etwa gleichzeitig ihre Belastungsgrenze, weil Maillart als einer der Ersten die räumliche Zusammenwirkung der einzelnen Tragelemente erkannte und berücksichtigte. Trotzdem lassen sich mit den heute verfügbaren Statikprogrammen bisher verborgene Tragwerksreserven aufzeigen, womit nachgewiesen werden kann, dass die aufgrund der damaligen Belastungsversuche[8] bereits vermuteten, wesentlich höheren Tragfähigkeiten tatsächlich vorhanden sind. Bei der Entwicklung der Verstärkungskonzepte ist diesem Aspekt gebührend Rechnung zu tragen.

Im Rahmen der Erhaltung von Maillart-Brücken haben sich Werkstoffe auf Zementbasis bewährt. Bei Vor- und Aufbetonierungen ist auf einen guten Verbund und ein geringes Schwindmass zu achten. Kunststoffgebundene Materialien hingegen sind artfremd und an sichtbaren Oberflächen aus ästhetischen Gründen zu vermeiden.


Anmerkungen:
[01] Inventar der noch erhaltenen Brücken von Robert Maillart im Kanton Bern, kantonale Denkmalpflege Bern, 1991
[02] «Robert Maillart», Max Bill, 1949, Artemis Verlag, Zürich
[03] Brücken Robert Maillart, Landeskarte der Schweiz, Herausgeber TFB Wildegg, 1982
[04] Erhaltungswert von Bauwerken, Merkblatt SIA 2017
[05] Anmerkung Redaktion: vgl. «Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe», TEC21 37/2010
[06] Lastmodell zur Beurteilung zweispuriger Strassenbrücken mit Gegenverkehr, Publication ICOM 444-4, EPF Lausanne, Juni 2001
[07] Vorlesungen über Massivbeton – 2. Teil, Kap. 4.2 «Betongelenke» von F. Leonhardt (1975)
[08] Belastungsversuche, Prof. Dr. M. Ros, Januar 1941, Empa Zürich

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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