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db deutsche bauzeitung 08|2011
In zweiter Reihe
db deutsche bauzeitung 08|2011

Die perfekte Nische

Wohnhäuser in Berlin

Unweit der ehemaligen Berliner Mauer versteckt sich im Hof der Strelitzer Straße 53 etwas Beispielhaftes: ein kleiner, leicht gebogener Straßenzug, der sich aus vielen schmalen, unterschiedlich gestalteten Reihenhäusern zusammensetzt und daher äußerst lebendig wirkt. Geschützt durch die vordere Bebauung, bietet er jungen Familien Raum zum Arbeiten und Wohnen und Kindern einen nahezu intimen, ruhigen Außenbereich zum Spielen – noch, denn sobald die dahinterliegende Gedenkstätte der »Berliner Mauer« fertiggestellt ist, könnte es mit der Ruhe vorbei sein.

9. August 2011 - Michael Kasiske
Fast drei Jahrzehnte lang zerschnitt die Berliner Mauer entlang der Bernauer Straße die Strelitzer Straße, die im Norden im Arbeiterbezirk Wedding beginnt und im Süden vor der St. Elisabeth-Kirche von Karl Friedrich Schinkel endet. Der Mauerfall 1989 führte auch hier zu umfangreicher Restituierung; um 2000 entwickelte ein auswärtiger Eigner bei der Teilung in Parzellen die städtebauliche Form für die außergewöhnliche Bebauung im Hof von Haus Nr. 53.

Das äußerlich unauffällige Vorderhaus ist gleichermaßen Tor und Schutz des rückwärtigen Bauensembles mit den Anschriften Bernauer Straße 5-8 d: 16 Reihenhäuser, die lange südliche Zeile drei-, die kurze nördliche viergeschossig. Die Binnensituation ist trotz des öffentlich zugänglichen Wegs abgeschieden und erinnert der großen Fensteröffnungen wegen an holländische Quartiere. Auf der Nordseite der kurzen Zeile verläuft unmittelbar vor den Hauseingängen der sogenannte Postenweg als Teil der Gedenkstätte »Berliner Mauer«, die nach einem Entwurf der Landschaftsarchitekten Sinai Faust.Schroll.Schwarz kurz vor der Fertigstellung steht.

Doch wie kommt die im Einzelnen individuelle, doch städtebaulich zu einer Einheit verschmelzende Häusergruppe an diesen Ort, der zwischen Hinterhof und vorderster Front oszilliert? Ein ökonomisches Gesetz half, nämlich das Erbbaurecht. Eingeführt 1919, soll es sozial schwächer Gestellten Grundstückserwerb ermöglichen und gleichzeitig Spekulation verhindern, denn der Erbbauberechtigte ist verpflichtet zu bauen. Das Angebot, einmalig 35 000 Euro und (198 mal) jährlich 900 Euro Zinsen pro Parzelle zu zahlen, erforderte keine Finanzierung durch Banken. So bildete sich über Kollegen-, Familien- und Kundenbeziehungen innerhalb kürzester Zeit eine Gruppe von Bauherren, die sich bis auf eine Ausnahme aus der Architektur- und Filmbranche rekrutiert. Das war 2005. Nach langwieriger Abstimmung mit Behörden, deren Monstranzen Berliner Traufhöhe und Erker heißen, waren die Häuser drei Jahre später endlich beziehbar.

Architekt Kai Hansen hat mit sechs Häusern die meisten Einheiten entworfen, drei stammen von XTH-Architekten, die übrigen sieben Häuser sind Einzelentwürfe. Ihren Zusammenhalt verdanken sie einer Gestaltungssatzung, die Höhen, Baulinien und Zulässigkeit von Vorbauten wie etwa Erker regelte. »Unser gemeinsames Anliegen war familienfreundliches Wohnen«, sagt Kai Hansen, und betont »Wir sind aber keine Baugruppe gewesen.« Nur die Errichtung des UG der südlichen Zeile wurde an einen Bauunternehmer vergeben, wie auch die privat zu erstellende Infrastruktur. Bis auf Haus Nr. 6 b, das aus kerngedämmten Betonfertigteilen konstruiert ist, sind die Häuser von Hansen verputzt – mal naturbelassen, mal durchgefärbt – und unterscheiden sich v. a. durch die Platzierung und Größe der Fenster.

Haus Nr. 6: Pure Materialien, introvertierte Räume

Hansens eigenes Haus dient, wie auch die meisten Nachbarhäuser, als Arbeits- und Wohnstätte gleichermaßen. Man betritt es von Norden über einen Steg, der einen Lichtschacht überbrückt. Auf dem schmalen Grundriss werden Funktionen wie Technikraum, Bäder, Küche und die gesamte Erschließung auf halber Breite und etwa zweidrittel Tiefe konzentriert, so dass die Aufenthaltsräume nach Süden die ganze Hausbreite einnehmen. Ein Gästeapartment im UG ist durch eine schmale Eisentreppe unabhängig zugänglich. Im EG liegt das Büro mit dem Besprechungsraum zum Garten, im 1. OG die Schlafräume und darüber der Wohn- und Essbereich. Ihm ist eine große Terrasse vorgelagert, von der aus der Dachgarten erschlossen wird.

Im Innern sind die Oberflächen überwiegend aus unbehandeltem Sichtbeton, weißem Putz, Holz und Naturstein. Im Kontrast zu der sich spröde gebenden Architektur erzeugen diese Materialien eine warme Atmosphäre, ihre Purität verleiht den Räumen trotz der großen Fensteröffnungen einen angenehm introvertierten Charakter.

Im Hinblick auf den sparsamen Umgang mit Energie wurde Hansens Haus als monolithische, hochdämmende Mauerwerkskonstruktion mit Sichtbetondecken aus Halbfertigteilen errichtet. Wie auch bei den übrigen Gebäuden (ausgenommen eines Passivhauses) kommt die für Heizung und Wasser benötigte Wärme aus dem Erdreich, mittels Wärmetauscher wird so auch im Sommer eine passive Kühlung der Innenräume ermöglicht. Ebenso wurden für alle Einheiten Zisternen vorgesehen, in denen Regenwasser gesammelt und zur Gartenbewässerung sowie als Brauchwasser genutzt wird.

Haus Nr. 5 d: Überraschend farbenfrohes Raumkontinuum

Die Lage in der Kurve hat Jens Ludloff und seine Frau Laura schon aus der Geometrie heraus zu spannungsvolleren Räumen angeregt als den unmittelbaren Nachbarn Hansen. Sie haben die Erschließung entlang einer Gebäudewand gelegt und die Funktionen auf die Nordseite konzentriert, wo das Haus am schmalsten ist. Dementsprechend ist hier die Fassade geschlossen, was durch eine homogene Bekleidung aus gebürstetem, durch den Auftrag von Eisenoxyd anthrazitfarbenen Fichtenholz unterstrichen wird, das selbst die Eingangstür überzieht. Konträr dazu ist die Südfassade des Stahlbetonskelettbaus vollständig verglast; die großzügige Öffnung setzt sich bis in den Schacht mit der Außentreppe ins Souterrain fort, wo sich das Büro befindet.

Alle Räume, auch der Wohnraum im obersten Geschoss, öffnen sich dem trapezoiden Grundstück folgend nach Süden, wodurch sie weit und großzügig wirken. Mit Lust an Inszenierung lassen die Ludloffs die Treppe vom EG bis in das 2. OG einläufig durchlaufen und überhöhen den Raum durch zwei Oberlichter aus Betonkanalringen und Farbflächen. Mit der »Treppenpromenade« als auch den Rundungen, einem freistehenden Raumkörper im EG, den eingebauten Möbeln im 2. OG sowie dem Wechsel von Sichtbeton und Holz haben sie Elemente von Le Corbusier spielerisch verarbeitet und damit den großen »Einraum« in ein überraschendes Raumkontinuum gegliedert.

Mehrwert

Die architektonische Qualität des Ensembles an der Bernauer Straße wird beim Blick von den Balkonen der Häuser von Hansen und Ludloff auf das südliche Nachbargrundstück schlagartig deutlich. Für diese konventionellen Gebäude war der Bauantrag, wie Jens Ludloff kopfschüttelnd berichtet, bereits gestellt worden, bevor der Architekt das Grundstück in Augenschein genommen hatte. Derlei Anonymität steht bei den Bauten an der Bernauer Straße die Zuneigung zum Eigenartigen gegenüber: Im Haus 7 b von Jörg Ebers etwa durchdringen Garten, Gebäude und Innenraum einander. Der raffinierte Raumplan ergibt eine sich von unten nach oben schraubende Zimmerfolge, die der Nutzung entsprechend Weite und Enge, Ausblick und Geborgenheit bietet. Oder das von seinen Nachbarn bereits vor der Fertigstellung ob seiner großen Glasflächen schon liebevoll »Aquarium« genannte Haus Nr. 8 b von XTH-Architekten.

Nischendasein auf Zeit

Bald werden Touristen allerdings die angrenzende Gedenkstätte bevölkern und die gegenwärtig überschaubare Intimität des Ensembles mit der urbanen Realität einer Großstadt konfrontieren. Die bislang locker geführte Nachbarschaft wird herausgefordert sein, die Passanten in den bescheidenden gemeinsamen Freiraum, den v. a. die Kinder bespielen, zu integrieren – oder aber die in den intimen Außenraum eindringenden Besucher in ihrer Neugierde zu stoppen.

In »Grundformen der europäischen Stadt« interpretierte der schweizerische Kunsthistoriker Joseph Gantner einst das durch Typisierung der Einzelhäuser geprägte Bath als das »natürliche Empfinden der gebildeten Schicht für Einfachheit«. So lässt sich auch der Typ Stadthaus in dem Ensemble an der Bernauer Straße, anders als die gestalterisch wirren Townhouses auf dem Friedrichswerder, dank pragmatischer und unpathetischer Konzepte neu deuten.

Angesichts steigender Grundstückspreise und mangelnder Bereitschaft zur Erbpacht bleibt die Form des eigenen Hauses ein singulärer Baustein im städtischen Leben, von dem man freilich wünscht, dass er auch in den Geschosswohnungsbau übersetzt wird. In der einst hinten versteckten Nische ist etwas Vorbildliches entstanden, das nach vorne gerückt werden sollte.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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