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TEC21 2011|38
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TEC21 2011|38
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Welt aus Rampen

Im Zürcher Balgristquartier haben Darlington Meier Architekten ein Erweiterungsgebäude für das bestehende Wohn- und Pflegeheim der Mathilde- Escher-Stiftung gebaut. Im Altbau und im villenartigen Neubau leben und arbeiten insgesamt 46 behinderte Jugendliche und junge Erwachsene in einer wohnlichen Atmosphäre.

16. September 2011 - Katinka Corts-Münzner
Seit 1911 befindet sich das Mathilde-Escher-Heim (MEH) in einer Villa an der Leggstrasse im Balgristquartier, unterhalb des Spitals. Mit der Zeit wurde das Heim zum modernen Schul- und Ausbildungsheim für normal- und schwächerbegabte Kinder und Jugendliche mit Muskelerkrankungen. Heute ist es darauf spezialisiert und gehört zu den weltweit führenden Institutionen bei der Betreuung von Duchenne-Betroffenen[1]. Dank grossen Fortschritten bei der Betreuung und Versorgung der Erkrankten wird mittlerweile eine durchschnittliche Lebenserwartung von 30 bis 35 Jahren erreicht. Das hat auch zur Folge, dass die Mathilde- Escher-Stiftung, die das Heim bereits in den Jahren 1988 bis 1990 saniert und erweitert hatte, 2006 erneut zu einem Architekturwettbewerb einlud und um Erweiterungsvarianten auf dem Areal bat. Der Neubau sollte zwei Wohngruppen und zehn Wohnstudios sowie Gemeinschafts- und Beschäftigungsräume, einen Mehrzweckraum und Büros für die Verwaltung aufnehmen. Darlington Meier Architekten aus Zürich schlugen in ihrem Siegerentwurf einen städtebaulich autarken, villenähnlichen Neubau vor, der mit dem Altbau eine funktionale Einheit bildet.

Zwei Villen im Park

Auf dem grossen Gelände des MEH befindet sich die alte Villa auf dem nördlichen Teil des Areals, im Süden der Anlage konnte der Neubau so eingefügt werden, dass ein grosser Teil des bestehenden Parks erhalten blieb und eine freie Sicht in die Landschaft möglich ist.

Vogt Landschaftsarchitekten gestalteten den Garten mit Terrassen, sodass die unterschiedlich hoch gelegenen Eingangsbereiche der beiden Gebäude auch im Aussenbereich rollstuhlgängig verbunden sind. Der Neubau nimmt das Thema der bestehenden Villa auf und lehnt sich in Grösse und Farbigkeit an sie an. Er beherbergt neben den öffentlichen Funktionen wie Administration und Beschäftigungsstätte im Erdgeschoss Wohnräume und Gemeinschaftsbereiche in den zwei Obergeschossen. Im Dachgeschoss befindet sich die Mehrzweckhalle, in der auch Rollstuhl-Unihockey gespielt wird.

Der halböffentliche Eingangsbereich im Südwesten empfängt sowohl die Bewohnerinnen und Bewohner des MEH als auch Tagesklienten. Das grosszügige und tiefe Foyer wird über Glasbausteine in der Decke – der Boden des darüberliegenden Innenhofs – natürlich beleuchtet. Neben Verwaltungsräumen, Garderoben, Wäscherei und Sanitäranlagen befindet sich hier auch die «Pixelwerkstatt», in der die Bewohner am Computer arbeiten und spielen können. Diese unterste Gebäudeebene ist über eine Rampe mit dem Niveau des Altbaus verbunden. Obwohl das Haus sehr kompakt gebaut ist, konnte dieser zum Garten verglaste Gang zwischen den Wohnvillen luftig und grosszügig gestaltet werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sowohl diesen witterungsgeschützten Bereich als auch den davorgelegenen asphaltierten Platz für Treffen und gemeinsame Aktivitäten nutzen. Im Altbau sind die Zimmer der älteren Bewohner untergebracht, die Wohnräume der Jugendlichen befinden sich in den zwei oberen Etagen des Neubaus.

Wohnen abseits des Spitals

In den Wohngeschossen gruppieren sich die einzelnen Zimmer um den als privateren Eingang fungierenden offenen Innenhof und sind nach Südosten und Südwesten ausgerichtet. Die angrenzenden Aufenthaltsflächen in den Gängen wirken dank dem einfallenden Tageslicht trotz grosser Gebäudetiefe hell und freundlich. In jedem Zimmer gibt es ein auf die Behinderung abgestimmtes Bad mit Dusche. Grosse Fenster mit niedriger Brüstung ermöglichen den rollstuhlfahrenden Bewohnerinnen und Bewohnern Ausblicke zur Stadt und zum See. Um die Pflege zu erleichtern und den Raum dennoch nicht ständig wie eine Krankenstation aussehen zu lassen, wurden die Schienen für eine eventuell notwendige Hebeanlage bereits in die Schalung eingelassen. Diese werden sonst – ob bereits gebraucht oder nicht – unter die Decke gehängt. Im Gebäudekern sind Aufzug, Personaltreppenhaus und das Pflegebad untergebracht, zudem gibt es ein «Schnupperzimmer» für zukünftige Bewohner.

Im davorliegenden Gemeinschaftsraum mit Terrasse gibt es eine Tee- und Aufwärmküche, grosse Tische mit Stühlen und eine Sofaecke. Die wenigen festen Einbauten sowie die für Therapiezwecke teilweise mobil gestaltete Küche lassen viel Bewegungsraum für die circa zwanzig Bewohnerinnen und Bewohner, die den Raum nutzen. «Erkennbares Entwurfsthema sollte die Wohnlichkeit und nicht die Behindertengängigkeit sein», sagt Mark Darlington. Das Gebäude sollte vielmehr genau auf die Bedürfnisse der heutigen Bewohner abgestimmt sein und dennoch spätere Veränderungen ermöglichen. Die vier Eckzimmer sind deshalb so konzipiert, dass sie auch zu Studios mit eigener Küche umgebaut werden könnten, falls selbstständige Menschen hier wohnen. Im Dachgeschoss, das sich nach Südwesten und zum Zürichsee hin orientiert, befindet sich ein stützenfreier Mehrzweckraum, der für heiminterne Veranstaltungen und als Sporthalle genutzt wird.

Eine Erschliessungsrampe führt bis ins oberste Geschoss, bei Bedarf sind die Räume auch über einen Aufzug erreichbar. Da sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Haus mit Elektrorollstühlen bewegen, konnte die Rampe in Absprache mit der Behindertenkommission und zugunsten eines kompakteren Volumens mit 12 % steiler gebaut werden, als es für Handrollstühle erlaubt wäre (6 %). Durch einen breiten Schlitz im Dach wird die Rampe über alle Geschosse vom Tageslicht erhellt. Im Dachgeschoss bietet sie hohe Aufenthaltsqualität, denn von hier aus öffnet sich ein weiter Blick in die Umgebung, und die Bewohner können die grossen Rampenflächen als Treffpunkt nutzen.

Materialien für die Wohnlichkeit

Normalerweise werden Räume wohnlich, wenn sie möbliert werden. Im Mathilde-Escher- Heim, in dem es nur wenige, eingebaute Möbel gibt, schaffen jedoch die eingesetzten Materialien diese Wohnlichkeit. Die ständige Befahrung mit Rollstühlen beansprucht das Haus und die darin verbauten Materialien stark, weshalb robuste Baustoffe, die auch Kollisionen, Kratzer und Gummispuren aushalten und überarbeitet oder gar gestrichen werden können, Verwendung fanden. Als Hauptbaumaterial für das Gebäude wählten die Architekten unverputzten, gelblichen Kalksandsteinbeton, der mit seinen gestockten Leibungsflächen warm und freundlich wirkt. Auch in den Böden findet sich der helle Kalksandstein als Zuschlagstoff für die Hartbeton-Terrazzo-Mischung wieder. Als farblicher Kontrast zum hellen und marmorierten Sichtbeton kamen drei Holzarten zum Einsatz: für alle Türen und Schreinerarbeiten das stark gezeichnete Holz der Braunkernesche als Furnier und für die Tür- und Fensterrahmen als konstruktives Massivholz feiner gemaserte und leicht grau lasierte Lärche und Eiche. Die Geländer im Gebäude und die Postfächer im Gangbereich wurden in ihrer Dimension von vornherein fest eingeplant, da später in den Erschliessungsräumen keine zusätzlichen Einbauten gemacht werden sollten. Um den Nutzern zusätzlichen Bewegungsraum zu garantieren, sind die ebenfalls mit Braunkerneschenfurnier belegten Postfächer bündig in die Wand eingelassen.

Die meisten Heim- und Krankenbauten sehen wie Spitäler aus und lassen Bewohnerinnen und Bewohnern die Krankheit stets recht bewusst sein. Darlington Meier Architekten wollten im MEH einen angenehmen Lebensraum schaffen, in dem bei Bedarf ohne grössere Umbauten alle Annehmlichkeiten einer Krankenpflegestation zur Verfügung gestellt werden können.

«Die Architektur sollte es schaffen, vor der Spitalrealität dem Bedürfnis der Bewohner nach schönem Wohnraum gerecht zu werden», so Darlington. In den drei Jahren Planungs- und Bauzeit habe das Architektenteam einen unkomplizierten Umgang mit den Bewohnern gelernt. «Die Jugendlichen, die hier leben, haben zwar eine schwere Krankheit, sind aber Teenager wie alle anderen.»


Anmerkungen:
[01] Heute sind mehr als dreissig degenerative Muskelerkrankungen bekannt. Die meist symmetrisch ausgebildeten Muskelschwächen, zu denen auch die Muskeldystrophie Typ Duchenne gehört, unterscheiden sich hinsichtlich der beginnenden Körperregion, des Erkrankungsalters und des Verlaufs. Zwar können die Symptome der Krankheit behandelt werden, diese ist jedoch nicht heilbar und verläuft letztlich tödlich. Das Mathilde-Escher-Heim zählt zu den weltweit führenden, auf Menschen mit Muskeldystrophie Typ Duchenne spezialisierten Institutionen. Weitere Informationen: www.muskelkrank.ch
[02] alle Zitate aus: Conrad Ferdinand Meyer: Mathilde Escher (1808–1875), ein Portrait. Sonderdruck aus Zürcher Taschenbuch für 1883
[03] Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege. Band 1908

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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