Zeitschrift

TEC21 2011|40
Konstruktion auf Zeit
TEC21 2011|40
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Höhenrausch in Linz

Ein Holzsteg führt über die Dächer von Linz in Österreich und eröffnet ungewohnte Blicke auf die Stadt. Kürzlich erweiterten die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann den Rundgang mit zwei Holzbrücken. Roh belassen und in ihrer Erscheinung an traditionelle Lehrgerüste erinnernd, zeigt sich die Holzkonstruktion als das, was sie ist: ein temporäres Bauwerk.

30. September 2011 - Clementine Hegner-van Rooden
Das japanische Architekturbüro Atelier Bow-Wow entwarf die Erschliessung der Dachlandschaft für die Kulturhauptstadt Linz 2009 (Abb. 1). Das Offene Kulturhaus des Landes Oberösterreich wollte damit unzugängliche Stadträume öffnen, sie mit Kunst bestücken und ungewöhnliche Blicke auf den Standort freigeben. Das Projekt war so erfolgreich, dass der verästelte Gehweg nun unter dem Namen «Höhenrausch.2» erweitert wurde: Zusätzliche Holzstege über die Dächer der Innenstadt und zwei spektakuläre Holzbrücken über einen tiefen Innenhof erschliessen einen neuen Rundgang. Die von den Ingenieuren von Conzett Bronzini Gartmann entwickelten Brückenkonstruktionen, die seit Mai 2011 begehbar sind, schliessen dabei nahtlos an das modulare Stegsystem des Ateliers Bow-Wow an.

Das Umfeld bestimmt das Konzept

Von weitem sichtbar klammern sich die beiden Holzbrücken an einen der beiden Türme der barocken Ursulinenkirche in der Innenstadt. Sie wurden in nur einer Woche aufgebaut. Die erste Brücke verbindet das Dach des Einkaufzentrums Passage mit dem Kirchturm (Abb. 1), die zweite Brücke führt wieder zurück aufs Dach des Warenhauses. Auf dieser Brücke öffnet sich der Blick in die Landstrasse, die Linzer Einkaufsmeile (Abb. 2).

So leichtfüssig sich die Konstruktionen in dieser urbanen Umgebung zeigen, so schwierig war es, sie in das komplexe Umfeld einzufügen. Ursprünglich dachte die Bauherrschaft an Hängebrücken, doch die Ingenieure wollten das Tragwerk an die Bedingungen vor Ort anpassen. Diese ergaben sich aus der engmaschigen Anordnung der umliegenden Bauwerke, der Substanz der bestehenden Gebäude und des Kirchgemäuers sowie den Anliegen der betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner. Diese Einschränkungen waren so präzise vorgegeben, dass sich das Tragwerk aus ihnen heraus definierte – eine andere Lösung wäre gemäss den Ingenieuren nicht möglich gewesen. Vor allem die Lagerung der Brücken bestimmte das Tragwerkskonzept: Die Konstruktion im Bestand abzustützen und zu verankern, war geometrisch anspruchsvoll. Die Vermessungsarbeiten vor Ort schufen wichtige Grundlagen, sodass Neues nur wenige Zentimeter von Altem getrennt aufgerichtet werden konnte. Die Lagerungs- und Verankerungsanschlüsse sollten zudem reversibel angefertigt werden. Nach dem Rückbau in anderthalb Jahren wird nichts mehr sichtbar sein.

Spreng- und Stützwerk betten sich in die Dachlandschaft

Eine Brücke wurde als Stützwerk, die andere als Sprengwerk ausgebildet. Auf diese Weise konnten die wenigen Lagerungsmöglichkeiten genutzt werden und die vielen Stellen, wo eine Lastabtragung unmöglich oder zumindest fraglich war, unberührt bleiben. So ist das Stützwerk vom Dach des Einkaufszentrums zur Ursulinenkirche ein etwa 25 m hoher Pfeiler, von dem aus der Gehweg auf zwei Seiten auskragt. Die Brückenenden drücken praktisch nicht auf das Kaufhaus bzw. auf die Kirche – so wird die bestehende Bausubstanz von ungewünschten Zugkräften verschont und dennoch als Halterung gegen horizontale Kräfte wie zum Beispiel Windeinwirkungen genutzt.

Tragkonstruktion des Stützwerks

Der Gehweg des Stützwerks ruht auf einem 8° längs geneigten, 22.4 m weit gespannten, in regelmässigen Abständen aufgeständerten Brettschichtholzträger, der mit einem Längsträger aus Vollholz schubfest verbunden ist (Abb. 6 und 8). Dieser Brückenträger dient der seitlichen Stabilisierung und ist auf der Seite des Kirchturms horizontal und vertikal über eine Plattformkonstruktion gelagert – eine Übergangskonstruktion, die die Auflagerkräfte aus den beiden Brücken und dem aus dem Glockenturm auskragenden Balkon gleichmässig in die Kirchturmmauern einleitet (Abb. 5). Auf der Seite des Einkaufszentrums ist der Brückenträger auf Stahlschuhen gelagert, die die Horizontallasten quer zur Brücke in die bestehende Decke einleiten, sie aber vertikal praktisch nicht belasten. Der Brückenpfeiler ist als Fächertragwerk ausgebildet und besteht aus zwei Teilen: Fächerung und Stützturm. Die Fächerung aus Streben und Andreaskreuzdiagonalen fängt den geneigten Brückenträger auf und hält die Geländerpfosten. Der Stützenturm besteht aus vier Fachwerkebenen. In Querrichtung setzt er sich aus zwei Böcken (räumliche Fachwerke) mit 24 m durchschnittlicher Höhe und 4 m Breite zusammen; in Brückenlängsrichtung ist er aus zwei 24 m hohen und 4 m breiten Fachwerken zusammengestellt. Der Turm lagert auf vier Stahlschuhen, die in vorfabrizierten, seitlich im Boden gehaltenen Betonsockeln verankert sind (Abb. 9). Das Gewicht der Betonsockel gewährleistet eine begrenzte vertikale Einspannung des Turms.

Tragkonstruktion des Sprengwerks

Der Querschnitt des Sprengwerkgehwegs ist der gleiche wie derjenige des Stützwerks (Abb. 8). Die Sprengwerkpfeiler (Abb. 7) bestehen aus in Querrichtung steifen, bis 12 m hohen und 5.4 m breiten Böcken, die mit unterschiedlicher Neigung den Brettschichtholzträger auffangen und die Geländerpfosten halten. Auf der Terrasse des Einkaufszentrums stehen die Böcke auf zwei Stahlschuhen, welche die horizontalen und vertikalen Kräfte in die bestehende Attikadecke einleiten. Ausserdem fängt der Brettschichtholzträger hier die Anschlussbrücke auskragend auf (Abb. 2). Die Böcke auf der Seite des Kirchturms sind speziell gelagert: Die beiden Pfeilerfüsse stehen nicht auf dem Turmgesimse – es ist zu schwach –, sondern hängen an zwei 10.6 m langen Zugstangen (Abb. 4). Diese ziehen die vertikalen Zugkräfte vor dem Auflager bis auf die obere Kante des Kirchturmfensters hinauf und leiten sie dort in die Plattformkonstruktion ein. Die zwei Konsolen aus Brettschichtholz bei den Pfeilerfüssen sorgen dafür, dass das System nicht schaukelt. Sie leiten die horizontalen Druckkräfte über eine Aufstandsfläche von 500 × 500 mm in die Kirchturmwände.

Assoziation zwischen Temporärem Bauwerk und Gerüst

Die Nutzungsdauer von nur anderthalb Jahren war wegweisend für Planung und Ausführung. Die Ingenieure mussten nicht in der gleichen Weise auf die Dauerhaftigkeit achten wie bei einer bleibenden Holzbrücke. Es war kein schützendes Holzdach notwendig, man musste die Bauteile nicht auswechselbar planen oder darauf bedacht sein, dass die Konstruktion jederzeit ohne Hilfskonstruktionen ergänzt werden kann.

Jede Brückenkonstruktion beinhaltet nur einen verleimten Holzträger. Alle anderen Hölzer sind aus Fichten-Vollholz und können somit weiterverwendet werden. Der Einsatz von Vollholz hat gemäss den Ingenieuren zu einer gerüstähnlichen Konstruktion geführt. Sie erinnert an die Lehrgerüste, wie sie Richard Coray[1] Anfang des 20. Jahrhunderts konstruiert hat. Diese waren ebenfalls nur für eine begrenzte Zeit installiert und einfach zu demontieren.

Aus einem anderen Blickwinkel sehen

Die Stege bleiben den Besuchern und Besucherinnen bis Ende 2012 erhalten – gerade dieses Temporäre macht den Reiz des Bauwerks aus. Es erweitert die Wahrnehmung des Standortes, lässt ungewohnte Blicke in alle Himmelsrichtungen zu, rückt Details in die Nähe, die sonst weit weg und unerreichbar sind. Der Glockenturm der Ursulinenkirche, von unten klein, wirkt oben auf der Brücke gross. Die Dachlandschaft zeigt sich plötzlich in ungewohnter Schärfe. Dieser Wechsel von Massstab und Perspektive wirkt unmittelbar auf die Besucherinnen und Besucher. Ihn spürbar zu machen, war die Absicht der Bauherrschaft. Das funktioniert nicht zuletzt auch für die Ingenieurkonstruktion selber. So zeigen der Holzsteg und die beiden Brücken an diesem ungewöhnlichen Ort Details so anschaulich, wie es sonst selten zu sehen ist. Das macht den Rundgang zu einem Lehrpfad für Statik und konstruktive Lösungen.


Anmerkung:
[01] Richard Coray (1869 bis 1946) war ein Schweizer Zimmermann und Gerüstbauer. Seine Lehrgerüste ermöglichten den Bau weit gespannter Brücken aus Beton (vgl. Lehrgerüst der Salginatobelbrücke) und gelten als technische und handwerkliche Meisterwerke

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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