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anthos 2011/4
Poesie
anthos 2011/4
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Die Ferne des Gartens

«Es ist eingefaltet der Ordnung die Wildnis. Der Vernunft das Undenkbare, dem Wort das Unaussprechliche.» Botho Strauss

29. November 2011 - Albert Kirchengast
Mag sein, die Wirksamkeit von Poesie liegt im Kontrast von Formstrenge und eröffnetem Horizont. Der Konstruktcharakter gebundener Rede, des in die Zeile gebogenen Wortes, das auf andere Zeilen verweist, das in einem gereimten oder ungereimten Netzwerk eingespannt ist – erscheint notwendig, damit das einzelne Wort aus der Zeile brechen kann, leuchtet, zum Symbol wird und schliesslich zu einem Ganzen beiträgt: «immerdar möge mein herz den kleinen vögeln / offenstehen denn sie sind das geheimnis des lebens / was sie auch singen ist besser als wissen / wenn menschen sie nicht mehr hören dann sind sie alt»[1], meint E. E. Cummings in Versen, die nicht für «meisteleute» seien. Doch die Erfahrung teilen wohl alle: vom Verweischarakter des Vogelsangs, wenn wir uns nur auf ihn einlassen. Auch Vögel sind Transformatoren der Wirklichkeit: Poiesis, das Hervorbringen.

Strenge und Ausschweifung

Diese Doppelnatur aus Strenge und Ausschweifung liegt auch dem Garten zugrunde, in dem Cummings Vogel singt; dem eingezäunt, umfriedet-umflechteten Ort. Selbstverständlich waren es pragmatische Erwägungen, die die karge Krume mit Steinmauern haben zusammenhalten lassen gegen Abtragung durch Wind und Wasser. Zur Sommerneige statten so manchen noch Reiseeindrücke von Mittelmeerinseln mit ihrer historischen Gegenwart erster Gärten aus. Dort hat elementare Praxis kleine steinerne Bezirke hervorgebracht. Archetypen[2] der Nutzniessung und doch auch Symbole. Innerhalb ihres Gevierts herrscht Fruchtbarkeit und Ordnung. Der Zyklus der Natur dient, ob durch Zier oder Fruchtgenuss. Sie transzendieren indes den Funktionszusammenhang des Alltäglichen, können sich zur fremden Natur steigern. Natur, das sind wir ja selbst; unser Körper, der sich meldet, gleich morgens mit Hunger und irgendwann mit Schmerzen.

Das ist vertraut. Natur ist fremd, wo sie über puren Physikalismus,[3] die strenge Nutzbarkeit der Beete, hinaus weist – als ästhetische Erscheinung, der wir «Modernen» immer wieder mit Staunen begegnen.[4]

Garten als Vermittler

Es ist nicht die biologistisch-szientistische Wirklichkeit, in der Düfte, Blütenspektakel und Wuchsüppigkeit nur durch schieres Überleben sich erklären – die Evolutionsnatur. Es ist diese ästhetisch erlebte Natur, die auf ein Reich der Freiheit hinweist. «Herausgehen aus der Natur findet nur statt, wo Natur als sie selbst erinnert wird. Die Grundbedeutung des Wortes Kultur ist Ackerbau, Pflege eben jener Natur, aus welcher Kultur befreit. (…) Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichtes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akte des Seinlassens»,[5] so Robert Spaemann.

Gärten handeln ja immer von der Natur, vermitteln sie.[6] Der Garten, Ort gesteigerter Nutzbarkeit und zugleich poetischen Seinlassens, ist daher ein Januskopf und die poetische Freisetzung aus Naturwüchsigkeit der basso continuo aufgeklärter Naturästhetik.

Darauf verweist auch Immanuel Kants geflügeltes Wort von der Schönheit als «Zweckmässigkeit ohne Zweck». Wiederum mit den Vögeln gesprochen: «Selbst der Gesang der Vögel, den wir unter keine musikalische Regel bringen können, scheint mehr Freiheit (…) zu enthalten, als selbst ein menschlicher Gesang, der nach allen Regeln der Tonkunst geführt wird (…)».[7]

Der Garten konnte nun aber nicht geschätzt werden, solange sein Jenseits unbekannt blieb, seine Grenze nicht bewusst war; bevor nicht das Böse, malum – der Apfel – zu Erkenntnis geführt hatte. «Um Hüter zu werden, hätten sie zunächst einmal Gärtner werden müssen. Erst dadurch, dass sie den Garten Eden hinter sich liessen, konnten sie ihr Potenzial verwirklichen, Pflanzer und Schenker zu werden und nicht mehr nur Konsumenten und Empfänger zu sein»,[8] meint Robert Harrison. Er erzählt uns freilich nur eine Paradiesgeschichte; das reale ästhetische Erlebnis eines im Zwielicht liegenden, duftenden Gartens kommt und geht in Eile. Die poetische, aus ihrem Nutzungszusammenhang entführte Natur scheint zu haben nur im Zeichen ihres Verlusts. Doch die Grenze, die ja im Wort Garten selbst steckt, kann als ihr symbolischer Ausdruck gelten. Der hortus conclusus hat seine Verweisstruktur in der Ummauerung präsent. Dieter Kienast inszeniert diese Grenze in einem Garten am Uetliberg.

Sehnsuchtsort Arkadien

Über die Beschaffenheit Arkadiens, eines gebirgigen Landstrichs im Zentrum des Peloponnes, herrschen meist grobe Missverständnisse. Das Land nährte in der Antike kaum ein paar Schafherden. Kein griechischer Dichter lässt seine literarischen Schäfchen dort weiden. Daher – «et ego in Arcadia» – ist Arkadien der Ort, an dem auch der Tod, das Fremde, präsent war.[9] Mit dem sichelförmigen Schattenwurf der Hirtenhand auf dem berühmten Poussinschen Gemälde entsteht durch den Sonnenstrahl aus der Ferne das Bedrohliche, während indessen der Blick bei Zürich von der Gartengrenze zu den fernen Alpen gleitet.[10] Eine Mahnung, die den Stein am Gemälde zum Grabstein wandelt; ein aus Beton gegossener Schriftzug im Garten, an der Grenze von Kultur zur Wildnis: «Auch ich war in Arkadien geboren, / Auch mir hat die Natur / An meiner Wiege Freude zugeschworen; / Auch ich war in Arkadien geboren, / Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur.»[11]

Fremd ist der schönen Natur ihr alltägliches Vernutztsein; fremd dem Garten die unbedachte Fülle der Worte, die nicht eingebettet ist in seine Form. Mit ihnen hat Dieter Kienast auf seinem zweiten Projektplan den Wald dargestellt – mit dem in die Zeichnung haufenweise kopierten Wort «wald»; dem Jenseits. Wenn der Garten aber ein Gedicht ist, dann wandelt seine Form Natur durch Natur in einen Jungbrunnen der Präsenz.12 Seine Grenze markiert den Rand zum Anderen, das sich ästhetisch im Garten immer wieder für uns ereignet.


Anmerkungen:
[01] E. E. Cummings: Gedichte, Ebenhausen 1958, o. S. Übertragen aus dem Englischen von Eva Hesse.
[02] Vgl. die Skizzen und Überlegungen in Charles W. Moore; William J. Mitchell; William Turnbull Jr.: The Poetics of Gardens, Cambridge/MA 1995, S. 26ff.
[03] In seiner Einteilung der Naturphilosophie fasst Mutschler die vollends naturwissenschaftlich erfasste Natur als «Nat / tot / szien». Sein lesenswerter Überblick über den leicht aus den Händen gleitenden Begriff: Hans-Dieter Mutschler: Naturphilosophie, Stuttgart 2002.
[04] Vgl. einen der letzten publizierten Versuche zu einer systematischen Ästhetik der Natur: Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt / Main 1991.
[05] Robert Spaemann: «Natur» (1973), in: Ders.: Philosophische Essays, Stuttgart 1994, S. 36ff.
[06] Mit Lucius Burckhardt: «Natur ist unsichtbar, aber: Gärten handeln immer von der Natur. Sie vermitteln das, was direkt nicht wahrgenommen werden kann, als Bild.» Lucius Burckhardt: «Natur ist unsichtbar» (1989), in: Ders.: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Kassel 1980, S. 49.
[07] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), Frankfurt / Main 1968, S. 163.
[08] Robert Harrison: Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen, München 2010, S. 25. So wäre die Geschichte einer Inversion zu erzählen. Der Garten, als den man sich auch das Paradies vorstellt, ist von einem gegenteiligen Streben geprägt: Die Erkenntnis, die Herrschaft über die Natur sichern sollte, hat den Menschen aus dem Paradies vertrieben und zu Bewusstsein gebracht. Doch es sind nur Dinge, die Namen tragen, über die er nun herrscht. Er kultiviert den Garten nun mitunter, um im ästhetischen Erleben wieder zu den Phänomen selbst zu gelangen.
[09] Vgl. Erwin Panofsky: «Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen» (1936), in: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002, S. 351ff.
[10] «Der Horizont als Grenzphänomen ist (…) für die Regulation der Absenz zuständig, kraft derer die Zeichen des von ihm umschlossenen Wahrnehmungsfeldes eine semantische Spannung erhalten (…).» Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/Main 1990, S. 8.
[11] So beginnt das Gedicht Resignation, von Friedrich Schiller im Jahr 1786 in der Zeitschrift Thalia veröffentlicht; auch ein Aufruf, nicht auf die Ewigkeit zu warten, sondern die Sinnlichkeit der Gegenwart zu würdigen – die uns die Ewigkeit geliehen hat.
[12] Eine Eloge auf die reale Gegenwart der Dinge schreibt George Steiner – eine Gegenwart, die das Poetische erst hervorrufe – wir treffen sie vielleicht auch im Garten, den wir hegen und pflegen, der uns dann aber auch «anschaut». George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München, Wien 1990.
[13] Pedro Meyer: «The Unmasking in the Square», 1981, aus: Naomi Rosenblum: A World History of Photography, New York 1984, S. 539.
[14] Harry Callahan: «Eleanor, Port Huron», 1954, aus: Naomi Rosenblum: A World History of Photography, New York 1984, S. 517.
[15] Christian Vogt, Fotografie des Gartens am Uetliberg, Zürich, von Dieter Kienast, 1989 (1. Projektplan), aus: Dieter Kienast: Gärten. Gardens, Basel 1997, S. 87.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

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