Zeitschrift

TEC21 2012|10
Der korrigierte Fluss
TEC21 2012|10
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Mit einer Insel ein neues Zentrum schaffen»

Wenige Projekte bieten die Gelegenheit, in einem so grossen Massstab in die Gestaltung der Landschaft einzugreifen wie bei der dritten Rhonekorrektion. Die Professur für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich hat zusammen mit Studierenden am Beispiel von Sion die Möglichkeiten für eine Stadtentwicklung am Rhoneufer untersucht. Ihre visionären Vorschläge sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Vor einem Jahr lancierten Sion und der Kanton Wallis einen Studienwettbewerb, bei dem die Frage im Zentrum steht, wie sich die Stadt besser mit dem Flussufer verknüpfen liesse.

2. März 2012 - Lukas Denzler
TEC21: Das Projekt, das Sie zusammen mit Studenten und Studentinnen der ETH Zürich erarbeitet haben, heisst ‹Sion-sur-Rhône›. Weshalb?
Christophe Girot: Die Kombination mit ‹sur› ist in der französischen Sprache üblich. Das steht für eine Stadt, die stolz bei einem Fluss steht. Den Namen des Flusses fügte man zu dem der Stadt hinzu; sehr viele Städte in Frankreich haben eine solche Bezeichnung, das hat Tradition. Nicht so im Wallis. ‹Sion-sur-Rhône› war eine Kreation unseres Teams. Sion flüchtete wegen der Hochwassergefahr und der Überschwemmungsgeschichte stets vor dem Fluss. Die Stadt wollte sich nie mit ihm assoziieren. Jeder Walliser hat irgendwann ­etwas an den Fluss verloren. Es gab eine echte Gefahr, und die erste Korrektion der Rhone ist 150 Jahre alt; sie kam mit der Eisenbahn und der Industrialisierung.

TEC21: Wie kam es, dass Sie mit Ihrem Team Sion als Untersuchungsobjekt auswählten? Was fasziniert Sie an Sion?
C. G.: Als wir uns vor einigen Jahren mit der Rhonemündung am Genfersee beschäftigten, lernten wir die Wasserbauingenieure des Kantons Wallis kennen. Diese haben uns eingeladen, zusammen mit Studierenden nach Sion zu kommen. Mit gemieteten Fahrrädern sind wir am Fluss entlang gefahren und stellten fest, wie schwierig und unbequem das ist, weil durchgehende Wege fehlen. Das hat bei den Studierenden, die hauptsächlich Architektur studierten, die Frage aufgeworfen: Wieso ist es nicht möglich, eine ganz einfache Flussuferpromenade zu schaffen? So etwas wie eine Allmende, etwas, das eine gemeinschaftliche Stimmung entlang des Flusses erzeugen würde.

TEC21: Damit wären wir bei der zentralen Frage, nämlich dem Verhältnis der Stadt Sion zu ihrem Fluss.
C. G.: Unsere Ergebnisse wurden in Sion auch ausgestellt. Dank den Visualisierungen ist es gelungen, viele Leute zu sensibilisieren. Geholfen hat, dass dies weder von einem Kommunikationsbüro noch von Investoren oder politischen Parteien organisiert worden war. Das Projekt und die Ausstellung haben ein gewisses Bewusstsein geweckt für diesen Fluss – ein Bewusstsein, das vorher nicht vorhanden war.

TEC21: Die Rhone war bisher gar nie ein Thema?
C. G.: Bisher stand stets die Überschwemmungsgefahr im Zentrum. Der Fluss ist kalt, sehr schnell und hat ein helles, gräuliches Blau. Und dann gibt es auch noch den Bach, der durch Sion fliesst, die Sionne. Diese wurde überdeckt; der Hauptplatz «Grand Pont» ist Teil dieser Überdeckung. Das war wie in den frühen Zähringerstädten, die die Gewässer für die Stadthygiene benutzt haben. Ich glaube, das war nicht bös gemeint. Im Gegenteil; die ­Flüsse im Mittelalter waren brutal, und die Menschen haben sie etwas zivilisiert. Auffallend ist, dass sich Industriequartiere und Arbeiterviertel nahe am Fluss befinden; das ärmste Wohnquartier liegt sogar unter dem Flussniveau. Dieses einseitige Verhältnis zum Wasser, das sich vor allem darin manifestiert, dass man die flussnahen Gebiete vorwiegend als negativen Raum betrachtet, sollte man überwinden.

TEC21: Und wie könnte das gehen?
C. G.: Die Hauptkonflikte im Wallis haben vor allem mit den Immobilienwerten zu tun: Die Herren wohnen an den Hügeln, die Armen unten am Fluss. Doch Sion wird wachsen und sich immer mehr zu einer Zentrumsstadt wandeln. Gleichzeitig sollte man die Stadt nicht an den Rändern ausdehnen und in die Hügel erweitern. Im Mittelalter war Sion weit weg von der Rhone, im 19. Jahrhundert noch immer dicht am Bergfuss, und jetzt sehen wir eine Entwicklung hin zum Fluss. Im Brennpunkt der Stadt, zwischen Bahnhof und Fluss, steht heute ein Quartier, das bis jetzt nie entwickelt worden ist. Hier müsste man ansetzen.

TEC21: Sie sehen an den Ufern der Rhone also eine grosse Chance für die Stadtentwicklung. Doch sprechen wir zunächst über die aktuellen Defizite der Stadt.
C. G.: Die Aussenquartiere sind schlecht mit dem Zentrum verbunden. Auch gibt es kaum Verbindungen zwischen den Stadtteilen auf der linken und der rechten Seite der Rhone. Es gibt zwar eine Fussgängerpassage etwas flussaufwärts, im Bereich des Bahnhofs quert aber nur die Autobahn den Fluss. Die beiden Teile der Stadt haben quasi nichts miteinander zu tun; der gesellschaftliche Austausch zwischen ihnen ist womöglich genauso gefährdet wie der ökologische Austausch. Ich finde es fatal, dass wir als Umweltplaner nicht mehr an die ­Menschen denken. Unsere Aufgabe wäre, nicht nur einen Naturaustausch, sondern auch ­einen Stadtaustausch zu schaffen. Die Leute benutzen die Autobahn, um von einem Ende der Stadt zum anderen zu kommen, alles ist extrem mechanisiert. Deshalb präsentierten wir ein «Fussgängerprojekt».

TEC21: Die Flussufer sollen also als öffentlicher Raum aufgewertet werden und es den Menschen ermöglichen, sich einfacher zu bewegen.
C. G.: Ja, vor allem soll es für Velofahrer und Fussgänger einfacher werden. Wir streben eine neue Qualität für das verlangsamte Leben an, eine Auseinandersetzung mit dem, was wir im Alltag erleben. Einen neuen grünen Streifen. Heute ist das wegen Eigentumsbarrieren und funktionalen Elementen wie der Autobahnbrücke nicht möglich. Einige Quartiere direkt an der Rhone befinden sich in einer paradoxen Situation: Der Fluss liegt zwar in Reichweite, doch die Bewohner blicken oft nur auf die Aussenflanke des Rhonedamms. Wir haben deshalb völlig andere Deiche entworfen. Die Höhe ist gleich wie heute, aber die Deiche funktionieren mehr als ein Landschaftsraum. Das erreichen wir mit flacheren Böschungen.

TEC21: An der Swissbau haben Sie kürzlich über den Central Park in New York gesprochen. Was können wir heute von solchen Beispielen lernen?
C. G.: Der Central Park ist ein sehr interessantes Beispiel. An der Stelle, wo der Park entstanden ist, befand sich ein verarmter und verseuchter Ort am Stadtrand. Frederick Law Olmsted, der massgeblich an der Schaffung des Parks beteiligt war und später in Harvard die Landschaftsarchitekturschule gegründet hat, war eigentlich Rechtsanwalt. Seine Vision war auch sein Argument. Olmsted sagte zu den Verantwortlichen der Stadtbehörde: Überlassen Sie mir dieses ganze Rechteck – und ich werde ihnen den wertvollsten Ort der Stadt schaffen; der Wert wird nur steigen. Und nach 150 Jahren kann man sagen, dass dies eingetroffen ist: Wenn man in ein Hotel geht und ein Zimmer mit Sicht auf den Park mietet, bezahlt man vier Mal so viel wie auf der vom Park abgewandten Seite.

TEC21: Doch was müssen wir heute tun, damit wir solche Grünräume schaffen können?
C. G.: In der Schweiz ist der demokratische Prozess eine grosse Herausforderung. Hierzulande sind die politischen Prozesse kompliziert, jeder hat Einspracherecht, man akzeptiert das als Grundpfeiler des Rechtssystems. Auch das Recht auf Eigentum gehört dazu. Wichtig erscheint mir aber Folgendes: Wenn die Menschen eine Vision sehen und daran glauben, kann man sie dafür gewinnen. Aber man muss schon eine gewisse Art der Überzeugung schaffen. Beispiele wie der Central Park sind für uns sehr wichtig. Es handelt sich dabei nicht um unberührte Natur auf dem Land, sondern um gestaltete Natur in der Stadt. In der Schweiz ist jedoch der Mythos des Heidilandes ein Problem, denn dieser bezieht sich auf ein verklärtes Landleben – und steht damit im Gegensatz zur Stadt.

TEC21: Zurück zu Sion. Wie lassen sich die wichtigsten Vorschläge des gemeinsam mit den Studierenden erarbeiteten Projektes zusammenfassen?
C. G.: Wir haben den Zonenplan und die Gefahrenkarte als Ausgangspunkt respektiert. ­Unsere Leitlinie: Oberhalb von Sion dient eine grosse Agrarfläche als Überschwemmungsgebiet, dann kommt das Stadtgebiet, und weiter unten wird der Fluss wieder mehr geöffnet. Wir wollten keine Stadterweiterung in die offenen Gebiete, dafür aber eine Stadtverdichtung in den bereits besiedelten Gebieten. Wir haben einerseits die naturnahen Elemente stärker gewichtet und vergrössert, andererseits aber auch die städtischen Elemente verstärkt. Mit einer neuen Flussinsel, die etwa so gross wäre wie die Flussinsel in Thun, soll zudem ein neues Zentrum geschaffen und entwickelt werden, und zwar in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs. Die Insel würde einen neuen Kernbereich schaffen, der weder zum besseren Teil der Stadt auf der rechten Seite noch zum ärmeren Teil auf der linken Seite gehört. Er würde eine eigene, neue Geschichte begründen und hoffentlich zu einer Verschweissung der beiden Seiten beitragen (siehe auch Titelbild auf Seite 13).

TEC21: Die Flussinsel mit den Uferpromenaden als künftiges Markenzeichen von Sion?
C. G.: Unbedingt. Sion sollte sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Und das können nicht ein Einkaufszentrum oder ein paar Tankstellen sein. Diese Insel wäre eine sehr grosse Aufgabe für die Stadtgestaltung.

TEC21: Die Studie kombiniere die topologische Präzision der Ingenieure mit der visionären Kreativität der Landschaftsarchitekten, schreiben Sie im Vorwort. Was meinen Sie damit?
C. G.: Für mich macht der Begriff Topologie sehr viel Sinn. Er wird vor allem in der Mathematik benützt; es geht hauptsächlich um die Berechnung von Flächen und wie Flächen miteinander verbunden sind. In der Architektur kann man von einer strukturellen Topologie sprechen. Das hat viel mit dem Generieren von neuen Ebenen zu tun. Und genau darum geht es auch in Sion. Wir beschäftigen uns mit Böden, mit der Umformung von Terrain, doch hinzu kommt eine Vision, also eine weitere Sinnebene. Wir haben die Spielregeln der Ingenieure übernommen und auch verstanden, aber in unserem Sinn transformiert. Im gesamten Prozess haben wir uns gegenseitig respektiert – und viel voneinander gelernt. Topologie ist auch die Lehre vom Ort, und unser Vorschlag mit der Insel hat die Ingenieure dann schon ziemlich verblüfft. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass so eine Insel geschaffen wird.

TEC21: Und wie reagierte man in Sion auf diese Vision?
C. G.: Mein Eindruck ist, dass es gegenüber der Stadtvision viel weniger Widerstände gab als gegenüber den Vorschlägen für die Bereiche ausserhalb des Siedlungsgebietes. Wir ­haben uns hauptsächlich auf die Stadtfrage fokussiert. Vielleicht beschäftigen wir uns später auch noch mit den offenen Bereichen und mit der Frage, wie auch dort ein Mehrwert geschaffen werden könnte. Wieso soll das Wallis nicht eine neue Qualität bezüglich seiner Landschaft bekommen und auch stolz darauf sein? Bis jetzt gibt es vor allem Industrie und eine funktionelle Agrarlandschaft. Doch das wäre dann eine weitere Stufe. Im städtischen Bereich ist der Vorschlag der Flussinsel gewiss ein interessantes Beispiel. Wenn Sion den Mut hat, diese ­Vision zu ­realisieren, dann wäre das eine Sensation.

TEC21: Welches sind die entscheidenden Faktoren dafür, dass so ein mutiges Projekt gelingen kann?
C. G.: Das ist eine schwierige Frage. In wirtschaftlich angespannten Zeiten fürchtet man Investitionen und denkt nur an Sicherheitsmassnahmen. Wir müssen wieder langfristig denken und genug Mut haben, einen guten Zukunftsplan zu erstellen. Ob das genügt, um eine Stadtbevölkerung zu überzeugen, ist eine andere Frage. Das braucht Zeit. Ich bin daher sehr erfreut, dass Sion vor einem Jahr einen Wettbewerb lanciert hat und die Ergebnisse unseres Projektes für diese städtebauliche Untersuchung als Referenz dienen (Kasten Seite 24).

TEC21: Immer mehr Menschen leben in Ballungsräumen. Somit stellt sich die Frage, wie es gelingt, die Natur in die Stadt zurückzubringen. Sehen Sie Erfolg versprechende Ansätze?
C. G.: Wir müssen versuchen, den Menschen ein besseres Gleichgewicht zwischen Natur und Stadt zu bieten. Was wir aber in den letzten 50 Jahren erreicht haben, ist nicht sehr ­befriedigend. Es gibt zwei Sichtweisen der Ökologie. Die eine ist durch ein absolutistisches Naturverständnis charakterisiert, schliesst den Menschen also aus. Ich vertrete hingegen die andere Richtung, die Ökologie zuerst als eine Frage der Erziehung, der Ausbildung und der Aufmerksamkeit der Bevölkerung gegenüber der Natur sieht. Ökologie kann nicht nur mit Verboten einhergehen. Die Umweltmenschen – und ich zähle mich zu ihnen – sollten versuchen, sich den Stadtmenschen anzunähern und sich mit ihnen zu verständigen. Für mich ist das der einzige Weg. Viele Menschen haben den Kontakt zur Natur in ihrer Umgebung völlig verloren. Gleichzeitig fahren sie aber jedes Wochenende ins Grüne. Wieso schaffen wir nicht vor Ort eine bessere Umgebung? Voltaire hat gesagt: «Il faut cultiver son jardin.» – Man muss die Lebensqualität vor der eigenen Türe schaffen.


[Christophe Girot ist Professor am Institut für Landschaftsarchitektur des Departementes Architektur an der ETH Zürich sowie praktizierender Landschaftsarchitekt in Zürich und Paris.]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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