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TEC21 2012|17
Durchmesserlinie 1
TEC21 2012|17
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Ein Bekenntnis zum Öffentlichen Verkehr»

Mit der Durchmesserlinie in Zürich verkürzen sich die Fahrzeiten auf der West- Ost-Achse des Schweizer Schienennetzes, und die Kapazität des Hauptbahnhofs Zürich wird um etwa ein Drittel erhöht. TEC 21 sprach mit Roland Kobel, dem Gesamtprojektleiter der Durchmessserlinie, über die besonderen Herausforderungen dieses Infrastrukturprojekts.

TEC21: Grosse Infrastrukturprojekte haben oft eine lange Planungsgeschichte. Bei der Durchmesserlinie dürfte dies nicht anders gewesen sein.

Roland Kobel: So ist es. In den späten 1990er-Jahren waren unter dem Projektnamen «Fil Rouge» zur Kapazitätserhöhung Richtung Oerlikon zwei zusätzliche Gleise entlang der bestehenden Doppelspur geplant. Diese sollten vom Hauptbahnhof über den Wipkinger Viadukt Richtung Oerlikon führen. Gegenüber der heutigen Lösung mit dem Durchgangsbahnhof und dem Weinbergtunnel wäre diese Variante kostengünstiger gewesen. Doch aufgrund der absehbaren Frequenzerhöhung und den damit verbundenen Immissionen haben sich die Bewohner und Bewohnerinnen der Zürcher Stadtkreise 4 und 5 gewehrt. Zunächst war es eine Bürgerbewegung, später hat auch die Stadt Zürich von der Seite der Befürworter auf die Seite der Gegner gewechselt. Die Verantwortlichen erkannten, dass man den «Fil Rouge» nicht ohne massiven Widerstand hätte bauen können. Dies führte zu einem Umdenken und zur Suche nach akzeptierbaren Lösungen.

TEC21: Und eine Lösung wurde auch gefunden. Wie sieht die Linienführung aus?

R. K.: Das Projekt der Durchmesserlinie umfasst vier Abschnitte: Die Strecke vom Bahnhof Altstetten bis zur Langstrasse mit zwei Brücken für Fernverkehrszüge, den unter dem Hauptbahnhof liegenden, viergleisigen Durchgangsbahnhof Löwenstrasse, den rund 5 km langen Weinbergtunnel und schliesslich den Abschnitt in Oerlikon (Abb. 1). Viel Spielraum für eine kreative Linienführung hatten wir nicht. Die Niveauhöhe war vorgegeben, da die neue Strecke den unter dem Bahnhof bestehenden, aber ungenutzten Stadttunnel, einer Vorinvestition für die innerstädtische Autobahnverbindung, unterqueren musste. Abtauchen kann sie allerdings erst, nachdem die Strassenunterführung Langstrasse überquert ist. Im Hauptbahnhof war klar, dass die Gleise am Südrand des bestehenden Gleisfelds liegen, denn der Nordrand ist bereits durch den S-Bahnhof Museumstrasse belegt, und eine Anordnung in der Mitte hätte die Kapazität des ganzen Bahnhofs eingeschränkt. Weiter führt die Strecke unter der Limmat hindurch und muss dann weiter fallen, um den Hirschengrabentunnel der S-Bahn 5 m unter dessen Sohle zu unterqueren. In Oerlikon kommt sie schliesslich wieder an die Oberfläche (Abb. 3).

TEC21: Wann fiel der Entscheid, die Durchmesserlinie in dieser Form zu bauen?

R. K.: Die rund 10 km lange Neubaustrecke, von der 60 % unter Tage verlaufen, wurde 2001 von den politischen Gremien beschlossen und dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Das Projekt wurde mit 82 % Ja-Stimmen angenommen. In der Folge wurden das Vor-, Auflage- und Bauprojekt erarbeitet. 2006 schrieben wir die Arbeiten aus, und im September 2007 begannen wir zu bauen.

TEC21: Wie ist die Finanzierung bei diesem Projekt geregelt?

R. K.: Die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund, Kanton Zürich und SBB kam erst 2008 zustande. Das hat seine Ursache im Inkrafttreten des Infrastrukturgesetzes 2008. 2001 waren nur der Kanton Zürich und die SBB als Besteller der Durchmesserlinie aufgetreten. 2008 kam der Bund hinzu. Die nicht gesicherte Finanzierung war bei Baubeginn denn auch einer der Kritikpunkte. Das Projekt der Durchmesserlinie wurde im Rahmen der Finanzierungsverhandlungen 2008 auf Wunsch des Kantons Zürich um den Bahnhofausbau Oerlikon mit den Gleisen 7 und 8 erweitert. Mit dem Ausbau Oerlikon kostet das Projekt 2.031 Mrd. Franken (Preisbasis 2005). Der zeitlich koordinierte Bau der Durchmesserlinie und der zwei neuen Gleise in Oerlikon ist sinnvoll, denn durch diese Synergien lassen sich rund 40 Mio. Franken einsparen. Der rasche Baubeginn ist übrigens dem Kanton Zürich zu verdanken. Der Infrastrukturfonds trat erst am 1. Januar 2008 in Kraft und hatte auch nicht sofort Geld zur Verfügung. Der Kanton Zürich hat sich deshalb verpflichtet, die Vorfinanzierung des Bundesanteils bis zu einer Höhe von 500 Mio. Franken zu übernehmen. Die Zinskosten gehen dabei zu seinen Lasten.[1] Im Wettstreit unter den Kantonen um die Realisierung von Infrastrukturprojekten wurde Zürich deshalb vorgeworfen, es sei vorgeprescht.

TEC21: Aus Sicht der anderen Kantone ist dieser Vorwurf nachvollziehbar.

R. K.: Die Durchmesserlinie ist ein Bekenntnis des Kantons Zürich zum öffentlichen Verkehr. Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) ist eine effiziente Organisation, die langfristig plant. Und der Kanton Zürich hat genügend Mittel für den öffentlichen Verkehr reserviert. Deshalb konnte er Mittel zur Vorfinanzierung zur Verfügung stellen, so dass die 2 Mrd. Franken jetzt in das Projekt Durchmesserlinie fliessen. Andere Kantone sind der Ansicht, dass auch ihre Projekte Unterstützung verdient hätten. Die Durchmesserlinie liegt zwar in Zürich, ihr Nutzen wird jedoch weit über den Kanton Zürich hinausreichen (vgl. Kasten). Von diesen überregionalen Vorteilen profitieren alle – es sind in erster Linie aber die Zürcher und Zürcherinnen, die die gegenwärtigen Immissionen der Bauarbeiten zu tragen haben und den für das Projekt benötigten Raum zur Verfügung stellen.

TEC21: Ist die Finanzierung heute sichergestellt?

R. K.: Die SBB und das Bundesamt für Verkehr (BAV) sind sich über den Umfang der Leistungsvereinbarung 2013 – 2016 einig. Aber das letzte Wort hat das eidgenössische Parlament, das über die Freigabe der Mittel dieses Jahr noch befinden muss.

TEC21: Das Projekt wird von mehreren Partnern finanziert. Wie spiegelt sich dies in der Projektorganisation wider?

R. K.: Besteller sind der Bund, vertreten durch das BAV, und der Kanton Zürich, vertreten durch die Volkswirtschaftsdirektion. Gemeinsam bilden sie die oberste politische Instanz. Die strategische Ebene auf der Bestellerseite, der so genannte Lenkungsausschuss, setzt sich zusammen aus Verantwortlichen der Division Infrastruktur der SBB, des ZVV, Stadt und Kanton Zürich und des BAV. Ersteller sind die SBB. Das Gesamtprojekt ist in vier Abschnitte aufgeteilt, die jeweils von einem Abschnittsleiter der SBB geführt werden. Ihm sind Ingenieur- und Planungsbüros sowie die Unternehmungen unterstellt. Je nach Bauphase wirken 500 bis 700 Personen im Projekt mit.

TEC21: Für ein Projekt dieser Grösse sind das relativ wenig Mitwirkende.

R. K.: Das hängt auch damit zusammen, dass es sich bei der Durchmesserlinie um eine innerstädtische Baustelle handelt. Wegen der Immissionen durch die Bauarbeiten sowie durch die Zulieferungen und Abtransporte können wir nicht rund um die Uhr arbeiten, sondern haben grundsätzlich eine Fünf-Tage-Woche, einen Ein-Schicht-Betrieb und arbeiten nur tagsüber. Ausnahmen gibt es im Gleisbereich, dort sind wir auf verkehrsarme Zeiten angewiesen oder im Tunnel, wo im Zwei- bis Dreischicht-Betrieb gearbeitet wird.

TEC21: Wirken sich diese Rahmenbedingungen auf die Termin- und Kostenplanung aus?

R. K.: Ja, aber auch andere Parameter waren relevant. Beispielsweise musste das Ausbruchmaterial des Weinbergtunnels umweltverträglich per Bahn zur Deponie transportiert werden. Die einzige Möglichkeit für den Abtransport war der Bahnhof Oerlikon. Dort verkehren pro Tag 800 Züge, und aus Kapazitätsgründen konnten wir nur sieben zusätzliche Züge pro Tag unterbringen, was 7000 t Ausbruchmaterial entspricht. Basierend auf dem Tunnelquerschnitt und dem Gewicht des auszubrechenden Molassefelses haben wir eine transportbedingte Ausbruchleistung von rund 15 m pro Tag errechnet. Diese Kapazitätsbegrenzung hatte finanziell aber durchaus positive Auswirkungen, denn eine Planung für die Maximalleistung ist selten die wirtschaftlichste.

TEC21: Gab es neben diesen Einschränkungen weitere planerische Herausforderungen?

R. K.: Im Dezember 2006 verfügte das BAV in der Plangenehmigung, dass der Abstand zwischen den Notausgängen im Weinbergtunnel halbiert werden müsse. Wir hatten alle 1000 m einen vorgesehen; heute sind die acht Notausgänge jeweils weniger als 500 m voneinander entfernt. Zunächst wollten wir am ursprünglichen Projekt festhalten. Im Herbst 2007 disku-tierten wir mit dem zuständigen Unternehmen über die Mehrkosten und die Bauzeitverlängerung. Entscheidend für die Ausarbeitung einer neuen Variante war die Aussage des Unternehmers, er würde sicher ein halbes Jahr länger brauchen. Er hatte bereits früher eine Variante mit parallelem Flucht- und Rettungsstollen angeboten. Diese kam wieder ins Spiel – und wird nun auch realisiert (Abb. 5 6). Diese Bestellungsänderung bedeutete, dass nicht nur das Projekt umgearbeitet, sondern vor allem auch durch das BAV neu bewilligt werden musste. Und das dauert in der Regel rund ein Jahr. Um den Ablauf zu beschleunigen, haben wir mit der Stadt Zürich vereinbart, dass wir das Projekt den Verantwortlichen vorstellen und allfällige Probleme direkt lösen. Dank diesem Vorgehen hatten wir in weniger als vier Monaten die Baubewilligung. Diese nachträgliche Bestellungsänderung hat natürlich Zusatzkosten verursacht; es gab aber keine zeitliche Verzögerung.

TEC21: Weshalb kam es zu dieser Verschärfung der Sicherheitsanforderungen?

R. K.: Die Normen und Standards, auf die sich die SBB stützte, sahen einen Abstand von 1000 m vor. Die Bewilligungsbehörde, das BAV, hat den Stand der Technik jedoch anders eingeschätzt. Aufgrund des Zeitdrucks waren ausführliche Diskussionen nicht möglich. Hätte man mehr Zeit gehabt, wäre wohl eine Expertengruppe gebildet worden. Sicherheitsfragen sind immer heikel. Sollte während des Betriebs etwas passieren, würde sich unweigerlich die Frage nach der Verantwortung stellen.

TEC21: Gab es während der Bauphase ebenfalls spezielle Ereignisse?

R. K.: Ja, die gab es, zum Beispiel bei den geologischen Verhältnissen. Sondierbohrungen zeigten im Raum Brunnenhof beim Bucheggplatz, dass die Felsoberkante örtlich bis 40 m tiefer verlief als andernorts. Das darüberliegende Lockermaterial war mit Grundwasser ge- sättigt. Um eine Überschwemmung des Tunnels zu verhindern, senkten wir den Grundwasserspiegel ab. So konnten wir diesen Abschnitt in trockener Bauweise durchfahren. Die gleiche Situation haben wir am Hauptbahnhof. Wir bauen dort nämlich unter dem natürlichen Grundwasserspiegel. Dieser wurde rund um den Bahnhof abgesenkt, damit wir im Trockenen bauen können («Bahnhof Löwenstrasse», S. 25).

TEC21: Bei der erwähnten Lockergesteinsmulde entschied man sich für eine Grundwasserabsenkung, während bei der Unterfahrung der Limmat die Tunnelbohrmaschine (TBM) umgebaut wurde.

R. K.: Im Raum Brunnenhof war die Grundwasserabsenkung die wirtschaftlichere Lösung, ein Umbau der TBM wäre aber auch möglich gewesen. Im Bereich der Limmat war klar, dass grundwassergesättigtes Lockergestein auftreten würde. Aus diesem Grund musste die Hartgestein-TBM auf Hydroschild-Vortrieb umgebaut werden. Das fand in den letzten Metern im Fels beim Central statt. Von dort hat man die restlichen 280 m im Lockergestein bis zum Bahnhof gebohrt.

TEC21: Konnte man hier von den Erfahrungen profitieren, die man beim Bau des Bahnhofs Museumstrasse in den 1980er-Jahren gemacht hat?

R. K.: Damals hat man die Limmat mit dem so genannten Gefrierverfahren unterquert. Dabei werden zuerst Gefrierlanzen gebohrt, in denen eine Kälteflüssigkeit zirkuliert, um den Boden zu gefrieren. Heute ist jedoch der kontinuierliche Vortrieb mit Hydroschild Stand der Technik. Die TBM bohrt sich durch das Gestein, und im Anschluss werden direkt wasserdichte Tübbinge eingebaut.

TEC21: Die Arbeiten finden in einem dicht bebauten Raum statt. Gab es unerwartete Schäden?

R. K.: An der Bausubstanz in der näheren Umgebung ergaben sich praktisch keine Schäden. Einzig in Oerlikon kam es zu Setzungen. Als Folge davon entstanden an einigen Häusern Risse, die wir jetzt reparieren müssen. Beim Hauptbahnhof werden Gebäude, Gleise und Baugrund durch ein System mit 40 Tachymetern und 4000 Messpunkten rund um die Uhr überwacht. Damit wird garantiert, dass Geländebewegungen rasch bemerkt werden (vgl. Kasten, S. 27). Unvorhergesehen und unangenehm war sicher die Sperrung des Bahnhofplatzes im April 2009.[2] Dass eine neue Maschine im Untergrund kaputt gehen könnte, damit hatte niemand gerechnet. Die dadurch verursachte Sperrung des Bahnhofsplatzes hat uns hingegen nicht unvorbereitet getroffen. Das für einen solchen Fall vorgesehene Ereignismanagementkonzept hat tadellos funktioniert.

TEC21: Die Arbeiten begannen 2007 – ab wann werden die Reisenden profitieren können?

R. K.: Der Bahnhof Löwenstrasse und der Weinbergtunnel werden Mitte 2014 eröffnet. Dann gilt ein neuer S-Bahn-Fahrplan zwischen dem linken Seeufer und Zürich-Nord. Nach der Eröffnung können die Gleise 51 bis 54 rückgebaut und die Brücken Richtung Altstetten angeschlossen werden. Damit kann auch der Fernverkehr in den Bahnhof Löwenstrasse gelenkt und die gesamte Durchmesserlinie Ende 2015 in Betrieb genommen werden.


Anmerkungen:
[01] Das Gespräch wurde am 13. Dezember 2011 geführt. Inzwischen beschlossen die Nachbarkantone und der Kanton Glarus, sich mit insgessamt 37 % an den Zinskosten zu beteiligen (SH 4 %, TG 3 %, SG 10 %, SZ 6 %, GL 1 %, ZG 5 %, AG 8 %)
[02] Im April 2009 blieb die TBM unter dem Bahnhofquai stecken. Sie wurde nicht geborgen. Alle umweltgefährdenden Stoffe wurden aus der TBM abgepumpt und entsorgt. Die Maschine selbst verbleibt an Ort und Stelle. Mit dieser Lösung haben sich die Fachleute für das sicherste Vorgehen entschieden, und stellen damit auch den Grundwasserschutz sicher. (Quelle: SBB, InfoMagazin zur Durchmesserlinie, 2011, Nr. 2)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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