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TEC21 2012|19
Berufsorganisationen
TEC21 2012|19
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Konsens in der Vielfalt

Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA ist 175 Jahre alt. Im internationalen Vergleich sind seine Interdisziplinarität hervorzuheben sowie die Tatsache, dass der SIA als privater Verein die Normen und Ordnungen des Bauwesens in der Schweiz erarbeitet. Heute konzentriert sich der Verband auf die Weiterentwicklung seiner Dienstleistungen und auf T hemen wie Raumplanung, Energie, Ausbildung, Marktzugang und auf die Förderung der Baukultur.

4. Mai 2012 - Christoph Wieser
Der SIA ist der führende Schweizer Fachverband in den Bereichen Bau, Technik und Umwelt und zählt derzeit rund 15 000 Mitglieder. Er ist älter als der schweizerische Bundesstaat und ähnlich kompliziert aufgebaut. Das Motto des Künstlers Ben Vautier, «La Suisse n’existe pas», mit dem 1992 der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla auf die Vielfältigkeit der Schweiz aufmerksam machte und dabei viele irritierte, gilt in analoger Weise für den SIA: Es gibt nicht einen, sondern viele SIA. Das Organigramm zeigt eine vielfach verflochtene Matrix-Struktur, die regional verankert und über das Generalsekretariat in Zürich zusammengehalten wird.

Umso erstaunlicher, dass die komplexe Organisation des Vereins auf der Webseite in einem Satz zusammengefasst werden kann: «Er ist föderalistisch aufgebaut und besteht aus dem Zentralverein SIA Schweiz, regional tätigen Sektionen sowie vier Berufsgruppen und den Fachvereinen, die den Austausch auf fachlicher Ebene fördern.» Während in den 18 Sektionen vornehmlich das Vereinsleben und Kontakte zu den lokalen Behörden gepflegt werden, sind die Berufsgruppen schweizweit tätig und stehen für die charakteristische Interdisziplinarität des SIA. Jedes Mitglied tritt sowohl einer Sektion als auch der passenden Berufsgruppe Architektur, Ingenieurbau, Technik / Industrie oder Boden / Wasser / Luft bei.

Die verschiedenen Disziplinen in einem gemeinsamen Verband zu vereinigen, ist ein ebenso wesentliches wie konfliktträchtiges Merkmal, an dem der Verein in den 1990er-Jahren beinahe zerbrochen wäre. Sie entspringt dem Wunsch der Gründerväter, Architekten und Ingenieure aller Richtungen in einem nationalen Verein zusammenzuschliessen mit dem einzigen Zweck, «die Beförderung von Kenntnissen in den Fächern der Architektur und Ingenieurwissenschaft durch Mitteilung gesammelter Erfahrungen und Beurteilung vorgelegter, in das Gebiet einschlagender Fragen»[1] voranzutreiben. Der fachliche Austausch war 1837, als der Verein in Aarau gegründet wurde, viel schwieriger als heute: Die ETH gab es noch nicht und kaum Fachzeitschriften; das Reisen mit Kutschen auf den schlecht ausgebauten Strassen und ohne Eisenbahn war beschwerlich. Weiterbildung ist bis heute ein wichtiges Anliegen des SIA geblieben.

Interdisziplinarität und Kooperation

Das Zusammengehen von Ingenieuren und Architekten führte die Tradition des Baumeisters als «Macher» weiter – im Gegensatz zum Typus des schöngeistigen Künstlerarchitekten, wie er in den damaligen französischen Beaux-Arts ausgebildet wurde. Das sich rasant entwickelnde Industriezeitalter brachte jedoch neue Rollenbilder mit sich. So waren in den 1860er-Jahren die Ingenieure viel dynamischer und einflussreicher als die Architekten, angetrieben vom Eisenbahnfieber, das die Schweiz etwas verspätet erreichte. Die interdisziplinäre und paritätische, nach Ausgleich und Einbezug aller Interessen suchende Haltung zeichnet den SIA bis heute aus. Sie erschwert zwar die Profilbildung ebenso wie die Führung des Vereins, entspricht aber dem hoch komplexen, vielerlei Einflüssen und Interessen ausgesetzten Bauwesen. Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums betonte der damalige Präsident, Paul G. Vischer, die Wichtigkeit des kooperativen Aspektes: «Die vielen technischen Einrichtungen in allen Bauwerken verlangen eine Zusammenwirkung aller daran Beteiligten.

Die Aufgabe des S.I.A. muss deshalb unbedingt bestehen bleiben, das gegenseitige Verständnis zwischen den Vertretern der Technik und der Baukunst aufrecht zu erhalten.»[2] Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg führte indes zu einer immer stärkeren Spezialisierung. Neue Modelle des Zusammenwirkens von Planern, Unternehmern und Auftraggebern – Stichwort Generalunternehmer – brachten das traditionelle Berufsbild erneut ins Wanken und veränderten das Selbstverständnis der einzelnen Akteure. Die angestammte Kontrolle über die Ausführung, die für die Qualität von Bauwerken entscheidend ist, drohte den Architekten zu entgleiten – eine Tendenz, die heute aktueller ist denn je. Die Überarbeitung der Honorarordnungen Mitte der 1980er-Jahre, die unter anderem eine modulartige Vergabe und eine von den Baukosten unabhängige Bestimmung des Honorars vorsah, führte innerhalb des SIA zu grossen Spannungen. Eine Abspaltung der Architekten konnte nur durch die Etablierung der Berufsgruppen verhindert werden, verankert im Jahr 2000 mittels Statutenrevision.

Standesfragen und Berufspolitik

Die Vertretung der Standesinteressen gegen aussen und die Berufspolitik spielen seit den 1870er-Jahren eine immer wichtigere Rolle. Gemäss § 1 der Statuten von 1877 bezweckte der Verein neu «die gegenseitigen Beziehungen unter Fachgenossen zu heben, das Studium der Baukunst nach ihrer wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Seite zu fördern, zur Wahrung und Hebung des Einflusses und der Achtung, welche technischen Berufszweigen gebühren, beizutragen und das Organ zu bilden, welches letztere bei Behörden und Privaten zu vertreten hat.»[3] Im Gegenzug mussten die Mitglieder bestimmte Pflichten einhalten und für qualitativ und ethisch hochstehende Standards eintreten. Dies ist der Grundgedanke der Standesordnung, die 1937 nach dreissigjähriger Vorarbeit eingeführt wurde.

Die Gründe, weshalb immer wieder an die Einhaltung der Regeln erinnert werden muss, sind vielfältig. Wiederkehrend ist der Hinweis auf den mangelnden Titelschutz, der auch «beruflich und moralisch unqualifizierten Technikern»[4] die Berufsausübung ermögliche. Solche Kollegen sollten vom SIA ferngehalten werden. Ein Mittel dazu ist bis heute die BeDien schränkung der Mitglieder auf die «höhere Technikerschaft», sprich akademisch gebildete Ingenieure und Architekten. Mit der Einführung des Registers REG wurde 1966 eine Möglichkeit geschaffen, qualifizierte Berufsleute ohne entsprechenden Abschluss aufzunehmen. Die stetige Ökonomisierung und die Verschärfung der Konkurrenz führen mitunter ebenfalls dazu, dass Standesregeln verletzt werden. Deshalb fordert der SIA von seinen Mitgliedern eine beispielhafte Berufsausübung und appelliert an die Eigenverantwortung; Verstösse können geahndet werden. Er hat auch schon früh damit begonnen, Normen und Ordnungen als Grundlagen für die Berufsausübung und Berufsethik festzulegen.

Normenwerk und Milizsystem

Die erste «Honorar-Ordnung für architektonische Arbeiten» erschien 1877 zusammen mit den «Grundsätzen für das Verfahren bei architektonischen Wettbewerben»[5], zwei Ordnungen, die – mehrfach überarbeit und jeweils auf den aktuellen Stand gebracht – bis heute von herausragender Bedeutung sind. 1883 wurde das «Normalformat für künstliche Bausteine (Backsteine)»[6] festgelegt. Die technischen Normen des SIA sind in der Schweiz zentrale Berufsinstrumente: Sie stehen als Garanten für Qualität und vereinfachen die Planung und Herstellung von Bauwerken. Die Festlegung von Grenzwerten erhöhte unter anderem auch die Sicherheit und Gebrauchstauglichkeit von Gebäuden, was für Planer wie Auftraggeber von grossem Nutzen ist. Der Vertrieb der Normen, Ordnungen, Empfehlungen und Richtlinien bildet heute nach den Mitgliederbeiträgen die wichtigste Einnahmequelle des Vereins. Bei Gerichtsfällen werden sie als Abbild der aktuellen Regeln der Baukunde herangezogen. Das Normenwerk ist wohl der entscheidendste Beitrag des SIA und trägt bis heute wesentlich zu dessen Bekanntheitsgrad bei.[7] Die Normen und Ordnungen des SIA werden nach wie vor in zahlreichen Kommissionen erarbeitet, mehrheitlich im Milizsystem und unterstützt vom Generalsekretariat.

Im Unterschied zu vielen Ländern, etwa jenen der Europäischen Union, werden die Normen und Ordnungen des Bauwesens in der Schweiz seit jeher massgebend vom SIA und damit von privater Seite erarbeitet. Der SIA hat sich den Auftrag dazu selbst gegeben, und Behörden aller Stufen profitieren von dieser historisch gewachsenen Situation.

Die Volontariatsarbeit und die paritätisch zusammengesetzten Kommissionen des SIA haben den Vorteil, dass die Anliegen verschiedenster Fachrichtungen und Interessengruppen direkt und von Beginn an einfliessen können. Im Unterschied zu gesetzlichen Bestimmungen lassen sich Normen leichter ändern; die Flexibilität ist damit höher, was Innovation und eine stetige Weiterentwicklung begünstigt. Doch die Freiwilligenarbeit stösst zusehends an ihre Grenzen, die Themen werden komplexer, europäische Einflüsse sind zu integrieren, die Bearbeitungszeit nimmt zu. Zudem sind die Wege innerhalb des Vereins lang und die Entscheidungsfindung häufig träge.

175 Jahre und die Zukunft

Eine Optimierung steht zurzeit im Bereich der Organisationsstruktur des Vereins an. Während die Direktion des SIA in Zukunft noch mehr die strategische Führung wahrnehmen soll, obliegt dem Generalsekretariat unter Leitung des Generalsekretärs oder der Generalsekretärin die Besorgung der laufenden Geschäfte, eine Arbeit, die stetig zunimmt und anspruchsvoller wird.

Heute stehen neben der Weiterentwicklung und Pflege des Normenwesens und weiterer Dienstleistungen des SIA vor allem Energie- und Ausbildungsfragen, die Raumplanung, der Marktzugang und die Förderung einer hochstehenden Baukultur im Vordergrund. Letzteres umso mehr, als der Bundesrat in seiner Kulturbotschaft für die kommenden Jahre das Bauen nur aus denkmalpflegerischer Warte betrachtet, zeitgenössische Architektur und Ingenieurbaukunst aber weiterhin ausklammert. Hier bringt sich der SIA verstärkt ein. So etwa über den von ihm initiierten Runden Tisch für Baukultur[8], die Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi»[9], mit der Werke prämiert werden, die als Vorreiter einer zukunftsfähigen Entwicklung angesehen werden können, oder über die «Woche der zeitgenössischen Architektur und Ingenieurbaukunst 15n», während der SIA-Fachleute ihre Bauwerke dem interessierten Publikum öffnen. Die Aufgaben des SIA bleiben auch nach 175 Jahren bestehen; sein Engagement für seine Mitglieder und das «Bauwerk Schweiz» geht weiter.


Anmerkungen:
[01] Hans Nef: «Vereinsgeschichte» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «100 Jahre SIA 1837–1937». Orell Füssli, Zürich, 1937, S. 145
[02] Paul G. Vischer: «Aufgaben vom Tage» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «100 Jahre SIA 1837–1937». Orell Füssli, Zürich, 1937, S. 204
[03] Wie Anm. 1, S. 156
[04] Wie Anm. 1, S. 162
[05] Alfred Hässig: «Vorschriften und Normalien» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «100 Jahre SIA 1837–1937». Orell Füssli, Zürich, 1937, S. 179
[06] Wie Anm. 1, S. 158
[07] Max Portmann: «Das technische Normenwerk des SIA» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «1837–1987 SIA». SIA, Zürich, 1987, S. 55
[08] www.sia.ch/de/aktuelles/detailansicht/article/manifest-zur-baukultur/
[09] TEC21-Dossiers Januar 2007 und März 2011

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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