Zeitschrift

TEC21 2012|21
Die Rennbahn retten
TEC21 2012|21
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ein Oval aus Stahlbeton

Vor hundert Jahren entstand die offene Rennbahn Oerlikon als elegante und schlanke Stahlbetonstruktur, weil sich die ursprünglich projektierte Ausführung in Stampfbeton nicht realisieren liess. In fünf Monaten wurde die Anlage mit ihrer geneigten, steilen Fahrbahn und filigranen Bindern errichtet. Dabei betraten die Ausführenden bei den Belastungsannahmen und den Berechnungen, aber auch beim Betonbau immer wieder Neuland.

18. Mai 2012 - Martin Grether
Weil die Zürcher Radrennbahn in der Hardau im Jahr 1911 einer Kiesgrube weichen musste, wurde für das Austragen der damals äusserst beliebten Radrennen umgehend ein Ersatzbau in der Gemeinde Oerlikon projektiert.1 In noch weitgehend unbebautem und landwirtschaftlichem Umfeld konnte ein Baugelände erworben werden, das allerdings in einem leicht sumpfigen Bereich lag (der heutige Kühriedweg verweist auf die damalige Situation). Beim Neubau stützten sich die Promotoren auf ein Projekt des im Entwurf von Radrennbahnen erfahrenen Architekten Richard Ludwig aus Leipzig. Dieser sah eine Konstruktion vor, bei der eine auf Dammschüttungen aufgebrachte Schicht aus Stampfbeton die Fahrbahn bildete. Damit liess sich die komplizierte Geometrie mit ihren steilen Kurven relativ einfach erstellen. Zudem war die Fahrbahn bei dieser Ausführung nur den bescheidenen Druckkräften der Rennräder ausgesetzt. Bald stellte sich indes heraus, dass diese Konstruktion zu aufwendig und zu unsicher war. Denn aufgrund des ebenen Geländes hätte sehr viel Schüttmaterial über zu weite Strecken herbeigeführt werden müssen, was hohe Kosten bedingt hätte. Die angestrebte kurze Bauzeit – der Bau begann im März, die Eröffnung war für Mitte Juli 1912 geplant – hätte zudem für die Konsolidation der Schüttungen nicht ausgereicht, sodass erhebliche Setzungen und damit Beschädigungen der Fahrbahn zu befürchten waren. So entschloss man sich auf Rat von E. Rathgeb, Chefingenieur der Berliner Firma Wayss & Freitag, eine Konstruktion in Stahlbeton zu errichten. Diese sollte nur teilweise auf dem Terrain, vor allem aber auf sicher fundierten Bindern ruhen. Die Bodenuntersuchung stützte diesen Entscheid, ergab sie doch, dass die Versumpfung nur oberflächlicher Natur und das anstehende Material bereits auf rund zwei Metern Tiefe standfest genug war.

Das Fahrtempo bestimmt die Geometrie

Die 1912 gebaute Radrennbahn ist 333.33 m lang, sodass drei Runden einem Kilometer entsprechen. Sie weist eine 9 m breite Fahrbahn auf und setzt sich aus zwei gut 36 m langen Geraden, zwei kreisbogenförmigen Kurven und vier Übergangsbereichen zusammen. Aufgrund der hohen Fahrgeschwindigkeiten, die sich mit den immer leichter gewordenen Fahrrädern erzielen liessen, mussten die Kurven so gestaltet werden, dass die Zentrifugalkraft möglichst senkrecht zur Fahrbahn wirkte, damit die Fahrer nicht zu treten aufhören mussten oder aus der Kurve getrieben wurden. Ludwig berechnete mit einer mittleren Geschwindigkeit von 50km/h und einer maximalen von 90km/h in einem Raster von 2 m Kantenlänge die Lage jedes Rasterpunkts der Bahn. Daraus ergaben sich die Geometrie der Kurven sowie die maximalen Überhöhungen des äusseren gegenüber dem inneren Fahrbahnrand von über 6 m. Das hätte in der Kurve zu einer sehr hohen Aussenkante und im Übergangsbereich zu einer zu starken Steigung geführt. Daher wurden auch die geraden Fahrbahnteile mit einem Quergefälle von rund 10° ausgeführt und zusätzlich die Innenkanten der Bahn in den Kurvenbereichen um fast 1 m abgesenkt.

In konstruktiver Hinsicht ruht die Fahrbahn zum grössten Teil auf Bindern, nur ein kurzer Abschnitt liegt direkt auf dem Terrain auf. Ursprünglich hätten wenigstens die Übergangsbereiche auf Dammschüttungen ruhen sollen, was sich angesichts der schlechten Qualität des Aushubs vor Ort aber verbot. So wurden auch diese auf Bindern erstellt, die auf dem tragfähigen Untergrund in rund 2 m Tiefe fussen. Die Binder bestehen aus einem Zweigelenkrahmen, der dem Quergefälle der Fahrbahn entsprechend geneigt ist. In den Kurvenbereichen nehmen Neigung und Höhe dieser Bogen sukzessive zu; zudem wird die Konstruktion in den Kurven im ihrem oberen Knoten noch um einen Kragarm ergänzt, der die dreistufigen Kurventribünen trägt (unten rechts auf Abb. 1).

Belastungsannahmen selbst entwickelt

1912 gab es keine Normen, denen man die gesuchten Lastannahmen hätte entnehmen können. Das ausführende Zürcher Unternehmen Sander & Co., das auch für die Statik verantwortlich zeichnete, musste daher die zutreffenden Überlegungen selber anstellen. Deren Oberingenieur Jaro Polivka berücksichtigte als ständige Lasten das Eigengewicht, Schnee- und Windlasten sowie im Bereich der Kurventribünen mit ihren Sitzplätzen eine Nutzlast von 300kg/m2. Zur Ermittlung der Verkehrslasten betrachtete er die schwersten Fahrzeuge, die Motorräder der Steher-Rennen, bei denen ein Motorrad dem Radfahrer vorausfährt und für Windschatten sorgt. Ein Motorrad mit Lenker setzte er mit 200 kg ein, wobei er diese Last zur Berücksichtigung der dynamischen Beanspruchung mit dem Faktor 1.5 multiplizierte. Ferner nahm er an, dass nicht mehr als drei Fahrzeuge gleichzeitig denselben Bahnquerschnitt passieren konnten. Da sich in den Kurven zur vertikalen Komponente eine horizontale aus der Zentrifugalkraft addiert, war auch diese zu berücksichtigen, zumal sie mit zunehmender Geschwindigkeit und abnehmendem Kurvenradius steigt und eine beträchtliche Grösse erreicht. Aufgrund der von Ludwig definierten Geometrie wurde so die Geschwindigkeit ermittelt, bei der die Resultierende aus Eigengewicht und Zentrifugalkraft senkrecht zur Fahrbahnebene wirkte. Diese senkrecht wirkende Resultierende entsprach der maximalen Lastannahme pro Fahrzeug für die anschliessenden Berechnungen von Fahrbahnplatte und Bindern (vgl. den Beitrag von Jürg Conzett S. 23). Sicheres Betonieren der Steilwände

Am 6. April 1912 konnte bereits mit den Betonarbeiten begonnen werden. Dazu wurden die dreieckförmig aufragenden, nur 20cm breiten Binder fortlaufend geschalt, bewehrt und betoniert (Abb. 2–3). Die bloss 8 cm starke Fahrbahn bestand aus insgesamt zwölf durch Dilatationsfugen getrennten Abschnitten, die keine weiteren Betonierfugen aufweisen sollten. Daher wurden diese Abschnitte von je rund 350 m² Fläche stets in einer Etappe betoniert, was rund zehn Stunden in Anspruch nahm. Diese Arbeiten waren aber nicht nur in den flacheren Abschnitten zu erledigen, sondern auch in den steilen Kurvenbereichen, wo das Quergefälle bis zu 93% beträgt! Hier verwendete das Bauunternehmen eine Konterschalung aus jeweils 60cm breiten Bändern, die einen Abstand von 30cm unter sich aufwiesen. Durch diese Öffnungen wurde der Beton in die darunterliegenden 60cm eingebracht, bevor auch sie geschlossen wurden und die weitere Betonage durch die nächstobere Öffnung erfolgte. Damit entzogen sich jeweils nur höchstens 90cm breite Bereiche der direkten Kontrolle, was nicht nur für gute Resultate sorgte, sondern auch dasselbe Arbeitstempo wie in den flachen Bereichen zuliess. Um die für die hohen Tempi notwendige Ebenheit zu erzielen und unvermeidbare Unregelmässigkeiten bei der schwierigen Schalgeometrie auszugleichen, erhielt die Fahrbahn abschliessend einen rund 2.5cm dicken Zementüberzug.

Nicht rundum geglückte Instandsetzung

Wohl wurde Ende der 1920er-Jahre einmal über eine Überdachung der Rennbahn nachgedacht; das in unmittelbarer Nachbarschaft gebaute Hallenstadion bedeutete aber das Ende dieser Pläne. So blieb die Bahn mit ihren filigranen Bauteilen und nur sehr dünnen Bewehrungsüberdeckungen Wind und Wetter ausgesetzt, bis ihr Zustand so bedrohlich war, dass eine Instandsetzung unausweichlich wurde. Diese 1978 bis 1980 durchgeführten Arbeiten erfolgten aber in einer Zeit, in der nicht mehr das Material teuer war, sondern die Arbeitskosten. Daher lag der Fokus der Arbeiten auch nicht auf der Beibehaltung der filigranen Struktur. Die bestehende Fahrbahn wurde als verlorene Schalung für die neue, darauf aufbetonierte Fahrbahn verwendet, und die höheren Nutzlasten wurden aus den Aufbauten mit Ausfachungen der Zweigelenkrahmen und zusätzlich angebrachten Stahlstützen aufgenommen. Weil die neue Fahrbahnoberfläche aufgrund eines ungeeigneten Bauvorgangs zu grosse Unebenheiten aufwies, erhielt die Rennbahn Oerlikon gleich anschliessend sogar noch einen dritten, den heutigen Belag. Und doch: Wer die Bahn von oben betrachtet, den schlägt ihr Oval ungebrochen in Bann, und wie vor hundert Jahren beeindruckt die Steilheit der Kurven. Wer sich indes für die ursprüngliche, an- und auch durchaus wagemutige Tragstruktur interessiert, wird derzeit leider nur an wenigen Stellen fündig.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: