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TEC21 2012|23
3500 Meter über Meer
TEC21 2012|23
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Der Weg zur Jungfraubahn

In diesem Jahr feiert die Schweizer Tourismusindustrie das 100-jährige Bestehen der Jungfraubahn. Die Idee dazu entstand im 19. Jahrhundert, als der Bau von Bergbahnen in der Schweiz eine Blütezeit erlebte und ehrgeizige Projekte die Spitzen der Alpen anvisierten. Meist blieb es jedoch beim Projekt. Der pragmatische Ansatz von Adolf Guyer-Zeller, der auf dem Joch und nicht auf dem Gipfel endete, konnte aber bis 1912 realisiert werden.

1. Juni 2012 - Aldo Rota
Schon 1859 hatte der mit Bundesrat Jakob Stämpfli befreundete Verkehrspolitiker Friedrich Seiler in Interlaken (1808–1883), Hotelier, erfinderischer Industrieller und Nationalrat, eine von Lauterbrunnen ausgehende pneumatische Jungfraubahn projektiert. Er propagierte die in England zur Anwendung gelangten pneumatischen Eisenbahnen[1] für Alpentunnel mit starken Steigungen. Seiler erkannte frühzeitig die grossen Möglichkeiten der Nutzung der Wasserkraft. Dabei dachte er allerdings noch nicht an die Gewinnung von elektrischer Energie, sondern an die motorische Erzeugung von Druckluft.

Drahtseilbahnen als Vorläufer

Dreissig Jahre später wurden in der Öffentlichkeit drei Jungfraubahnprojekte heftig diskutiert. Als Erstes war im Oktober 1889 jenes von Maurice Koechlin eingereicht worden. Dieser Ingenieur war von 1879 bis 1940 im Büro Eiffel in Paris tätig und gilt heute als Konstrukteur des Eiffelturms. Koechlin plante eine 4.2km lange Fortsetzung der im Juli 1890 eröffneten meterspurigen Linie Interlaken–Lauterbrunnen und wollte die Spitze der Jungfrau aus dem hinteren Lauterbrunnental mit einer in fünf Sektionen gestaffelten, durch Wassergewicht betriebenen Drahtseilbahn oder mit einer durch mehrere Tunnel und Galerien führenden 5.5km langen elektrischen Zahnradbahn erreichen. Der Gipfel wäre von einem Felsenhotel und einem kleinen meteorologischen und astronomischen Observatorium gekrönt worden. Was der Eiffelturm für Paris geworden, das sollte die Jungfraubahn für das Berner Oberland werden. Das ebenfalls im Oktober 1889 vorgelegte Jungfraubahnprojekt des Aargauers Alexander Trautweiler, Sektionsingenieur der Brünigbahn in Luzern, sah mit Ausgangspunkt Stegmatten, 3km hinter Lauterbrunnen, vier insgesamt 6.5km lange Tunnelsektionen mit einer maximalen Steigung (1. Sektion) von 98 % vor. Die mit doppelten Lamellen-Zahnstangen als Bremse versehene Drahtseilbahn hätte die Besucher im Berginneren via Stellifluh–Schwarzmönch– Silberhorn in zwei Stunden zur 30 m unter dem Gipfel gelegenen Endstation und zum Kulmhotel Jungfrau transportiert. Die Motoren der Seiltrommeln sollten durch Druckluft angetrieben werden, die in der Talsohle mit Wasserkraft erzeugt und mittels einer im Tunnel verlaufenden Rohrleitung den einzelnen Antriebsstationen zugeführt worden wäre.

Ein Exot: Das pneumatische System Locher

Parallel zu den vergeblichen Bemühungen, die Projekte Koechlin und Trautweiler zu kombinieren, erschien im Mai 1890 als drittes Projekt für eine Jungfraubahn jenes des bedeutenden Zürcher Ingenieurs Eduard Locher, des Erbauers der Pilatusbahn (1885–1889). Bald darauf erklärte sich Koechlin mit Locher solidarisch und übernahm dessen Bahnsystem für sein Projekt. In einer Broschüre gab Locher eine kurze Beschreibung seines an Seilers Idee einer pneumatischen Jungfraubahn erinnernden «neuen patentierten Bahnsystems». Dieses ging von der Erkenntnis aus, dass «Dampflokomotivbetrieb wie am Rigi und Pilatus in langen Tunneln des Rauchs und des Geräuschs wegen von vorneherein ausgeschlossen» sei. Obwohl in der Schweiz schon einige Jahre zuvor eine Versuchsanlage für eine elektrisch betriebene Zahnradbahn erstellt worden war,[2] zog Locher erstaunlicherweise für die Jungfraubahn die Möglichkeit der elektrischen Traktion überhaupt nicht in Betracht.

Seine Bahn sollte aus einem zweiröhrigen Tunnel mit kreisförmigen Querschnitten von 3 m Durchmesser bestehen, der von der Talsohle hinter Lauterbrunnen direkt auf den Gipfel der Jungfrau geführt hätte (Abb. 4). In jeder Röhre war ein zylindrischer, mit 50 Sitzplätzen ausgestatteter Wagen von ca. 20 m Länge mit Eingängen an den Stirnseiten vorgesehen. Die acht Räder waren nicht unter dem Wagen, sondern je zu viert an den Stirnseiten angeordnet. Jede Tunnelröhre sollte mit drei Laufschienen, zwei unten und eine im Scheitel, ausgerüstet sein. Der Wagen wirkte, ähnlich wie bei einer Rohrpostanlage, als Kolben, der durch Druckluft aufwärts bewegt werden sollte.

Für die Erzeugung des Luftdrucks waren pro Röhre zwei in Serie geschaltete Zentrifugalventilatoren mit 6.5 m Durchmesser und einer Drehzahl von 310U/min vorgesehen, die eine Antriebsleistung von 2400PS erforderten. Da der Wagen auch ohne Gegendruck an jeder Stelle der Bahn sicher gebremst und festgehalten werden musste, kommt in der Projektbeschreibung der Regulierung des Luftdrucks und den auf die Schienen wirkenden Bremseinrichtungen besondere Bedeutung zu. Ohne die meterspurige Adhäsionsstrecke Lauterbrunnen–Stegmatten oder Stechelberg wäre die Tunnelbahn ca. 6km lang geworden, und die Fahrzeit hätte bei einer mittleren Geschwindigkeit von 7 m/s (ca. 25km/h) rund 15 Minuten betragen, sodass die Fahrt von Interlaken auf die Jungfrau etwa eine Stunde erfordert hätte.[3]

Vier damals führende Schweizer Maschinenbauunternehmen (Escher Wyss & Cie., SLM [Schweizer Lokomotiv- und Maschinenfabrik], MFO [Maschinenfabrik Oerlikon] und Gebrüder Sulzer) zögerten nicht, Machbarkeit und Zweckmässigkeit dieses auf dem europäischen Kontinent technisch isoliert dastehenden Systems und des ganzen Projekts zu bestätigen. Wie seinerzeit Seiler, wurde offenbar auch Locher von den 1865 in London und 1872 in New York nach dem gleichen Prinzip erbauten Untergrundbahnen inspiriert. Am 4. April 1891 erteilte das Eidgenössische Eisenbahndepartement Maurice Koechlin, dessen Gesuch am 15. Oktober 1889 eingereicht worden war, die Konzession für den Betrieb einer Eisenbahn auf die Jungfrau mit dem Bahnsystem von Eduard Locher. Auf das einige Tage später, vom 22. Oktober 1889, datierte Konzessionsgesuch von Alexander Trautweiler wurde nicht mehr eingetreten.

Ein realisierbares Projekt zeichnet sich ab

Offenbar gelang es Koechlin und Locher in der Folge nicht, die vorgeschriebenen Unterlagen fristgerecht einzureichen, sodass die Konzession für ihre Druckluftbahn 1893 hinfällig wurde. Die Nachfolge trat der Zürcher Grossindustrielle und Verkehrspolitiker Adolf Guyer-Zeller (1839–1899) an, der sich am 20. Dezember 1893 zuhanden einer zu bildenden Aktiengesellschaft um die Konzession «für den Bau und Betrieb einer Eisenbahn von der Kleinen Scheidegg über Eiger und Mönch auf den Gipfel der Jungfrau» bewarb.

Neu an diesem Projekt war, dass die im Juni 1893 erfolgte Eröffnung der Wengernalpbahn seinen Ausgangspunkt bildete und im Wesentlichen dessen Linienführung bestimmte. Aber ohne Guyer-Zellers Idee, die der Legende nach auf einer Bergtour im Berner Oberland entstand und den Entschluss zur Realisierung des Plans auslöste (Abb. 1 und 2), wäre es wohl beim Projekt geblieben. In seinem Konzessionsgesuch konnte Guyer-Zeller überzeugend darlegen, dass die Konkurrenzprojekte nicht realisierbar waren. In der durch Bundesbeschluss vom 21. Dezember 1894 erteilten Konzession verpflichtete er sich freiwillig zu einem einmaligen Beitrag von 100000Fr. und zu einem weiteren jährlichen Beitrag von 6000Fr. für die Anlage eines ständigen meteorologischen und anderweitigen «tellurisch-physikalischen Zwecken» dienenden Observatoriums auf Mönch oder Jungfrau.

Guyer-Zellers Jungfraubahn war von Anfang an als elektrisch betriebene Zahnradbahn projektiert. Für die letzte Strecke vom Endpunkt der Zahnradbahn bis auf den Gipfel der Jungfrau hatte er an einen ca. 100 m hohen Aufzug gedacht (Abb. 5). Für Strecken, die höher als die in ca. 3200mü.M. vorgesehene Station Eiger zu liegen kämen, wollte der Bundesrat die Genehmigung aber erst erteilen, wenn Bau und Betrieb nachweislich keine besonderen Gefahren für Leben und Gesundheit der Menschen nach sich ziehen. Zu diesem Zweck wurden 1894 diverse Gutachten, unter anderen von Ballonpionier Eduard Spelterini, erstellt.

Ein Ingenieurtraum wird realisiert

Am 27. Juli 1896 wurden die Arbeiten an der Teilstrecke Kleine Scheidegg–Eigergletscher in Angriff genommen. Die Betriebseröffnung fand am 20. September 1898 in Anwesenheit des Initianten, ein halbes Jahr vor seinem Tod, statt. Erst nach insgesamt 16 Jahren Bauzeit (Abb. 7 und 8), nach Überwindung naturbedingter, technischer und finanzieller Schwierigkeiten konnte am 16. August 1912 die letzte Teilstrecke Eismeer–Jungfraujoch dem Verkehr übergeben und damit auf 3454mü.M. die höchstgelegene Eisenbahnstation Europas und die höchstgelegene Zahnradbahnstation der Erde eröffnet werden. Die meterspurige Bahn ist mit der hier erstmals angewendeten Keilkopfzahnstange System Strub ausgerüstet (Abb. 9). Die 9.3km lange Jungfraubahn überwindet damit, bei einer Maximalsteigung von 250, einen Höhenunterschied von 1393 m; die Strecke zwischen der Station Eigergletscher (2320 m) und der Endstation Jungfraujoch verläuft in einem 7.1km langen Tunnel, der durch die Felsenfenster der Haltestellen Eigerwand (2864 m) und Eismeer (3158 m) grossartige Ausblicke gewährt. Als Betriebsenergie diente ursprünglich Drehstrom mit einer Frequenz von 40Hz und einer Spannung von 650V.[4] Die in den ersten Jahren verwendeten zweiachsigen Lokomotiven (Abb. 6) waren talseitig mit einem langen Personenwagen zusammengebaut, der nur am anderen Ende über Laufräder verfügte (Rowanzug).

Eine Bahn für Freizeit und Forschung

Mit der Vollendung der Strecke Eismeer–Jungfraujoch, die beträchtliche, alle Berechnungen übersteigende Mittel erfordert hatte, fand der Bau der Jungfraubahn sein Ende. Die Baukosten wurden auf ca. 15 Mio.Fr. beziffert, rund das Doppelte der von Guyer-Zeller ursprünglich veranschlagten Mittel. Abgesehen von den finanziellen und technischen Schwierigkeiten, mit denen bei einer Fortführung der Bahn zu rechnen gewesen wäre, erwies sich das Jungfraujoch mit seinen Ausblicken nach Nord und Süd und seinen alpinistischen und skisportlichen Möglichkeiten als touristische Attraktion und als gegebener Endpunkt der Bahn, auf dessen Ausgestaltung in der Folge grosse Anstrengungen verwendet wurden. Dank der Jungfraubahn sind die seit 1931 bestehende, für die Erforschung der kosmischen Strahlung wichtige internationale Hochalpine Forschungsstation Jungfraujoch und das seit 1937 auf 3573mü.M. errichtete Meteorologische Observatorium Jungfraujoch-Sphinx (1950 für astronomische Beobachtungen ausgebaut) ganzjährig zugänglich (vgl. S. 13).


[Der vorliegende historische Rückblick ist eine gekürzte und bearbeitete Fassung des von Roland Zehnder verfassten Kapitels «Zur Geschichte der Schweizerischen Bergbahnen. Die beiden höchstgelegenen Zahnradbahnen» aus: Ein Jahrhundert Schweizer Bahnen, Band V, Erster Teil: Die Bergbahnen, Verlag Huber&Co. Aktiengesellschaft, Frauenfeld, 1964, S. 22 ff. Mit freundlicher Genehmigung von Orell Füssli Verlag AG, Zürich.]


Anmerkungen:
[01] Pneumatisch betriebene, sog. Atmosphärische Eisenbahnen um 1900 sind u.a. beschrieben in: www.bahnportal.at/html/96357408.htm oder www.mybrunel.co.uk/railways/atmospheric/
[02] 1884 durch René Thury auf einer 50 m langen Versuchsstrecke in Territet, oberhalb von Schloss Chillon am Fuss der Rochers de Naye gelegen
[03] Eine vergleichbar direkte und schnelle unterirdische Verbindung (Lift) vom Lauterbrunnental zum Jungfraujoch ist Anfang 2008 vorgestellt, wegen der hohen Kosten aber nicht weiterverfolgt worden
[04] Die Frequenz der Stromversorgung ist 1960 von 40 Hz auf den in Europa gebräuchlichen Wert 50 Hz umgestellt worden, später wurde auch die Spannung auf 1125 V erhöht. Das Drehstromsystem, das eine zweipolige Fahrleitung erfordert, ist bis heute beibehalten worden

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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