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TEC21 2012|25
IBA Hamburg
TEC21 2012|25
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Den Hinterhof aufmöbeln

2013 wird die Internationale Bauausstellung (IBA) im Hamburger Stadtviertel Wilhelmsburg dem Publikum präsentiert. Mit insgesamt 60 Projekten soll der bisher vernachlässigte «Hinterhof» auf der Elbinsel entwickelt ­werden. Wie bei keiner IBA zuvor versucht man in Hamburg das Planungs­instrument IBA mit sozialer und energetischer Nachhaltigkeit zu verbinden. Insgesamt werden 1200 neue Wohnungen geschaffen. Wie viele eingesessene Bewohner auf den neuen Weg mitgenommen werden, wird sich weisen.

15. Juni 2012 - Alexander Felix
Wäre Hamburg 2003 mit seiner Olympia-Bewerbung nicht schon an der innerdeutschen Konkurrenz gescheitert, würden die Olympischen Spiele am 27. Juli 2012 wohl in einem neuen Leichtathletikstadion im Stadtteil Wilhelmsburg gegenüber der Elbphilharmonie eröffnet werden. Stattdessen planten die Verantwortlichen der Stadt, 2013 in Wilhelmsburg eine Internationale Gartenschau (igs) zu veranstalten.

Da aber Bedenken darüber bestanden, ob diese Veranstaltung alleine genügen würde, um die Probleme des lange Jahre als «Hinterhof» vernachlässigten Stadtviertels in den Griff zu bekommen, entschied der Senat der Hanse­stadt 2005, zusätzlich eine Internationale Bauausstellung (IBA) zu veranstalten
(vgl. Kasten S. 20). Der Stadtteil Wilhelmsburg ist der flächenmässig grösste Hamburgs und liegt südlich der Innenstadt auf der grössten Flussinsel Europas zwischen zwei Elbarmen – der Norder- und der Süderelbe (Abb. 1). Auf etwa 35 km2 befinden sich neben weitläufigen ­Arealen des Hamburger Hafens grosse Industriegebiete.

Ausserdem wohnen rund 55 000 Menschen auf der Insel mitten im Grossraum Hamburg. Über weite Flächen hat sich Wilhelmsburg aber einen eher dörflichen Charakter bewahrt.

Entwicklung der Elbinseln

Ursprünglich bestand die Insel aus einem Archipel von gut zwei Dutzend Inselchen, von denen nur eine – das heutige Quartier Kirchdorf – ganzjährig bewohnt war. Durch Eindeichungen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts haben Generationen von Marschbauern die heutige Insel geschaffen. An die ursprüngliche, von Ebbe und Flut geprägte Tide-Auen-Landschaft erinnert heute nur das Naturschutzgebiet Heuckenlock im Südosten.

Durch die Nähe zum Stückguthafen war das Gebiet über lange Zeit eine bevorzugte Wohngegend für einfache Hafenarbeiter. Bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts setzte nach Ankunft eines Bananenfrachters eine kleine Völkerwanderung Richtung Hafen ein, da zur Entladung viele Hände gebraucht wurden.

Bei der Sturmflut von 1962 war Wilhelmsburg das am stärksten betroffene Gebiet. Deiche im Norden der Insel brachen, sodass weite bebaute Gebiete überschwemmt und die Menschen in ihren Häusern eingeschlossen wurden. 200 der 315 Toten in Hamburg wurden in Wilhelms­burg gezählt. In der Folge verstärkte sich eine Diskussion, die seit den 1920er-Jahren geführt wurde: Der westliche Inselteil sollte dem Hafen zugeschlagen und für den Wohnungsbau ganz aufgegeben werden. 1967 beschloss der Hamburger Senat, die Bewohner in neu zu bauende Grosssiedlungen weiter östlich auf der Insel zu übersiedeln. Der Plan wurde ­allerdings nur ansatzweise umgesetzt. Eine Folge der geplanten Aufgabe war ein verstärkter Wegzug des Mittelstandes. Hinzu kam der Strukturwandel im Hafen: Durch die Entwicklung hin zum Containerverkehr wurden immer weniger Arbeiter benötigt, sodass in Wilhelmsburg eine Abwärtsspirale aus Arbeitslosigkeit und Armut entstand.

Sprung über die Elbe

Im Gegensatz zur Konversion der Hafenanlagen auf dem gegenüberliegenden Elbufer zur HafenCity verfolgen die Verantwortlichen der IBA eine Stadtumbaustrategie: Bei der Entwicklung des verhältnismässig kleinen Gebiets der HafenCity wurden ehemalige Industrieflächen komplett umgewandelt, alte Nutzungen entfernt oder verlagert und die freigeräumte Fläche zur Bebauung an Investoren verkauft. Ziel der Strategie in Wilhelmsburg hingegen ist laut Uli Hellweg, Geschäftsführer der IBA Hamburg (vgl. Kasten), ein behutsamer Stadtumbau, der die vorhandenen Infrastrukturen und Menschen berücksichtigt. Dabei geht es um eine nachhaltige Innenentwicklung Hamburgs, die an zentralen, aber unterentwickelten Orten, den sogenannten inneren Peripherien, ansetzt und so die wenigen noch vorhandenen innerstädtischen Entwicklungspotenziale nutzt.

Anstelle von akupunkturartigen Stadtverbesserungsmassnahmen wie jenen der IBA in Berlin 1984 oder der Separationsstrategie der Moderne setzt die IBA Hamburg auf eine integrierte Planung der Nutzungsmischung und eine enge Verwebung verschiedener Massnahmen. Ein punktuelles Vorgehen könne, laut Hellweg, die Probleme heute nicht mehr lösen, sondern es seien wie in der klassischen Moderne grossflächige, strategische Planungen nötig. Allerdings nicht mehr als Erweiterung vor der Stadt, die neue suburbane Peripherien schaffe, sondern als Entwicklung einer ökologischen Moderne – wie es Hellweg formuliert –, die grossmassstäblich innerhalb der bestehenden Stadt Probleme löse.

Zu Beginn der IBA-Planungen wurden diese Ansätze zu drei Leitthemen verdichtet, die im Mittelpunkt der Planungen, Prozesse und Dialoge stehen:
– Kosmopolis: Auf soziokultureller Ebene soll die IBA zeigen, welchen Gewinn eine inter­nationale Stadtbevölkerung für eine Metropole bedeuten kann, wenn nach neuen Wegen des Zusammenlebens gesucht wird.
– Metrozonen: Auf der Ebene des Städtebaus soll die IBA demonstrieren, wie «innere Peripherien» (Infrastrukturen und Industrieareale) zu mehrschichtig attraktiven Orten entwickelt werden können.
– Stadt im Klimawandel: Hier soll vorgeführt werden, wie eine Stadt wachsen kann und die Umwelt und das Klima dennoch möglichst wenig belastet werden. Ausserdem soll die IBA zeigen, wie eine Stadt am Wasser den Folgen des Klimawandels begegnen kann (vgl. S. 27).

Die Umsetzung der Leitthemen erfolgt von der kleineren Elbinsel Veddel im Norden über ganz Wilhelmsburg verteilt bis in den Harburger Binnenhafen im Süden. Dieser Beitrag
fokussiert auf die zwei unterschiedlichen Schwerpunkte Reiherstiegviertel und neue Mitte Wilhelmsburg (Abb. 2).

Umbau im Reiherstiegviertel

Das Reiherstiegviertel (Abb. 3) westlich der Reichsstrasse – und damit nach 1962 zur Aufgabe vorgesehen – ist ein Quartier, dessen Bevölkerung einen sehr hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund aufweist: durchschnittlich 55 %, unter Jugendlichen sogar über 70 %. Im Quartier wohnen Menschen aus über 70 Ländern, und das Strassenbild bietet eine bunte Mischung – vom türkischen Bäcker über afrikanische Läden bis zum portugiesischen Fischlokal. Aus den Zuwanderern von gestern sind die Ladenbesitzer von heute geworden – und die Pensionierten von morgen. Hier setzt das Projekt Veringeck an: Die Altenpflegeeinrichtung hat sich auf die Bedürfnisse von türkischstämmigen Wilhelmsburgern spezialisiert und bietet eine ambulante Tagespflege, seniorengerechte Wohnungen und eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft für demenzkranke türkische Senioren an. Im Erdgeschoss befinden sich ein öffentliches Café und ein türkisches Dampfbad (Abb. 4).

Weiter südlich, auf der Vering- und der Weimarer Strasse, gelangt man in das sogenannte Weltquartier, eine ehemalige Arbeitersiedlung aus den 1930er-Jahren, die sich wie etliche Siedlungen in Wilhelmsburg im Besitz der gemeinnützigen städtischen Siedlungs-Aktiengesellschaft SAGA GWG befindet. Zusätzlich zu einer energetischen Sanierung wurden die Wohnungsgrössen und -grundrisse an heutige Bedürfnisse angepasst. Die für das Hamburger ­Strassenbild charakteristischen Backsteinfassaden erhielten nach langen Diskussionen eine Aussendämmung, die mit roten Klinkerriemchen verkleidet wurde. Zur Erweiterung der Wohnflächen wurde eine Balkonzone an die Häuser angebaut, deren Verkleidung – aus ­Kosten- und Unterhaltsgründen – aus Schichtpressstoffplatten mit Holzoptik besteht. Auf dem neu gestalteten Weimarer Platz mitten in der Siedlung wurde ein Pavillon errichtet, der flexibel nutzbare Räume für verschiedene Nachbarschaftsaktivitäten bietet (Abb. 5 – 6).

Von den 820 Wohnungen der Siedlung sind 753 Teil des IBA-Sanierungskonzepts. Insgesamt werden 67 Wohnungen modernisiert, 402 umgebaut und 284 Wohnungen im Passivhaus­standard neu gebaut. Der Primärenergiebedarf im Quartier soll dadurch von 300 auf 71 kWh/m2 im Jahr sinken. Entsprechend der IBA-Qualitätsvereinbarung und gemäss Aus­sage der SAGA sollen nach dem Umbau alle Bewohner in ihre Wohnungen zurückkehren können. Laut aktuellen Zahlen der IBA wohnen in den bislang rund 150 fertiggestellten ­Wohnungen 38 % Rückkehrer (d.h. Mieter, die weggezogen und wieder zurückgezogen sind) und 60 % Mieter, die aus anderen Bauabschnitten des Weltquartiers in die fertiggestellten Wohnungen umgezogen sind. Die autonomen Gentrifizierungsgegner vom Arbeitskreis Umstrukturierung Wilhelmsburg (AKU), die sich sehr kritisch mit der IBA auseinandersetzen, befürchten in ­ihrem Blog[1] hingegen, dass bis zu 80 % der Menschen nicht mehr zurückkehren werden, da sie sich die Mieten der grösseren, modernisierten Wohnungen nicht leisten können. Zudem kritisiert der AKU die von der IBA durchgeführten Bewohnerbeteiligungen als «oberflächlich».

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht weist der Wohnungsbestand im Reiherstiegviertel im Vergleich zum Hamburger Durchschnitt einen deutlichen qualitativen Rückstand auf. Daher ist das Umbauprinzip, das im Rahmen der IBA verwirklicht wird, hier deutlich zu sehen. Dennoch tritt die IBA mit dem Slogan «Wohnen heisst bleiben» an. Um dieses Ziel zu kontrollieren, setzt die IBA auf ein eigenes Monitoring. Zudem verfügt die Stadt Hamburg mit einer Erhaltungssatzung über ein Instrument, Modernisierungsverdrängung zu verhindern.

Gezielt neue Bewohnerschichten ins Quartier locken soll hingegen der idyllisch am Nordrand des Quartiers gelegene Wohnungsneubau «Open House». Der im Grundriss Y-förmige ­Baukörper mit 44 Wohnungen wurde von einem Investor, einer Genossenschaft und einer Baugemeinschaft gemeinsam errichtet. Entsprechend beherbergt jeder Gebäudeflügel unterschiedliche Wohnungstypen – von öffentlich geförderten Mietwohnungen bis zu frei finanzierten Stadthäusern. Um die Einbindung ins Quartier zu fördern, befindet sich im Zentrum ein Gemeinschaftsraum, der von den Bewohnern und Nachbarn aus dem Quartier für verschiedene Aktivitäten gemietet werden kann (Abb. 8 – 9).

Am angrenzenden Rotenhäuser Feld entsteht ein Sprach- und Bewegungszentrum, um speziell die Integration von Zuwanderern und ihren Kindern zu verbessern. Bewohner aller Altersgruppen können dort Deutsch und andere Sprachen in Kombination mit Bewegung lernen. Eine grosse Sporthalle, Bewegungs- und Seminarräume sowie ein Café sollen dieses Haus zu einem Ort der Vernetzung machen (Abb. 7).

Neubauschwerpunkt Wilhelmsburg Mitte

Als weiterer Bildungsschwerpunkt entsteht in Wilhelmsburg Mitte das Schulzentrum «Tor zur Welt» (Abb. 10). Es vereint drei Schulen und verschiedene weitere Bildungs- und Beratungseinrichtungen an einem zentralen Ort. Das Herz der Anlage bildet ein Multifunktionszentrum. Hier finden Erwachsenenbildung, Familienförderung, Jugendhilfe und Schulberatung statt. Ein Elterncafé soll als informeller Treffpunkt dienen. Daneben verköstigt künftig eine Kantine die etwa 1400 Schüler, Lehrer, Mitarbeiter und Gäste. Neben Kunst- und Musikräumen ­entsteht zudem ein grosser Veranstaltungsraum mit Bühne, mit dem das «Tor zur Welt» zugleich auch ein Begegnungsort für das Quartier wird.

Westlich des Bahntrassees und vom modernisierten S-Bahnhof Wilhelmsburg aus über eine Fussgängerbrücke (Abb. 11) angebunden befindet sich das neue Dienstleistungs- und ­Verwaltungsgebäude der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) von Sauerbruch Hutton Architekten und den Gebäudetechnikern Reuter Rührgartner (Abb. 23). Der Neubau ist das grösste Hochbauprojekt im Rahmen der IBA: Der Bau besteht aus einem gut 45 m ­hohen Turm mit zwölf Etagen und zwei fünf- bzw. sechsgeschossigen Flügelbauten. Auf einer Bruttogeschossfläche von etwa 61 000 m² entstehen über 1000 Arbeitsplätze. Das Verwaltungsgebäude mit seinen farbenfrohen Fassaden erreicht durch die Verknüpfung von aktiven und passiven Massnahmen einen Primärenergieverbrauch von 70 kWh/m2 (DNGB-Zertifizierung «Gold» für die Entwurfsphase). Ein weiträumiges öffentliches Foyer empfängt die Besucher und dient künftig zur Präsentation des über 100 m² grossen Hamburger Stadtmodells.

Im Bereich des Zugangs zur Internationalen Gartenschau (igs) 2013 stellt die IBA auf vier Themenfeldern Modelle für den Wohnungsbau im 21. Jahrhundert vor. Diese «Bauausstellung in der Bauausstellung» soll mit realisierten Fallstudien Anschauungs- und Diskussionsobjekte liefern und idealerweise eine neue Bautypologie begründen, wie die zunächst hoch umstrittenen «case study houses» im Nachkriegsamerika.

Die Bauausstellung widmet sich vier Themenbereichen, für die mehrstufige, an Investoren, Planer und Materialhersteller gerich­tete Auswahlverfahren durchgeführt wurden, mit dem Ziel einer Teambildung für die Umsetzung. Obwohl bislang fast nur Baustellen zu sehen sind, sollen die Häuser rechtzeitig zum IBA-Jahr 2013 fertiggestellt sein. Insgesamt bildet die Bebauung dieser Sonderausstellung ein lockeres Schachbrettmuster, das als urbaner Park das grüne Erbe von Wilhelmsburg bewahren will. Drei «Smart Material Houses» zeigen neuartige Materialien in der Anwendung. Die Fassaden sind bei einem Wohnhaus mit Bioreaktoren bestückt – plattenförmigen Glas­elementen an Südwest- und Südostfassade, in denen Mikroalgen zur Biomasseproduktion wachsen. Bei einem weiteren Projekt dienen begrünte Fassadenelemente als sommerlicher Hitzeschutz, die im Gebäudeinneren durch Latentwärmespeicher (PCM) unterstützt werden. Blickfang eines dritten Prototyps sind flexible Fotovoltaikelemente (Abb. 12 – 14). Mit vier «Smart Price Houses» führt die IBA Lösungen für kostengünstiges innerstädtisches Bauen vor. Bis auf einen Bau setzten alle Beispiele auf vorgefertigte Holzkonstruktionen mit familien­freundlichen Grundrissen. Das radikalste Konzept setzt auf den Selbstausbau: Es werden nur das Betontragwerk sowie die Kerne zur Verfügung gestellt, und die künftigen Bewohner bauen sich ihre Einheit samt Fassade selbst aus (Abb. 15 – 18).

Wie Wohnen und Arbeiten von morgen aussehen können, zeigen drei «Hybrid Houses», die an wechselnde Bedürfnisse der Benutzer angepasst werden können: Ein Projekt erzeugt die Flexibilität durch verschieden ausgerichtete Einheiten, die nach Bedarf kombiniert werden können, während das andere Konzept auf einer doppelten Erschliessung basiert und so das Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten in einem Haus ermöglicht. Ein weiteres Hybrid House wurde bereits im Herbst 2011 fertiggestellt und dient der igs als Ausstellungs- und Verwaltungszentrum. Nach dem Ausstellungsjahr kann es als Büro- oder Wohnhaus weiter genutzt werden (Abb. 19 – 21).

Die «Water Houses» präsentieren ein Konzept für das Bauen mit Wasser. Leider überzeugt das Konzept ökologisch nur teilweise: In einem neu geschaffenen Regenwasserbecken entsteht ein Gebäudeensemble aus vier Kuben mit jeweils drei dreigeschossigen Wohnungen und einem neungeschossigen Turm mit 22 Wohnungen, die allerdings nur so aussehen, als ob sie im Wasser schwimmen würden (Abb. 22). Die Wassernähe ist hauptsächlich ein attraktives gestalterisches Element, während die Beschäftigung mit Bauen in hochwasser­gefährdeten Gebieten bzw. Überflutungsflächen nach der Verlegung der Reichsstrasse bei den Klimahäusern Haulander Weg im Wilhelmsburger Süden zum Thema wird (vgl. S. 31).

Komplettiert wird Wilhelmsburg Mitte durch den Wohn-, Dienstleistungs- und Hallenkomplex am Eingang der Gartenschau mit insgesamt 35 000 m² Bruttogeschossfläche. Neben einem neuen Schwimmbad entstehen eine Sporthalle, das Wälderhaus, das Haus der Inselaka­de­mie, zwei weitere Wohngebäude, ein Seniorenzentrum und ein Ärztehaus (Abb. 11).

Ein Strassenraum wird freigespielt

Wie ein Nebenprodukt der IBA wird in Wilhelmsburg mit der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstrasse auch ein grosses Infrastrukturprojekt realisiert (Abb. 11): Der Stadtteil wird heute in Nord-Süd-Richtung von der Wilhelmsburger Reichsstras­se (knapp 60 000 Fahrzeuge pro Tag) und einem stark befahrenen Bahntrassee durchschnitten, die nur rund 400 m voneinander entfernt liegen, und weiter im Osten von einer Autobahn (ca. 130 000 Fahrzeuge pro Tag). Schon vor einigen Jahren äusserten Bewohner den Wunsch, die Strasse zum Bahn­trassee hin zu verlegen. Den Stein ins Rollen brachte der Instandsetzungsbedarf der Reichsstrasse, vor allem aufgrund des schlechten Zustandes einiger Brücken. Im Rahmen der Instandsetzung für 60 Mio. Euro hätte man die Reichsstrasse gleichzeitig den heute geltenden Standards anpassen, von derzeit 14 auf 26 m verbreitern und mit Lärmschutzeinrichtungen ausrüsten müssen. Ausserdem wäre die bereits teilweise erhöht auf einem Damm verlau­fende Strasse zu einer noch massiveren städtebaulichen Barriere geworden. Wie Uli Hellweg erläutert, habe die IBA daher den Vorschlag einer Verlegung der Reichsstrasse wieder in die Diskussion eingebracht und den Hamburger Senat davon überzeugen können, dass das Geld so besser investiert sei.

Die Strasse soll nun – der alten Bewohneridee entsprechend – an die westliche Seite des Bahntrassees verlegt werden, da dieses nicht mehr in voller Breite benötigt wird. Damit auch für die Anwohner der Bahnlinie keine Verschlechterung eintritt, werde die Stadt Hamburg ergänzend zu den vom Bund finanzierten Lärmschutzmassnahmen ­entlang der Strasse zusätzliche Lärmschutzmassnahmen entlang der Bahnlinie ergreifen, erläutert Hellweg. Dies soll die Lebensqualität von rund 7000 Menschen verbessern. Trotzdem sind einige Anwohner skeptisch und befürchten – unter Berufung auf eine Stellungnahme der Verkehrspolizei – eine mögliche Zunahme des Verkehrs allgemein und eine zusätzliche Belastung einiger Wohnstrassen im nördlichen Anschlussbereich.

Nach der Verlegung 2015/16 kann der südliche Abschnitt der alten Wilhelmsburger Reichsstrasse rückgebaut werden, sodass ein zusammenhängender Stadtpark entsteht, wie etliche Landschaftsarchitekten im Wettbewerb für das Gartenschaugelände vorgeschlagen hatten. Im nördlichen Teil wird die Strasse als ebenerdig verlaufende Erschliessungsstrasse zurückgebaut. Mit diesen Massnahmen wird ein fast 124 ha grosses Gebiet freigespielt, in dem sich die Lebensqualität der Anwohner verbessern wird und wo neuer Wohnraum entstehen kann.

Bedenken trotz sanfter Tour

Um Wilhelmsburg zu entwickeln, hat die Stadt Hamburg mit der IBA eines der stärksten Werkzeuge gewählt, das die deutsche Baukultur kennt. Obwohl die Bürgerbeteiligung dabei mehr Raum erhielt als bei vorangegangenen Bauausstellungen, regt sich auch Widerstand.

Etliche Bewohner nehmen die IBA als Mittel zur Gentrifizierung ihres Stadtteils wahr. Tatsächlich ist wohl unvermeidbar, dass die durch die IBA angestossenen Massnahmen die Attraktivität des «Hinterhofs» erhöhen und so zumindest mittel- und langfristig deutliche Auswirkungen auf den dortigen Immobilienmarkt haben. Die Inszenierung der IBA wird zudem die Aufmerksamkeit – nicht nur vieler Hamburger – auf Wilhelmsburg lenken und so für weiteren Zuzug sorgen. Deshalb weisen IBA-Kritiker auf andere Hamburger Planungsinstrumente wie das Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE) hin, das weniger öffentlichkeitswirksam funktioniert. Es ist hinsichtlich Analyse und Konzepten durch ähnlich komplexe Handlungsansätze geprägt wie eine IBA und bündelt die Anstrengungen der Fachbehörden und Bezirksämter gebietsbezogen.

Die sozialen Veränderungen sind trotz IBA-Monitoring der Immobilienentwicklung und mög­licher Erhaltungssatzungen seitens der Stadt nicht aufzuhalten und wohl auch erwünscht. Dabei wird sich die IBA daran messen lassen müssen, inwiefern sie ihr eigenes Motto ­«Wohnen heisst bleiben» auf längere Sicht einlöst und die eingesessenen Bewohner auf den eingeschlagenen Weg mitnehmen kann.

Für erstaunlich leise Kritik sorgt auch die Tatsache, dass im Rahmen der IBA keine längerfristigen Verdichtungsperspektiven entwickelt wurden, die sinnvoll mit der ÖV-Erschliessung verknüpft sind, sondern dass man darauf setzt, noch vorhandene Freiflächen im Süden mit relativ lockeren Baustrukturen zu besetzen.

Allerdings ist nicht auszudenken, wie eine Olympiade über Wilhelmsburg hereingebrochen wäre. Die Umstrukturierung wäre vielleicht – ähnlich wie in London – radikaler erfolgt und die Entwicklung für das Quartier weniger flächendeckend und nachhaltig ausgefallen.


Anmerkung:
[01] http://aku-wilhelmsburg.blog.de/

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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