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TEC21 2012|36
Signal und Echo
TEC21 2012|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Akustische Gestaltung der Architektur

Das Projekt für den Bau des Museum of Modern Art (MomA) in Warschau, mit dem Christian Kerez 2007 den international ausgeschriebenen und von 109 Büros bestrittenen Wettbewerb gewann, ist nicht nur in visueller Hinsicht, sondern auch aus akustischer Warte ein architektonisch ausser­gewöhnlicher Wurf. Denn es wird für bestimmte Raumfolgen – von der U-Bahn-Station bis zu den Ausstellungshallen – visuelle und akustische ­Gestaltung vorgenommen.

31. August 2012 - Jürgen Strauss
Über eine steile, scheinbar in die Decke führende Treppe wird der grösste der Ausstellungsräume, die sogenannte «Huge Hall», erschlossen. Es öffnet sich ein Raum, dessen Dimen­sionen von ca. 130 m Länge, 30 m Breite und einer maximalen Höhe von 16 m augenblicklich an Kirchenräume denken lassen. Ein zweiter Blick auf den wellenförmigen Deckenbereich und seine Materialisierung als frei tragende Betonkonstruktion eröffnet dann aber auch Assoziationen, die diesen Ausstellungsraum moderner Kunst als industrielle Werkhalle erscheinen lassen. Mit dieser Spanne zwischen Kirche und Werkhalle ist ein zentraler Ort modernen Kunstgeschehens architektonisch gefasst.

Und mehr noch: Es ist auch eine gemeinsame akustische Signatur mit diesen Räumen verbunden, die allgemein bekannt ist: lange anhaltender Nachhall. Diese charakteristische Raumakustik, in der jedes Räuspern und jeder Gehschall zum Raum füllenden Ereignis wird, zwingt uns in Kirchen zu ruhigem und leisem Verhalten – wir wollen nicht stören –, und sie gestattet umgekehrt den voluminösen Klangeindruck einzelner Stimmen genauso wie die Inszenierung des überwältigenden Donners einer Stanzmaschine oder eines monotonen Chors von Drehautomaten.

Sprachverständlichkeit trotz langer Nachhallzeit

Die akustische Raumantwort der «Huge Hall» ist auch «huge» – es zeigt sich die Grösse des Raumes auch akustisch. Diese Kongruenz von grossem visuellem und akustischem Raumeindruck wollte der Architekt Christian Kerez erhalten. Der architektonischen Konzep­tion stand indes eine feuerpolizeiliche Vorschrift entgegen, der zufolge im Brandfall eine Durchsage in der gesamten «Huge Hall» von allen Besucherinnen gut, d. h. deutlich und leicht verstehbar sein muss. In der Praxis der Raumakustik wird diese Anforderung guter Sprachverständlichkeit durch Absorption von Schallreflexionen erfüllt. Dadurch reduziert sich die Nachhallzeit, und es verbleibt der informationshaltige direkte Schall der Sprechenden bzw. der übertragenden Lautsprecher. Aber mit der Reduktion der Nachhallzeit von ca. 10 s im nackten Betonzustand auf ca. 2–3 s mit absorbierenden Wandbeschichtungen ginge auch der spektakulär grosse akustische Raumeindruck verloren. Mit diesem Planungszustand unzufrieden, suchte Christian Kerez nach alternativen Lösungen.

Die Aufgabenstellung einer guten Sprachverständlichkeit unter der raumakustischen Bedingung einer langen Nachhallzeit ist in einem Anwendungsbereich der Elektroakustik seit Langem bekannt – der Kirchenbeschallung. Es bot sich deshalb an, eine Planung vorzunehmen, die sich auf bewährte Konzepte der Kirchenbeschallungstechnik bezog. So wurde eine gestaffelte Beschallung mit zwölf Linienquellen-Lautsprechern konzipiert, die den Berechnungen und Simulationen entsprechend an jedem Ort der «Huge Hall» einen ausreichenden «Speech Transmission Index» (STI) sicherstellt.[1]

Ganze Bandbreite des hörbaren Schalls

Wie aber ist es physikalisch und akustisch-technisch möglich, dieses Ziel zu erreichen, ohne die Nachhallzeit durch Absorption zu verkürzen? Durch eine gezielte vertikale Bündelung der aus den Linienquellen abgestrahlten Schallwellen, sodass das entstehende Schallfeld sich möglichst nur im Bereich der sitzenden oder stehenden Besucherinnen ausbreitet, ­ d. h. auf einer Höhe von ca. 1 m bis 2 m über dem Boden. So werden die Boden- und Deckenschallreflexionen verhindert, bzw. reduziert, und mithin wird der potenziell lange Nachhall nicht oder nur wenig angeregt. Dadurch beginnt der direkt aus den Linienquellen gebündelt abgestrahlte Schall, dessen Druckverlauf die Information darstellt, den Höreindruck zu dominieren: Die Sprachverständlichkeit ist gegeben. Da jedes Schallfeld mit seiner Ausbreitung an Intensität verliert, muss über die ganze Länge von 130 m beidseits geometrisch regelmässig und zeitlich gestaffelt das Schallfeld fünfmal wieder verstärkt werden.

Die erwähnten Linienquellen-Lautsprecher (Abb. 6) werden aus einzelnen Lautsprechern aufgebaut, die aufgrund ihres kleinen Membrandurchmessers Schall idealtypisch in alle Richtungen gleichmässig abstrahlen (Punktquelle). Durch die Anordnung in einer vertikalen Reihe oder Linie beginnen sich die einzelnen kugelförmigen Schallfelder gegenseitig zu überlagern (Interferenz) und bilden so Zonen aus, in denen sich Schalldruckmaxima und Schalldruckminima zeigen.

In Anbetracht der umfangreichen technischen Aufwendungen für das zwölfkanalige Beschallungssystem – jede Linienquelle hat eine Länge von 3.5 m und wird in die Seitenwände integriert – und vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Bereich der (Video-) Klang- künste wurde das Nutzungsprofil des Beschallungssystems erweitert, sodass nicht nur das eingeschränkte Frequenzspektrum der Sprache, sondern die ganze Bandbreite des hör­baren Schalls übertragen werden soll, inklusive der Infraschälle herab bis 15 Hz. Mit ­dieser elektroakustischen Ausrüstung, die eine flexible, matrixbasierte Ansteuerung einzelner und mehrerer Linienquellen gestattet, wird in Verbindung mit der spektakulären Raumakustik ein einzigartiger Aufführungsort für aussergewöhnliche, womöglich für diesen Aufführungsort komponierte oder ortsbezogen arrangierte Musik und Performances angeboten.

Auch hier bietet sich nochmals die akustische Analogie von Museum und Kirche an: Das Beschallungssystem ist ein ortsgebundenes und nur durch künstlerisch angepassten Gebrauch sinnvoll zu verwendendes Musikinstrument – wie die Orgel. Nur, und das ist hier wesentlich, dieses architektonisch-raumakustische und elektroakustische Musikinstrument kann auch die Atmosphäre einer von Grillenzirpen erfüllten Nacht nachahmen oder das Stampfen und Dröhnen wie einer lauten Fabrikhalle.

Akustische Raumdramaturgie

Wer möchte nicht den Versuch machen und aus einem diffusen Meer von Stimmen im Foyer durch einen ruhigen Gang und über eine gedämpfte Treppe in die Weite der «Huge Hall» gelangen – eine Weite, in der das kleinste Geräusch gross werden kann? Und würden wir, dort angelangt, nicht wenigstens einmal Klatschen, Stampfen oder Schreien ­wollen vor Hörlust? Oder still und gespannt hineinhören in die Tiefe der niemals ganz schweigenden akustischen Raumantwort?


Anmerkung:
[01] Speech Transmission Index (STI), dt. Sprachübertragungsindex, ist ein Mass für die Sprachübertragungsqualität einer Übertragungsstrecke vom Sprecher zum Zuhörer. Als Übertragungsstrecke wird dabei eine akustische oder elektroakustische Sprachsignalübertragung verstanden. Die Masszahl STI beschreibt die zu erwartende Sprachverständlichkeit beim Zuhörer.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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