Zeitschrift

TEC21 2012|40-41
Mit dem Vergessen leben
TEC21 2012|40-41
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ein Dorf für Vergessende

An Demenz erkrankte Menschen wohnen in der Regel in Alters- und Pflegeheimen. Einen alternativen Weg wählte 2009 das Pflegewohnheim im niederländischen Weesp: Gemeinsam mit Molenaar & Bol & Van Dillen Architecten aus Vlught planten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Heimes das Dorf De Hogeweyk, in dem ausschliesslich Menschen mit Demenz leben. Das Projekt hat sich zum europäischen Modellfall entwickelt – nach dem niederländischen Vorbild soll bis 2018 auch in der Schweiz ein erstes Demenzdorf entstehen.

28. September 2012 - Christina Brand
Auf den ersten Blick sieht die Siedlung aus wie andere niederländische Quartiere auch: Längliche, rote Klinkerbauten bilden einen Ring und umschliessen systematisch angeordnete ein- bis zweistöckige Flachdachhäuser (Abb. 7). Das erste Auffällige ist, dass es nur einen Weg hinein und hinaus gibt: Man muss an einem Empfang vorbei. Direkt neben diesem steht eine Schiefertafel, die das Freizeitprogramm präsentiert: eine Theatervorführung, eine Kunstausstellung, ein Volkstanzkurs, Aquarellmalen – fast wie in einem Ferienresort. Einzig die Rollatoren, die sich neben der Tafel aneinanderreihen, lassen erahnen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner wohl nicht mehr die Jüngsten sind. De Hogeweyk ist eine Welt für sich – eine Welt, in der die Uhren etwas langsamer ticken. Die Siedlung im holländischen Weesp, rund 20 Autominuten südöstlich von Amsterdam gelegen, wurde für Menschen gebaut, deren Krankheit das Vergessen ist: Wer hier lebt, ist dement und befindet sich im letzten Abschnitt seines Lebens.

Architektur als Hilfe

«Wenn sie dement sind, fühlen sie sich sehr verloren», sagt Isabel van Zuthem, Kommunikationsverantwortliche des Demenzdorfes. Sie spaziert über den Hauptplatz, das Herz der Siedlung, vorbei an einem Brunnen und den bunten Tischen und Stühlen des Cafés. «Darum ist es wichtig, dass wir für Menschen mit Demenz eine vertraute Umgebung schaffen, in der sie ihr Leben möglichst weiterleben können wie zuvor.» Eine vertraute Umgebung schaffen heisst: Es soll in De Hogeweyk so aussehen, wie das Umfeld der Bewohnerinnen und Bewohner auch früher aussah, zumindest soweit dies möglich ist. Und es bedeutet, Hindernisse zu vermeiden, gerade auch bauliche: Es gibt keine Stufen, keine Gräben, keine Barrieren. Bemerkenswert ist, dass an diesem Ort, an dem viele bewegungsfreudige Orientierungslose wohnen, weder Zäune noch Mauern stehen – stattdessen gibt es mit viel Grün gestaltete Innenhöfe und Gärten zwischen den ein- und zweistöckigen Flachdachbauten. Der äussere Häuserring ist so angelegt, dass die Anlage in sich geschlossen ist – ohne dass man sich eingesperrt fühlt. Für die Bewohner bedeutet dies auch Sicherheit: ein Schutz davor, draussen in der Welt verloren zu gehen, wo sich die wenigsten von ihnen zurechtfinden würden.

Eigene Erfahrungen umgesetzt

Ebenerdig geht es vom Hauptplatz hinein in eine grosse Halle. Links liegt das öffentliche Restaurant, rechts ein «Bruin Café», eine typische Amsterdamer Bar. Musik dröhnt heraus. Drinnen sitzen dreizehn alte Damen und singen inbrünstig und nicht ganz tonsicher einen Song von Abba mit. Gleich daneben: der Supermarkt. Auch Einkaufen gehörte zum früheren Leben – also können auch die Bewohnerinnen und Bewohner von De Hogeweyk hier kaufen, was sie wollen. Wobei in diesem Laden nichts passiert, wenn jemand buchstäblich zu bezahlen vergisst. Nicht selten leert die Kassiererin die Körbe nach dem Einkauf wieder und räumt alles Gekaufte zurück in die Regale – weil den Kunden bereits wieder entfallen ist, warum sie eigentlich hier waren. In solchen Momenten gleicht das Demenzdorf einer grossen Theaterbühne, auf der eine Realität nachgespielt wird, die es nur noch in den Köpfen der Dementen gibt. Eine inszenierte heile Welt, in der die Vergangenheit konserviert wird – nicht zuletzt, damit die vergesslichen Betagten ihren freien Willen und ein Stück Freiheit behalten können. Doch genau dies bedeutet für die Demenzkranken auch eine Ausgrenzung vom öffentlichen Leben. Trotzdem sind sie dem wahren Leben weit näher als viele andere alte Menschen, die in Heimen wohnen und möglicherweise keinen Kontakt mehr in die Aussenwelt haben. Begleitete Ausflüge sind in De Hogeweyk jederzeit möglich. Auch fährt jeweils dienstags ein Rollstuhlbus zum Wochenmarkt von Weesp. So kommen die Bewohnerinnen und Bewohner nicht nur innerhalb, sondern auch ausserhalb der Siedlung an die frische Luft; viel öfter als Demenzkranke in anderen Institutionen: «Im Durchschnitt verbringen Demente in niederländischen Heimen gerade mal anderthalb Minuten pro Tag draussen», sagt Isabel van Zuthem. Sie weiss das aus eigener Erfahrung: Zuvor arbeitete sie in einem herkömmlichen Pflegeheim. Im Pflegeheim Hogewey realisierten die Verantwortlichen eines Tages, dass sie die eigenen Eltern nicht in diesem Heim leben lassen wollten. Darum entwickelten sie eine neue Idee und setzten sie 2009 um: ein Dorf nur für Vergessende. 19.4 Millionen Euro kostete der Bau – 17.8 Millionen übernahm die staatliche Pflegepflichtversicherung, der Rest wurde durch Spenden gedeckt (zum Bauprojekt: vgl. Kasten S. 29). Heute leben auf insgesamt 15 000 m² in 23 Häusern 152 Frauen und Männer mit Demenz, bei den meisten zeigt sie sich in Form von Alzheimer (vgl. «Demenzgerechte Architektur?», S. 22). In drei Schichten kümmern sich vier Ärzte und 240 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit 170 Vollzeitstellen um die Bewohner. Ab 22.30 Uhr beginnt die vorwiegend akustische Überwachung, und es werden technische Hilfen wie Monitore und Sensormatten eingesetzt. Dann sind fünf Personen anwesend, um für die 152 Bewohnerinnen und Bewohner zu sorgen. Die Kosten pro Pflegeplatz sind mit 5400 Euro monatlich nicht höher als in einem regulären Pflegeheim und werden von der niederländischen Pflegeversicherung bezahlt (vgl. Kasten S. 27).

Klassensystem, auch im Alter

Van Zuthem tritt hinaus auf den Boulevard, vorbei am Theatersaal, der hin und wieder auch von Privaten und der Gemeinde Weesp gemietet wird, was für den Betrieb eine Nebeneinnahme bedeutet. Links und rechts des Boulevards liegen die Gärten der Häuser. Jeder sieht anders aus, der eine ist kreativ verwildert, der andere akkurat, der Dritte ist mit Teich und südostasiatischen Skulpturen ausgestattet. Auch das ist Konzept in dieser modellierten und nahezu perfekten Welt. Wie die Gärten unterscheiden sich auch die Einrichtungen der einzelnen Häuser – je nach früherem Lebensstil der Bewohnerinnen und Bewohner: Zur Wahl stehen Wohngruppen für jeweils sechs Personen in den Stilen «urban» und «häuslich», «grossbürgerlich» und «kulturell», «christlich», «rustikal» und «indisch» für jene Demenzkranken, die aus den ehemaligen Kolonien stammen. Ein Meinungsforschungsinstitut hat diese Zuordnungen ermittelt, sie sollen den vorherrschenden Lebensstilen in den Niederlanden entsprechen. «Die Dame aus der Oberschicht würde sich im normalen Leben nicht mit dem Spengler den Tisch teilen – also tut sie es auch nicht bei uns», sagt van Zuthem. Wer in welche Gruppe passt, wird mithilfe von Fragebögen entschieden, die die Verwandten der Anwärter ausfüllen. Die Grundrisse sind in allen Häusern ähnlich: eine halboffene Küche, ein grosszügiger Wohnbereich mit Fensterfassade zum Hof. Zwei angegliederte Flure führen zu je drei Einzelzimmern, die sich die Bewohnerinnen und Bewohner selbst einrichten. Unterschiede gibt es in der Gewichtung der Räume. So sind die Küchen in den grossbürgerlichen Wohngruppen eher klein und liegen nicht im Zentrum, da die Bewohnerinnen und Bewohner in der Regel Angestellte beschäftigten und keinen Kontakt zur Küchenarbeit hatten. In den indischen Wohngruppen hingegen spielt das gemeinsame Essen eine wichtige Rolle, was sich im Grundriss in einer grossen offenen Wohnküche niederschlägt.

Isabel van Zuthem klingelt bei der Adresse Grote Plein 6. Sechs Frauen leben hier nach dem Lebensstil «häuslich». Wer durch die Tür tritt, wird in die Vergangenheit versetzt. Das Wohnzimmer wirkt altmodisch; gemusterte Tapete, Setzkasten und Kuckucksuhr an der Wand, Marmorpuppen auf der Kommode. Eine Bewohnerin strickt, eine andere faltet Kleider, zwei sehen fern, eine döst. Eine Betreuerin begleitet eine Bewohnerin hinaus auf ihren Stuhl im Garten. Sie ist 90, nahezu taub, und sie braucht eine Zigarette. Die Betreuerin drückt die alte Frau kurz und nennt sie Sweetheart. Es hat hier Platz für Zärtlichkeiten. Bald wird gekocht. Auch das macht man gemeinsam in dieser WG der Erinnerungslosen, denn gekocht haben diese Frauen ihr Leben lang. Die Bewohnerinnen sollen möglichst selbstständig und unabhängig bleiben, darum ist nur eine gemeinsame Mahlzeit am Tag fix. Die Bewohnerinnen bestimmen selbst, wie lange sie am Abend bei einem Glas Wein sitzen bleiben und ob und wann sie am Morgen frühstücken wollen.

Begrenzung ermöglicht Freiheit

Ermöglicht man Demenzkranken ein Leben in vertrauter Umgebung, kommt es zu weniger Aggressionen – weil sie sich freier fühlen, weniger eingeschränkt. «Im Vergleich zu früher müssen wir deutlich weniger beruhigende Medikamente abgeben», sagt Isabel van Zuthem. Eine Betreuerin fügt an: «Die Leute sind glücklicher hier, weniger ruhelos. Jeder ist sich selbst.»


Anmerkungen:
Christine Brand besuchte das Dorf De Hogeweyk im April 2012 im Rahmen einer Recherche für die NZZ am Sonntag.
[01] Basale Stimulation (Snoezelen): Wenn die verbale Kommunikation immer mehr in den Hintergrund tritt, ist der demenzkranke Mensch über die Sinne ansprechbar. Augenkontakt und Hörwahrnehmung, Körperstimulation, Anregung des Gleichgewichtssinnes, haptische Stimulation, Vibratorische Anregung, orale Stimulation, olfaktorische Stimulation dienen ihm zur Orientierung und helfen ihm, Körper und Umwelt besser wahrzunehmen (Quelle: www.curaviva.ch)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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