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TEC21 2012|51-52
Glockengeläut
TEC21 2012|51-52
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Glocken schaukeln den Turm auf

Glockentürme sollen möglichst hoch und schlank sein. Doch in den Turmspitzen – am schwächsten Punkt – hängen tonnenschwere Glocken, die während des Läutens in Schwingung versetzt werden. Über Jahrhunderte erfüllen Glockentürme ihren Dienst, ohne Schaden zu nehmen oder an Nachbargebäuden Schäden zu verursachen. Nur erstaunlich wenige dieser Glockentürme weisen beunruhigende Schwingungen auf. Bei ihrer Konstruktion ist etwas schief gelaufen. Die Lehre von der Dynamik der Tragwerke erlaubt zu verstehen, warum bestimmte Türme Sorgen bereiten und andere nicht.

14. Dezember 2012 - Armin Ziegler
Die Schwingungen der Glocken bringen einen Glockenturm zum Schaukeln. Die Turmspitze bewegt sich dabei – je nach Turmeigenfrequenz und Glockenschlagzahl – einige Zehntelmillimeter oder sogar mehrere Zentimeter hin und her. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Glockenschwingung einen Turm aufschaukeln und die Konstruktion sogar überstrapazieren – wenn nämlich die Turmeigenfrequenz dem Dreifachen der Glockenfrequenz entspricht. Durch die starken Bewegungen können Risse entstehen. Im schlimmsten Fall ist sogar die Tragsicherheit gefährdet. Um Gegenmassnahmen treffen zu können, die ein Resonanzverhalten verhindern (vgl. «Viel Bewegung im Spiel», S. 31), ist es notwendig, die grundlegende dynamische Problematik zu verstehen.

Dynamik der Glockenschwingung

Die Glocke lässt sich in erster Näherung als mathematisches Pendel begreifen. Die Glockenmasse m, die Pendellänge L und der Auslenkwinkel α bestimmen dabei primär die bei der Glockenschwingung auftretende Horizontalkraft. Ihr zeitlicher Verlauf ist komplex, da sich die Kraft aus Komponenten zusammensetzt, die vom Auslenkwinkel α bestimmt sind, und aus Komponenten, die von der Winkelbeschleunigung αʺ abhängen.[1] Im Gegensatz zu einer reinen Sinus-Anregung wird bei einer solchen Anregung nicht nur die Grundfrequenz, sondern auch die 3. Harmonische und ganz schwach die 5. Harmonische angeregt – d. h. die Frequenzen, die dem Dreifachen und dem Fünffachen der Glockenschwingfrequenz entsprechen. Anschaulich lässt sich das wie folgt erklären (Abb. 02): In einem Glockenturm mit einer Eigenfrequenz von 1.5 Hz läutet eine Glocke mit ebenfalls 1.5 Hz (180 Schläge pro Minute). Mit jeder Schwingung zieht die Glocke den Turm mit. Derart schnelle Geläute gibt es aber nicht, und ein Kirchturm würde diese Kräfte auch nicht aushalten. Läutet die Glocke mit der halben Turmeigenfrequenz, also mit 0.75 Hz (90 Schläge pro Minute), zieht sie bei der ersten Schwingung den Turm nach rechts und regt seine Eigenfrequenz von 1.5 Hz an. Schwingt die Glocke nach links, wird der Turm wieder gebremst. Die dynamische Wirkung wird quasi durch die Glocke selbst wieder ausgelöscht. Läutet die Glocke jedoch mit 0.5 Hz (60 Schläge pro Minute), regt sie den Turm bei jeder Schwingung an: Beim ersten Glockenschlag nach rechts wird der Turm nach rechts ausgelenkt, und beim nächsten Glockenschlag nach links wird er – nachdem er bereits eine volle Schwingung ohne grössere Anregung hinter sich hat – nach links ausgelenkt. Dies ist – fatalerweise – der Normalfall während eines Glockengeläuts und der Grund, warum die 3. Harmonische bei Glockenturmkonstruktionen von zentraler Bedeutung ist. Fällt die 3. Harmonische mit der Eigenfrequenz des Kirchturms zusammen, sind die Voraussetzungen für unliebsame Turmschwingungen geschaffen.

Schwingungsmessungen am Glockenturm

Die Kunst bei der dynamischen Auslegung eines neu zu errichtenden oder bei der Modifikation eines bestehenden Kirchturms besteht somit darin, die kritischen Frequenzbereiche zu erkennen und sie so gut wie möglich zu meiden (vgl. «Glockentöne aufeinander abstimmen», S. 22, und «Viel Bewegung im Spiel», S. 31). Erschwerend kommt hinzu, dass es sich in der Regel um Läutwerke mit vier, fünf oder noch mehr Glocken handelt – keine der Anregungsfrequenzen sollte im kritischen Bereich liegen. Schwingungsmessungen geben Aufschluss über diese Frequenzbereiche und helfen zu erklären, weshalb ein Turm so stark schwingt, dass Risse auftreten oder Besucher Angst bekommen. Sinnvollerweise werden auch vor dem Einbau einer zusätzlichen Glocke oder bei Änderungen am Glockenstuhl derartige Messungen durchgeführt. Der Umfang einer Schwingungsmessung orientiert sich an den Anforderungen des Glockenbauers und des Ingenieurs. In den meisten Fällen genügt eine Messung mit triaxialen und horizontalen Aufnehmern (Abb. 01 und Kasten oben).

Liegt ein dynamisches oder ein quasi-statisches Problem vor?

Wenn die Eigenfrequenz des Turms eindeutig ausserhalb des kritischen Frequenzbereichs liegt, handelt es sich nicht um ein dynamisches Problem, sondern um ein quasi-statisches. Allfällige übermässige Schwingungsamplituden entstehen nicht durch ein Aufschaukeln, sondern durch die quasi-statischen Kräfte der schwingenden Glocken. Eine Veränderung der Schlagzahlen bringt in einem solchen Fall keine grosse Veränderung. Liegt die Turmeigenfrequenz innerhalb des kritischen Bereichs, so besteht tatsächlich ein dynamisches Problem, und dann sollte diese Frequenz genau erfasst werden; bereits ein kleiner Fehler bei ihrer Bestimmung kann zu schwerwiegenden Fehlbeurteilungen führen.

Dynamisches Verhalten von 18 Glockentürmen

Ein Quervergleich des dynamischen Verhaltens verschiedener Glockentürme bietet einen interessanten Einblicke in ihr Verhalten und zeigt, welche dynamischen Eigenschaften eher zu Problemen führen. Am wenigsten unterscheiden sich die 18 in Tabelle 04 erfassten Kirchen bei den Schlagzahlen. Offensichtlich muss die Schlagzahl für die schwerste Glocke bei etwa 45 liegen und für die leichteste bei etwa 65. Der kritische Bereich für die Eigenfrequenz von Glockentürmen liegt somit zwischen 1.1 und 1.6 Hz. Alle Glockentürme mit Eigenfrequenzen über 1.6 Hz haben relativ geringe Schwingungsamplituden. Typisch für die untersuchten Kirchen ist auch, dass die schwerste Glocke die massgebende ist. Da ihre Eigenfrequenz höher liegt als die 3. Harmonische, sind diese Glockentürme nicht durch ein dynamisches Phänomen gefährdet, sondern durch eine quasi-statische Belastung ohne Resonanzerscheinung. Von den Eigenfrequenzen der 18 Glockentürme liegen tatsächlich die meisten unterhalb des Orientierungswerts der DIN 4178 (vgl. Tabelle 03). Bei den Türmen mit Maximalwerten von 30 mm/s und mehr sind Massnahmen getroffen worden. Zumeist wurden die Schwingungen durch Veränderung der Schlagzahlen, durch Zusatzmassen oder durch eine Kombination beider Massnahmen reduziert.

Drei besonders interessante Fälle

Bemerkenswert war das Verhalten des Glockenturms der reformierten Kirche in Zürich Altstetten (Abb. 05): Die massgebende Glocke ist die Glocke Nr. 4 mit einer 3. Harmonischen von 1.39 Hz. Bei den ersten Versuchen zur Reduktion der Schwingungsamplitude ging man irrtümlicherweise davon aus, dass die Eigenfrequenz nicht stark von der Schwingungsamplitude beeinflusst wird und dass man mit einer Eigenfrequenz von f = famb = 1.5 Hz rechnen kann. Aus diesem Grund war es zunächst unverständlich, dass die Schwingungsamplitude mit abnehmender Schlagzahl, d. h. bei einer Vergrösserung des Abstands von der Eigenfrequenz, zunahm. Tatsächlich lag die Eigenfrequenz (bei der hohen Schwingungsamplitude) um einiges tiefer (wohl bei 1.3 Hz), und die Reduktion der Schlagzahl brachte eine Annäherung an die Eigenfrequenz. Das gleiche Phänomen wurde bei der katholischen Kirche Rudolfstetten (Abb. 06) beobachtet. Obwohl die 3. Harmonische mit 1.27 Hz unterhalb der Eigenfrequenz famb von 1.29 Hz lag, brachte erst eine Erhöhung der Schlagzahl eine Verringerung der Schwingstärke.

Auch die katholische Kirche in St. Moritz (Abb. 07) wies vor der Instandsetzung relativ starke Schwingungen auf. Die Kirche mit Campanile wurde von Nicolaus Hartmann im Stil der lombardischen Romanik erbaut. Ihm schwebten leichte Glocken wie im Süden vor.

Der Pfarrer aus dem nördlichen Nachbarland, der über die Anschaffung des Geläuts entschied, wollte schwere Glocken einsetzen, wie sie in seiner Heimat üblich sind. Das Beispiel zeigt, dass auch kulturelle Unterschiede zu übermässigen Turmschwingungen führen können.


Anmerkungen:
[01] Slavik, M.: Überlegungen zur Baudynamik von Glockentürmen. Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (FH), Fachbereich Bauingenieurwesen/Architektur, Labor für Bauwerks- und Modellmessung, 2004 (www.htw-dresden.de).
[02] Deutsche Norm – DIN 4178: Glockentürme. Berlin 2005.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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