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TEC21 2013|01-02
Marktreife Moderne
TEC21 2013|01-02
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Kunstlos funktional

Sind die Ideale der modernen Architektur im heutigen Wohnungsbau zu sinnentleerten Stilübungen verkommen? Das Beispiel der Kleinstwohnung mit kompakter Küche legt diesen Verdacht nahe. Die Exponenten der frühen Moderne haben sie entwickelt, um Menschen am Existenzminimum würdige Lebensbedingungen zu verschaffen und Frauen von lästiger Hausarbeit zu befreien. In der zeitgenössischen Architektur scheint die Faszination für technische Gadgets zu überwiegen. Ein zufällig ausgewähltes Projekt spanischer Nachwuchsarchitekten, das für viele andere stehen könnte, dient als Diskussionsgrundlage.

28. Dezember 2012 - Anna Hohler
Marcel Breuer hat in einem Vortrag, den er 1932 in der Zeitschrift «Das Werk» veröffentlichte, den Unterschied zwischen «modern» und «Mode» betont.[01] Für den Bauhaus-Architekten und Möbelgestalter entsteht das «Moderne […] aus dem Bedürfnis nach ständiger Vervollkommnung […] unter dem Druck der Logik und der Leidenschaft», das «Modische» hingegen aus «Laune», «einer durchaus gesunden Langeweile, aus einem Bedürfnis nach Abwechslung». Modisches und Modernes zu verwechseln sei ein verhängnisvoller Irrtum. Die Prinzipien moderner Gestaltung seien in Gefahr, «leerzulaufen, weil man sie mit einer Enge vertrat, die um jeden Preis modern erscheinen wollte und die darum modische Allüren annahm». Gemäss Breuer setzte dieser Niedergang bereits ein, bevor die moderne Architektur sich überhaupt richtig entwickeln konnte. Denn «die moderne Architektur ist noch nicht geboren, oder nicht fertig geboren, trotz Flachdach, grossen Öffnungen, trotz ‹Tempo der Zeit› und ‹sozialer Einstellung›. […] Die Aufgabe ist, die verschiedensten Gebiete geistiger und praktischer Arbeit zueinander in sinnvolle Beziehung zu stellen.»

Wie dies konkret stattfinden könne, erläutert Breuer am Beispiel der Wohnung: Diese habe die gewandelten Bedürfnisse von Mann und Frau zu berücksichtigen und müsse sowohl Rückzugsmöglichkeiten als auch Gemeinschaftsräume bieten. Als Illustration dienen diverse «Wohnbedarf»-Möbel, «die alltägliche, normale, der Mode nicht unterworfene Gebrauchsgeräte sein wollen». Dennoch schliesst Breuer eine Verbindung zwischen Nüchternheit und Überschwang nicht aus. Auf mehreren Seiten präsentiert er den «Einwohnraum» von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand in Paris (Abb. 01) sowie Möbel von Le Corbusier und André Lurçat, die «bewusst gesteigerte, mondäne, aber deshalb auch vergänglichere Wirkungen [suchen]. Sie sind wertvolle Beweise, dass die formale Einfachheit der modernen Möbel nicht aus Armut und äusserem Zwang entspringt, sondern aus freiem Willen, der selbst des festlichen Aufschwungs fähig ist, für den Alltag aber freiwillig auf diese Festlichkeit verzichtet.

Breuers 1932 geäusserte Befürchtung, das Formenvokabular der Moderne könne sich in sinnentleerten Formalismen erschöpfen, verdient auch heute Aufmerksamkeit. Im Folgenden soll ein zeitgenössisches Projekt – der Umbau einer Wohnung in zwei Studios in der Altstadt von Saragossa durch das junge spanische Architekturbüro elii – auf die Frage hin untersucht werden, inwiefern es den Ansprüchen der frühen Moderne genügen würde. Der Vergleich ist gewagt, zumal sich die jungen Spanier keineswegs auf ihre illustren Vorgänger beziehen. Andererseits drängt er sich geradezu auf. Die beiden Studios sind ebenso wie der «Einwohnraum» Interpretationen eines Typus, der erst mit der Moderne zum viel beachteten Entwurfsthema wurde: der städtischen Einzimmerwohnung. Und auch die Küchenblöcke der Studios wären ohne die kompakten Küchen, die in den 1920er-Jahren entwickelt und in den funktionalistischen 1950er- und 1960er-Jahren zum Standard etabliert wurden, kaum in dieser Form denkbar. Insofern könnte das zufällig ausgewählte Beispiel – das in der spanischen Tagespresse hoch gelobt wurde – für manchen anderen Neubau stehen. Leben auf engstem Raum und die Kunst zu leben Der sparsame Umgang mit Ressourcen, die pragmatische Anordnung von Funktionen und die Optimierung von Arbeitsabläufen haben die Architekten der frühen Moderne stark beschäftigt. Dahinter stand nicht nur die Faszination für Rationalisierung und Industrialisierung, sondern auch ein ausgeprägtes soziales Engagement, das sich etwa in der «Wohnung für das Existenzminimum» konkretisierte. Die österreichische Architektin Margarete Schütte- Lihotzky schuf 1926 mit ihrer «Frankfurter Küche» den Prototyp der modernen Einbauküche. In den USA legte Richard Buckminster Fuller, um die Zukunft der gesamten Menschheit besorgt, 1928 sein materialeffizientes «Dymaxion House» und 1937 eine vorgefertigte kompakte Nasszelle vor. Der Funktionalismus der Nachkriegszeit setzte selbst im gehobenen Wohnungsbau kompakte Küchen- und Nasszellen ein.

Im französischen Sprachraum hat Charlotte Perriand (1903 –1999) Pionierarbeit auf dem Gebiet des Wohnens auf reduziertem Raum geleistet. Sie arbeitete mit Le Corbusier und Pierre Jeanneret zusammen und wurde vor allem wegen ihrer zu Beginn der 1930er-Jahre entworfenen Stahlrohrmöbel bekannt, doch ihre Auffassung von Material und Raum, ihre Neuerungen im Bereich der Gebrauchsgegenstände und der Inneneinrichtung haben unsere Wohnverhältnisse im 20. Jahrhundert insgesamt beeinflusst.[02] An der Kunstgewerbeschule Union Centrale des Arts Décoratifs in Paris ausgebildet – den Begriff «Kunstgewerbe» ersetzte sie schnell durch das nüchterne «Wohnungseinrichtung» –, weigerte sie sich, einen Raum zu «möblieren»: Für sie nahmen Architektur und Inneneinrichtung parallel Gestalt an. Prägend war die Erinnerung an einen Krankenhausaufenthalt in ihrer Kindheit: Die Nüchternheit und das Weiss der Räume hatten sie so entzückt, dass sie in Tränen ausbrach, als sie wieder nach Hause kam. So trug sie später eine Kette aus schlichten verchromten Kupferkugeln um den Hals und beleuchtete ihre Wohnung mit einem Autoscheinwerfer.

Teamarbeit war für Charlotte Perriand wesentlich, ebenso die enge Zusammenarbeit zwischen Architekt und Innenarchitekt. Sie entwarf ihre Möbel im Hinblick auf den Raum, die «tables en forme» beispielsweise, die alle individuelle Kurven hatten. Zur Zeit der Rationalisierung des Wohnraums, als die Elektrifizierung der Küche und eine praktische Anordnung gepredigt wurden, die der Hausfrau die Arbeit erleichtern sollten, ging Charlotte Perriand einen Schritt weiter: Sie beschäftigte sich mit der Verbindung zwischen Küche, Wohn- und Esszimmer und verwandelte die Durchreiche in ein von beiden Seiten zugängliches Regal mit Fächern und Schubladen. Dieses Möbelstück ersetzte sie fünfzehn Jahre später in der Unité d’habitation «Cité Radieuse» in Marseille (1947–1952) durch eine Theke, womit sie die Küchen-Bar erfand, die sie von da an in immer neuen Formen variierte (Abb. 02). Seit sie sich mit Le Corbusier auf den Internationalen Kongress Moderner Architektur (CIAM II, 1929) in Frankfurt vorbereitete, untersuchte sie die Möglichkeiten einer «Wohnung für das Existenzminimum» – eine Beschäftigung, die in den 1970er-Jahren im Entwurf eines 27 m² grossen Vierbettappartements für die Wintersportstation Les Arcs in Savoyen mündete. Die Grösse des Projekts (30 000 Betten für drei Anlagen) zwang zum Einsatz vorgefertigter Teile. Charlotte Perriand sah eine an den Küchenblock angehängte Badkabine vor.

Eine Wohnung, zwei Studios und viele Fragen

Der 2011 fertiggestellte Umbau einer Wohnung in der Altstadt von Saragossa erlaubt insofern eine thematische Anknüpfung an diese letzte grosse Arbeit Charlotte Perriands, als es sich auch hier um eng bemessene Zweitwohnungen mit modular-funktionalen Küchen- und Badezimmerblöcken handelt. Ein Madrilene, der ein paar Tage pro Woche in der Hauptstadt Aragons verbringt, suchte dort ein Pied-à-terre. Er entschied sich für den Kauf einer Wohnung, die mit 75 m² zu gross war und die er vom Architekturbüro elii umbauen liess, um eine Hälfte zu vermieten. Die drei Teilhaber von elii – Uriel Fogué Herreros, Carlos Palacios Rodríguez und Eva Gil Lopesino, die 2002, 2003 respektive 2009 an der Technischen Hochschule für Architektur in Madrid diplomiert haben – schlugen eine klare Trennung vor. Sie verdoppelten die Sanitäreinrichtungen und die Küchenecken und ordneten sie um eine Türschleuse an. Die technischen Installationen wurden unter einem doppelten Fussboden versteckt, in den eine Badewanne oder ein Duschbecken eingelassen sind. So bleibt auf beiden Seiten möglichst viel Raum frei.

Die Architekten rühmen die «funktionale Flexibilität» der beiden Studios, die ihnen zufolge daraus resultiert, dass der Serviceblock hinter Storen versteckt und auf diese Weise in eine fensterlose Wand verwandelt werden kann. Die zwei Stufen, die dank einem fluoreszierenden Anstrich von innen leuchten, können als Nachttisch benutzt werden, und das Bett lässt sich unter den Steg schieben. Ein Bügeltisch auf Rollen – der stark an das herunterklappbare Bügelbrett Margarete Schütte-Lihotzkys erinnert – könnte auch als Frühstücksbar dienen. Der zweite grosse Vorzug der Studios sei die elektronische Ausstattung, so die Architekten. Sie soll den Energieverbrauch der Bewohner verringern. Wie elii erklärt, sind die Studios wie Hotelzimmer mit einer Magnetkarte zugänglich; der Strom schaltet sich beim Verlassen der Studios automatisch ab. Man kann also ruhig vergessen, das Licht auszumachen, das System kümmert sich darum. Eine an der Decke angebrachte Anlage zeigt den Energieverbrauch des jeweiligen Nutzers in Euro an. Überdies werden die Daten an ein facebook-ähnliches soziales Netz gesendet, wo die am Netz Beteiligten die Energieverschwendung oder -sparsamkeit der Studiobewohner im Auge behalten können. Die Kommunikation zwischen den beiden Nachbarn soll durch eine Lichtanlage in der Türschleuse erleichtert werden. Die Wandbeschichtung speichert das Licht und bewahrt eine Zeit lang die Spur jedes Vorbeigehens. Man kann auch Botschaften hinterlassen, zum Beispiel indem man als Begrüssung die Hand auf die Wand legt: Der Abdruck bleibt sichtbar, wenn das Licht ausgeht. Energetisch gesehen zeugen diese Einrichtungen allerdings von einer gewissen Naivität: Die neuen Technologien verbrauchen nicht nur viel Energie, für ihre Herstellung werden mit Seltenen Erden auch wertvolle Rohstoffe benötigt. Zudem bleiben Recherchen mit einer Suchmaschine oder in einem sozialen Netzwerk, wie sie die Architekten von elii vorschlagen, nicht ohne Auswirkungen auf die Umwelt.

Das Leben auf einen Bildschirm reduziert

Insofern vermag das Projekt von elii dem Vergleich mit den Idealen der frühen Moderne nicht standzuhalten. Es ist weder modular noch funktional in dem Sinn, wie es etwa Charlotte Perriand verstand. Hier verfügt jeder Bewohner über 35 m², weit jenseits der Dichte der Cité Radieuse oder der Appartements in Les Arcs. Zudem stellt sich die Frage, ob man in diesen Studios je wirklich kochen wird – wahrscheinlicher ist, dass man sich mit dem Aufwärmen von Fertiggerichten begnügt. Vor allem aber ist der Funktionalismus der Studios derart exzessiv, dass sich kaum Leben darin entfalten kann. Für Charlotte Perriand sollte das Wohnen ein Vergnügen sein, ein täglich neues Fest; doch dafür ist ein gastlicher Raum nötig.

Ob die kühlen Einbauten und elektronischen Gadgets der beiden Studios zu einem längeren Aufenthalt einladen, ist zweifelhaft. Gäste sind erst recht unwahrscheinlich. Hier scheint alles auf einen gemeinsamen Nenner reduziert, den Bildschirm. Buchstäblich zentrales Element der Wohnung, verkündet er eine Glückseligkeit, die man nicht recht teilen mag. Die weissen Storen können «als Bildschirm dienen» (also zum Zappen), ohne die räumliche Anordnung wirklich zu verändern. Schliesslich wird in der ganzen Dokumentation des Projekts sorgfältig alles Tageslicht ausgeschlossen, obwohl sich hinter dem Fotografen in Wirklichkeit eine Fenstertür zum Balkon öffnet. Kurz: Die Aussenwelt scheint nur auf den Bildschirmen zu existieren. Unempfänglich für solche Kritik sprechen sich die Architekten für eine Architektur aus, die «über den vorherrschenden Anthropozentrismus hinausgeht» und den Menschen als einen Akteur unter anderen betrachtet, «als Knoten in einem Netz». Die Unterscheidung zwischen dem Aussen und dem Innen einer Wohnung ist für sie obsolet. «Bei einem Projekt wie diesem», erklären sie, «interessiert uns die Erkundung der architektonischen Auswirkungen einer Weltsicht, die das Wohnen als einen Raum innerhalb eines Netzes von Transaktionen und des Austauschs begreift.» Hier kommt ein Gesellschaftsbild zum Ausdruck, von dem frühere Generationen höchstens im Rahmen von abschreckenden Science-Fiction-Szenarien geträumt haben.[03] Ob eine solche Vorstellung des fast ausschliesslich virtuellen Zusammenlebens zu reellen Wohnformen führt, die das menschliche Bedürfnis nach Behaglichkeit zu befriedigen vermögen, bleibe indessen dahingestellt.


Anmerkungen:
[01] Marcel Breuer, Mode – Modern, in: Das Werk, Nr. 11/1932, S. 337–351. Die Zitate stammen von S. 337, 338 und 378.
[02] Von der zunehmenden Beschäftigung mit Charlotte Perriands Werk zeugten in den letzten Jahren diverse Ausstellungen, zum Beispiel 2005 im Centre Pompidou, 2010 im Museum für Gestaltung Zürich und 2011 im Petit Palais in Paris.
[03] Etwa in Ray Bradburys 1953 erschienenem und 1966 von François Truffaut verfilmtem Roman «Fahrenheit 451», in dem das selbstständige Denken mittels Drogen und Videowänden verhindert werden soll, weil es als antisozial gilt.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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