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TEC21 2013|03-04
Farbe als Material
TEC21 2013|03-04
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Farbe gegen Funken

Farben als Material, in Form von Beschichtungen auf Wänden und von Bodenbelägen, können mehr als nur ihre offensichtliche ästhetische Funktion erfüllen, einen visuellen Effekt, eine Stimmung zu erzielen. Mit der plastischen Wirkung dicker, auch strukturierter Anstrichschichten lässt sich der Raum selbst gestalten, wie dies Hand in Hand mit dem plastischen Potenzial der Farbe an sich bereits von den Verfechtern des Neuen Bauens erkundet wurde.[01] Auch aus technischer Sicht können Beschichtungen und Bodenbeläge wichtige Aufgaben in einem Gebäude übernehmen: Elektrisch ableitfähige Beschichtungen und Bodenbeläge bannen die Gefahren für Menschen und Material, die von elektrostatischen Entladungen ausgehen.

11. Januar 2013 - Severin Werner
Wahrscheinlich haben wir das alle schon einmal erlebt: Man bewegt sich ahnungslos durchs Büro, ein Ladenlokal oder eine Werkstatt, will sich an einem Geländer festhalten, hört ein leises Knistern und zuckt im gleichen Moment wegen eines kleinen Stromschlags zusammen. Die Ursache dafür sind statische elektrische Ladungen, die sich beim Gehen über einen nicht ableitfähigen Bodenbelag aufbauen können. Diese Ladungen sind je nach Untergrund unterschiedlich gross. Die Entladungen der gespeicherten elektrischen Ladung werden vom Menschen ab einer Spannung (elektrische Potenzialdifferenz) von ca. 3000 V wahrgenommen. Die Potenzialdifferenzen können bis zu 35 000 V betragen und entladen sich dann meist über einen kleinen Funkenschlag, der ab ca. 5000 V sichtbar ist. Solche Funken bergen ein Gefahrenpotenzial für Menschen, Material und Geräte und sind auch ein kommerzielles Risiko. Elektronische Bauteile können schon durch eine Entladung von unter 100 V beschädigt werden.

ESD-Beschichtungen schützen vor gefährlichen Funken

Mögliche Gefahren sind beispielsweise Explosionen in lösungsmittel- oder staubhaltiger Atmosphäre oder Ausfälle von Elektronikbauteilen in der Halbleiterindustrie. Die bedrohlichen Auswirkungen statischer Entladungen rückten am 6. Mai 1937 in Lakehurst (USA) auf dramatische Weise ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit, als das mit Wasserstoff gefüllte deutsche Luftschiff «Hindenburg», damals das grösste Luftschiff aller Zeiten, bei der Landung in Brand geriet und in kürzester Zeit zerstört wurde (Abb. 01). Diese wohl bekannteste und folgenreichste durch statische Entladungen ausgelöste Katastrophe forderte 36 Todesopfer und beendete die kurze goldene Ära der weltweiten zivilen Luftschifffahrt. Auch ohne Explosion und Brand können elektrostatische Entladungen lebensgefährlich werden, wenn sie zum Ausfall wichtiger Bauteile etwa in medizinischen Geräten oder in der Autosicherheitstechnik führen. Elektrostatische Ladungen bilden sich bevorzugt an den Berührungspunkten zwischen verschiedenen Materialien, wie etwa zwischen kunststoffbasierten Bodenbelägen und Gummischuhsohlen. Diesem Phänomen kann vorwiegend an den Kontaktstellen in Form von ableitfähigen Beschichtungen, vor allem auf den Böden, entgegengewirkt werden. Auch an Wänden lassen sich ableitfähige Beschichtungen applizieren, der Anteil solcher Anwendungen ist gegenüber den Bodenbelägen aber marginal. Die Schutzfunktion von ableitfähigen Beschichtungen, meist als ESD-Beschichtungen bezeichnet (ESD = Electrostatic Discharge = elektrostatische Entladung), beruht darauf, dass sie elektrostatische Ladungen schnell und sicher in eine definierte Erdungsstelle ableiten (Abb. 04), ohne dass dabei grosse Potenzialdifferenzen entstehen. Wird diese Schutzfunktion erfüllt, kann es aufgrund des fehlenden Potenzialunterschieds an der Oberfläche keine unkontrollierten Entladungen und damit keine Funkenbildungen geben.

Einsatzbereiche und Anforderungen

Die Haupteinsatzgebiete von ESD-Bodenbeschichtungen liegen in der Halbleiterindustrie, in der Autoindustrie, in der Pharma-/Chemieindustrie und im Spitalbereich. Bedarf an solchen Beschichtungen besteht sowohl für explosionsgefährdete Bereiche als auch auch für Reinräume, in denen die Ablagerung von Staub infolge elektrostatischer Anziehung verhindert werden muss. Prüfnormen und Grenzwerte stellen sicher, dass die praxisrelevanten Anforderungen an ableitfähige Beschichtungen erfüllt werden. Materialprüfinstitute bestimmen die Eigenschaften der angebotenen Systeme und kontrollieren vor Ort die Konformität der applizierten Beschichtungen.

Da aber Anstriche und Beschichtungen auch eine ästhetische Funktion übernehmen, ist es wichtig, dass für die Farbtöne von ESD-Beschichtungen ein breites Spektrum zur Auswahl steht. Die Beläge können nach RAL oder nach den NCS-Farbkarten abgetönt werden.

Die Grenzwerte sind vom Einsatzgebiet abhängig. In der Prüfnorm SN EN1081, einer der am häufigsten angewendeten Normen für ableitfähige Beschichtungen, sind keine aufgelistet. Grenzwerte sind in der SN EN 61340-5-1, der Dachnorm für den ESD-Bereich, definiert.

In ihr wird für einen ableitfähigen Bodenbelag ein Erdableitwiderstand von <109 Ohm vorgeschrieben.[2] Einen ähnlichen Wert von <108 Ohm gibt die IHS-Richtlinie, die die Anforderungen an die Bodenableitfähigkeit in medizinisch genutzten Räumen in der Schweiz regelt, für die Klassen 3 und 4 vor.[3] Diesen Wert findet man auch in der ATEX 137 bzw. dem SUVA-Merkblatt «Explosionsschutz», das die ATEX 137 für die Schweiz konkretisiert.[4]

ergänzende massnahmen Ein ableitfähiger Bodenbelag allein nützt aber noch nicht viel. Auch alle Einrichtungs-, Nutz- und Kleidungsgegenstände müssen an ein solches System angepasst sein. So müssen z. B. Schuhe mit ableitfähiger Sohle getragen werden, und Rollen von Stühlen müssen ebenfalls aus einem ableitfähigen Kunststoff bestehen.[5] Personen, die sich in ESD-geschützten Räumen aufhalten, müssen mit Handgelenkbändern zur Erdung ausgestattet sein, um gegebenenfalls entstehende Ladungen abzuleiten und unschädlich zu machen.

Die Einhaltung der Vorgaben für den ESD-Schutz wird durch die Messung des Ableitwiderstands zwischen einem beliebigen Punkt auf der Beschichtung und der Erdungsstelle überprüft. Dabei wird eine Gleichspannung von meist 100 V mittels einer Sonde zwischen der Oberfläche der Beschichtung und der Erdungsstelle angelegt. Ist der Boden ableitfähig, so fliesst ein Strom zwischen der Sonde über den Bodenbelag zur Erdung, und der Widerstand des Bodensystems kann gemessen und mit den Vorgaben verglichen werden. Ist der Widerstand extrem hoch, so ist die Beschichtung nur gering oder nicht ableitfähig; sie wirkt isolierend und weist keine ESD-Schutzwirkung auf. Die Art der Sonde ist abhängig von der Prüfnorm. Bei der SN EN 1081 erfolgt die Messung mit einer Dreipunktelektrode, die mit einer Anpresskraft >30 kg auf den Boden gepresst wird (Abb. 06).

Zwei Arten von ESD-Bodenbeschichtungssystemen

Die ältere Generation von ableitfähigen Bodenbeschichtungssystemen sind Systeme, deren Leitfähigkeit auf einem hohen Anteil an Grafit oder Russ beruht (gelb in Abb. 02 und 03). Darunter werden vorab Kupferbänder installiert, die in regelmässigen Abständen (von der Grösse der Fläche abhängig) an Erdungspunkte angeschlossen sind und die Verbindung zur Erdung sicherstellen. Auf eine leitfähige Grundierung wird dann das ableitfähige Decksystem appliziert. Die Kunstharz-Bindemittel des gesamten Aufbaus enthalten vertikal ausgerichtete Kohlefasern, die die Ableitung der Ladungen nach unten zum Kupferband gewährleisten. Bei durchgehend ableitfähigen Beschichtungen mit Grundierung wird die Farbe durch die Pigmente im Deckanstrich bestimmt. Die eingesetzten Kohlefasern können besonders im hellen Farbtonbereich sichtbar sein. Dies hat allerdings eher einen leichten Einfluss auf die Oberflächenstruktur (bzw. auf den Oberflächenglanz) als auf den Farbton.

Volumenleitfähige Beschichtungen

Bei diesen neueren Entwicklungen wird die Ableitfähigkeit des Systems durch Füllstoffe oder Additive gewährleistet. Das können Salze (Halbleiter) oder feine Metallsplitter sein. Ein Vorteil der volumenleitfähigen Systeme gegenüber dem konventionellen Aufbau besteht darin, dass sie als dünne Schicht auf den meisten bestehenden, nicht leitfähigen Böden appliziert werden können (Abb. 05 und 07) und keine leitfähige Grundierung mit Kupferleitbahnen benötigen.[6]

Volumenleitfähige Beschichtungen lassen sich wegen der benötigten höheren Füllgrade mit leitfähigen Füllstoffen nicht ganz hell abtönen. Helle Grautöne sollten aber in den meisten Fällen erreichbar sein. Da hier keine dunklen Fasern eingesetzt werden müssen, um die Leitfähigkeit aufrechtzuerhalten, wird dafür die Oberflächenstruktur nicht beeinflusst. Bei volumenleitfähigen Beschichtungen ist die Reinigung besonders zu beachten. Durch zu aggressive Reinigungsmittel oder zu schwere Geräte werden entweder die Metallsplitter ankorrodiert oder die Salze aus dem Boden ausgewaschen. In beiden Fällen wird die Ableitfähigkeit der Beschichtung mittelfristig verringert und geht im Extremfall verloren. Bei diesen Systemen können auch mechanische Einwirkungen wie hohe Punktlasten (Befahren mit Staplern) die Lebensdauer der Beschichtung verringern.

Als Alternative für geringere Anforderungen kommen die seit Langem bekannten Steinholz- und Magnesiabeläge[7] in Betracht. Gemäss der Norm SIA 252 gelten sie dank ihren hygroskopischen Eigenschaften ab einer relativen Luftfeuchtigkeit von 45 % als «bedingt» ableitfähig, was für wenig anspruchsvolle Anwendungen ausreichend sein kann.


Anmerkungen:
[01] Roth, Alfred, Architektur – Malerei – Skulptur. Von der Wandmalerei zur Raummalerei, in: Werk 36 (1949), H. 2, S. 52–60.
[02] Ohm (Ω); Einheit des elektrischen Widerstands: 1 Ω = 1 V/A; benannt nach dem deutschen Physiker Georg Simon Ohm (1789–1854).
[03] IHS: Ingenieur Hospital Schweiz (Organisation von Ingenieuren, Architekten, Planern, Technikern etc. im Spitalbereich); www.ihs.ch. In der Norm SN SEV 1000-2000, Kapitel 7.10 werden Schutzkategorien für medizinisch genutzte Räume definiert: Schutzkategorie 3: «Geräte am und im Patienten», Schutzkategorie 4: «Operationen, Intensivmedizin».
[04] ATEX: Kurzbezeichnung für die Leitlinien der Europäischen Union auf dem Gebiet des Explosions- schutzes (Französisch: ATmosphère EXplosive). Die ATEX-Betriebsrichtlinie 1999/92/EG wird wegen des relevanten Art. 137 des EG-Vertrags meist kurz als «ATEX 137» bezeichnet.
[05] Ähnlich wie bei den Bodenbelägen wird die Leitfähigkeit von Schuhsohlen, Rollen etc. durch eingelegte Metalldrähte oder -bänder bzw. durch dem Kunststoff beigemischte Füllstoffe oder Additive eingestellt.
[06] Der Marktanteil der volumenleitfähigen dünn- und dickschichtigen Systeme nimmt in den letzten Jahren wegen ihrer breiten Einsatzgebiete und der kürzeren Applikationszeiten zu.
[07] Auf einer Verbindung von Magnesiumkarbonat MgCO3 (Magnesit) und Magnesiumchlorid MgCl2 als Bindemittel basierende Industriebodenbeläge mit Sägemehl oder Holzspänen als Füller (als Holzzement bezeichnet).

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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