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TEC21 2013|09
Vierfach verdichten
TEC21 2013|09
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Vierfach verdichten

Um die Landschaft zu schonen, Energie zu sparen und die Mobilität zu begren zen, müssen unsere Siedlungen dichter werden. Das löst Widerstand, dabei kann Verdichten die Lebensqualität steigern. Die Frage ist nur: wie? Als Auftakt zur TEC21Heftserie «Dichte» versammelt dieser Beitrag Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen. Er liefert keine Rezepte, sondern will bisher vernachlässigte Aspekte des Verdichtens in die Dis kussion einbringen. Dazu stellt er eine These auf: Verdichten ist nur nachhaltig und mehrheitsfähig, wenn es vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

22. Februar 2013 - Ruedi Weidmann
Dass wir dichter bauen müssen, ist in Planerkreisen heute unbestritten. Auch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben gezeigt, dass sie gewillt sind, die Zersiedelung zu stoppen. Doch niemand ist derzeit in der Lage, aus den vielen Aspekten einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung die Vision eines dichten, nachhaltigen Quartiers zusammenzufügen, eine Vision, die bauliche, ökologische, technische und soziale Themen verbindet und wirtschaftliche Überlegungen und politische Schwierigkeiten berücksichtigt. Wie werden solche Quartiere aussehen? Wie wird man dort leben? Was ist ein 2000-W-1t-CO2-pro-Kopf-und-Jahr-Lebensstil?

Mehr bauliche Dichte hätte viele Vorteile: Sie würde helfen, die Zersiedelung zu bremsen, Energie zu sparen, Verkehr zu reduzieren, Infrastruktur und öffentliche Verkehrsmittel besser auszulasten und noch mehr.[1] Doch ein Bonmot in Planer und Politikerkreisen besagt, alle Verdichtungsprojekte hätten einen Feind: den Nachbarn – und den fürchten alle. In Diskus sionen unter Befürwortern baulicher Dichte herrscht Ratlosigkeit, wie dem befürchteten Wider stand begegnet werden könnte. Und zuweilen scheint auch auf, wie tief die städtebaulichen Dogmen der Moderne, das Auflockern der Besiedlung und das Trennen der Funktionen, in Fleisch und Blut übergegangen sind. So verkünden heute alle fast unsono: «Verdichten ohne Verlust an Lebensqualität.» Warum nicht: «Mehr Lebensqualität dank Verdichten»? Wieso sollen wir die Energie und Umweltkrise nicht dazu nutzen, besser weiterzuleben als bisher? Und so ist es bis jetzt – nebst gesetzlichen Einschränkungen, veralteten Denk weisen und offenen Fragen – vor allem fehlender Mut, der Projekte verhindert, die wirklich dicht genug wären, um wirkungsvoll im Sinn der Nachhaltigkeit zu sein.

Die Bauwirtschaft hingegen weiss, wie sie die Gunst der Stunde nutzen will: «Zur nachhaltigen Umgestaltung des Gebäudeparks Schweiz ist der vermehrte Abbruch und Neubau von Immobilien erforderlich», behauptet der Verein Greenbuilding. Das steht im Widerspruch zu einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, grauer Energie und kulturellem Erbe. Trotzdem gibt es im Namen der Energiewende vorläufig viel politischen Support für diese grobe Ersatzstrategie.[2] Eine nachhaltige Siedlungsentwicklung verlangt jedoch nach differenzierteren Konzepten.

Um nachhaltige Lebensstile zu entwickeln, werden wir viele Dinge und Tätigkeiten wieder mischen müssen, die im 20. Jahrhundert voneinander getrennt wurden. Man versprach sich davon bessere Lebensbedingungen und Rationalisierungen. Doch heute merken wir, die Art und Weise, wie wir unser Leben organisiert haben, hat viele Irrationalitäten und ­ungewollte negative Folgen für die Gesellschaft und die Umwelt hervorgebracht: Verkehr produziert, Energie, Ressourcen und Landschaft verbraucht, die Artenvielfalt dezimiert und immense Infrastruktur, Sozial und Gesundheitskosten generiert. Wir brauchen wieder Siedlungsmuster mit kurzen Wegen: Was wir im Alltag benötigen, muss zu Fuss erreichbar sein.

Bisher realisierte Beispiele für verdichtetes Bauen, oft Neuüberbauungen von Industrie­ brachen oder Ersatzneubauten von Genossenschaftssiedlungen oder von Villen, bringen zwar energieeffizientere Gebäude und mehr Wohn oder Arbeitsraum, reproduzieren jedoch meist die (zonenkonforme) monofunktionale Nutzung und damit für weitere Jahrzehnte die irrationale Stadtstruktur des 20. Jahrhunderts. Zu kürzeren Wegen tragen sie nichts bei.

Vierfach verdichten

In einem Schweizer Durchschnittsquartier oder dorf mit den Qualitäten, die es heute hat, die Zahl der Wohnungen, der Menschen und der Autos zu verdoppeln – das reizt die ­Bewohner selbstverständlich nicht. Was hätten sie davon? Deshalb müssen Ortschaften und Quartiere nach dem Verdichten mehr Lebensqualität bieten als heute. Wer verdichten will, muss von dem erzählen, was dank höherer Dichte möglich wird: Sie bringt mehr Menschen und damit mehr Nachfrage ins Quartier und ermöglicht dadurch mehr Versorgungs, Kultur und Freizeitangebote. Dieser einfache ökonomische Zusammenhang zwischen Dichte und Nutzungsvielfalt lässt sich auf einem Spaziergang durch die nächstgelegene Stadt überprüfen. Dörfer und Quartiere, in denen es dank mehr Einwohnern wieder eine Post, Läden und Cafés gibt – das wäre ein Gewinn. Grössere Nutzungsvielfalt hebt die Lebensqualität. Auch weil sie den Verkehr reduziert, indem sie die Wege verkürzt. Verdichten heisst also, nicht nur über Gebäudehöhen und formen nachzudenken, sondern öffentlich über Nutzungen zu diskutieren: über ihre Art und ihre Mischung, ihre Anteile und ihre Verteilung. Sinnvollerweise auf Dorf und Quartierebene, aber auch bei jedem Bauprojekt.

Doch es braucht noch mehr. Es kann ja nicht sein, dass wir das Leben nur noch aushalten, wenn wir pro Person 50 m² Wohnfläche belegen und jedes Wochenende in die Berge fahren. Warum sollen die verdichteten Quartiere nicht so schön werden wie unsere Ferienziele?

Hier tut eine Trendumkehr Not: Die Wohnung sollte nicht mehr als dauernd wachsendes ­privates Reich die strukturellen, ästhetischen und emotionalen Defizite unserer Siedlungen kompensieren müssen. Würden unsere Häuser, Quartiere, Dörfer und Städte ein reiches Angebot an angenehmen Räumen für Arbeit und Freizeit, Einkauf und Erholung bieten und unsere Strassen und Plätze eine hohe Aufenthaltsqualität, dürfte die Wohnung als privater Rückzugsort wieder kleiner werden. Das wäre ein substanzieller Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung.

Folgende These soll das Spektrum der Faktoren erweitern, die in der Diskussion um das Verdichten eine Rolle spielen sollten: Verdichten (in einem Mass, wie es nötig ist, um eine nachhaltige Siedlungsstruktur zu erreichen) ist politisch nur möglich, wenn es gleichzeitig vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

1. Baulich verdichten

Bauliches Verdichten allein bringt nichts ausser Widerstand der Nachbarn und eine Perpetuierung oder gar Akzentuierung der strukturellen Probleme unserer heutigen Ortschaften. Nachhaltige Häuser müssen nicht nur Platz und Energie sparen, sondern einen gesamthaft nachhaltigen Lebens, Wohn und Arbeitsstil ermöglichen. Das würde bedeuten, dass Arbeiten und Wohnen, Einkaufen und Erholen wieder zusammenrücken (damit Verkehr vermieden wird), die Generationen wieder Nachbarn werden (damit die Pflegekosten nicht weiter steigen) und die verschiedenen Bevölkerungssegmente wieder näher beisammen leben (damit sie sich nicht weiter voneinander entfremden). Das Trennen ist vorbei. Die Ortsplanung mittels Zonen mit verschiedenen Funktionen ist nicht mehr zeitgemäss. In dieser Hinsicht dürfte es sich lohnen, nach Genf zu schauen, das bis 2030 um 100.000 Einwohner und 50.000 Arbeitsplätze wachsen will und 50.000 neue Wohnungen plant. Der kantonale «Richtplan 2030», den die Kantonsregierung dieser Tage dem Parlament vorlegt, sieht dazu 12 Grossprojekte und 16 strategische Entwicklungsprojekte vor. Sie liegen in locker überbauten Gebieten oder neu eingezontem Land, jedoch alle an neuen ÖVLinien. Die Nutzung ist gemischt und die Dichte hoch (Ausnützungsziffern bis 3, teilweise höher). Der Wohnanteil schwankt um 80%, wobei 25% der Wohnungen gemeinnützig und weitere 25% subventioniert sein müssen. Im Prinzip wird so die Qualität der dichten, funktional und sozial vielfältigen Genfer Innenstadt kopiert. Der Richtplan fördert aber das Verdichten und die funktionale und soziale Durchmischung auch in den bestehenden Stadt und Vorstadtquartieren; dort werden Ausnutzungsziffern von 1.5 bis 3 in zentralen, gut vom ÖV erschlossenen Gebieten und 1 bis 1.5 in allen übrigen stadtnahen Quartieren angestrebt.3 Gleichzeitig erhalten der Schutz von Kulturland und Naturräumen und der Denkmalschutz mehr Gewicht. Damit ist der neue Genfer Richtplan ein historischer Schritt zur Überwindung der Ortsplanung mittels monofunktionaler Zonen.[4] Für die Häuser heisst das: Dem Hybrid gehört die Zukunft – unten Läden und Restaurants, Veranstaltungsorte und Märkte, darüber Schulen, Amtstellen und Büros, oben und hinten hinaus Wohnungen, auf den Dächern Gärten und Solaranlagen. Damit all diese Funktionen überleben können, braucht es Ausnützungsziffern von 2.5 bis 4. Die dichteste in Zürich geplante Siedlung mit gemischter Nutzung, ein Neubau der Genossenschaft Kalkbreite, hat eine Ausnützungsziffer von 2.8, andere Siedlungsprojekte liegen zwischen 1.1 und 2.6.[5] An der Europaallee, dem neuen Stadtteil am Hauptbahnhof, erlaubt der Gestaltungsplan eine Ausnützung von etwa 4.1, doch ist der Wohnanteil dort minimal.[6]

Wie müssen Häuser und der Raum dazwischen gestaltet sein, damit wir solche Dichten nicht nur aushalten, sondern angenehm finden? Damit wir uns in der Dichte erholen können, ohne sie verlassen zu müssen? Wo kommt welche Nutzung hin? Wie gestalten wir die überquellende Markthalle, den stillen Dachgarten, die ruhige Wohnung? Was ist ein angemessener architektonischer Ausdruck für den Hybrid? Die Frage der Gestaltung betrifft auch die Aussenräume, denn die Aufenthaltsqualität auf Strassen, Höfen und Plätzen, in privaten und öffentlichen Grünräumen wird umso wichtiger, je dichter das Siedlungsmuster ist.

2. Funktional verdichten

Funktional verdichten meint: die Vielfalt der Funktionen im Haus, in der Strasse, im Quartier fördern und innovativ kombinieren. Als Resultat winken grössere kulturelle und soziale Abwechslung, mehr Dienstleistungen, kurze Wege, weniger Verkehr, mehr Lebensqualität. Doch nicht in jedem Haus trägt sich ein kommerzielles Erdgeschoss. Gefragt wäre hier mehr mikroökonomisches Wissen über den Zusammenhang von Stadtgestalt und Überlebensbedingungen für Kleinbetriebe.

Vor allem aber liegt in der innovativen (Re)Kombination von Funktionen, die im 20. Jahrhundert getrennt wurden, eine neue Art von Effizienz brach. Das zeigen erste, noch vorsichtige Versuche, etwa in der Zürcher Genossenschaft Dreieck[5]: Möglichkeiten sind das Verbinden zweier Branchen in Läden wie «Buch & Wein», ServicePublicAngebote durch Gewerbe betreiber oder fallspezifische Kombinationen eines kommerziellen Geschäfts mit einer gemeinnützigen Dienstleistung. So lässt sich beispielsweise die Poststelle in einer Gemeinde halten, wenn sie in die Apotheke integriert wird, oder ein Café kann überleben, wenn der Wirt auch für das Altersheim kochen und so mangelnden Umsatz mit dem Lohn von der Gemeinde wettmachen kann.

Wir können auch Berufe wieder einführen, die wir einst einer vermeintlich fortschrittlichen Technik geopfert haben. Ein Portier beispielsweise bietet einer Siedlung mehr als eine ­Gegensprechanlage, nämlich vielfältige Dienstleistungen von der Türkontrolle über das Postverteilen, Blumengiessen und Reparaturen bis zum Kinderhüten. Und vielleicht teilt sich eine Gruppe von Pensionierten den Portierjob und entwickelt dabei weitere nachhaltige Dienstleistungen, einen Mittagstisch für Kinder oder eine Kleiderflickwerkstatt? Dass das funktionieren kann, zeigen heute immer mehr Alterswohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser und der Boom beim ServiceWohnen.

Noch weiter gehen gegenwärtig innovative Genossenschaften wie Kraftwerk[1], «Mehr als Wohnen» und Kalkbreite in Zürich mit ihren grossen hybriden Bauprojekten.[8] «Wohnen wie im Hotel» ist das Stichwort: Die grosse Dichte bringt genug Leute zusammen, damit zahl reiche Dienstleistungen wie ein Kochteam und Annehmlichkeiten wie ein Wellnessbereich und somit höchste Lebensqualität auch für Leute mit schmalem Budget finanzierbar werden.

Es wäre nun nahe liegend zu überlegen, ob solche Dienstleistungen nicht auch eine Sub­sistenzstrategie wären. Ein Portier kann ja auch, wenn sich ein heisser Tag ankündigt, über die Laubengänge gehen und die Klappläden auf der Südseite schliessen. Das spart viele Elektromotoren. Kreative Kombinationen von Lowtech mit sozialen Tätigkeiten eröffnen im Siedlungsbau neue Möglichkeiten, wie nachhaltige Bilanzen auch anders als durch die bekannten Labels erreicht werden können. In einer nachhaltigen Siedlung wird möglicherweise vieles wieder von Menschen statt von Apparaten gemacht. Wichtig ist, dass Dienstleistungen, die in einer Siedlung oder Gemeinde erwünscht, aber nicht per se rentabel sind, aus verschiedenen Kassen finanziert werden können, wenn man sie geschickt kombiniert. Hier liegt ein noch nicht abschätzbares, enormes Potenzial für eine neue Art von gesellschaftlicher Effizienz und für funktionale Vielfalt. Natürlich bedingen alle diese Kombinationen mehr Aufwand und Sorgfalt bei der Erstvermietung und der Verwaltung. Erste Immobilienverwaltungen setzen aber bereits erfolgreich auf diese Strategie.[9]

3. Sozial verdichten

Nicht jede bauliche ist auch eine soziale Verdichtung. Wenn das zusätzliche Bauvolumen durch grösseren Wohnflächenkonsum pro Kopf «aufgefressen» wird, hat es keinen positiven Effekt auf das Quartierleben. Generell ist zu bedenken, dass die Mieten in dichteren Neubauten und aufgestockten Altbauten stets höher sind als im Altbestand, selbst bei gemeinnützigen Projekten. Wird Verdichten ohne soziale Auflagen möglich, treibt es Mieten und Bodenpreise in die Höhe. Das verdrängt bisherige Nutzer und Bewohner – häufig ältere Leute und Gewerbe – aus zentralen Lagen und fördert so die politisch wie volkswirtschaftlich unerwünschte soziale Segregation und die weitere Zersiedelung an den Rändern der Agglomerationen.

Bestehende soziale Netze, etwa funktionierende Nachbarschaften, sind vermutlich etwas vom Nachhaltigsten, was es überhaupt gibt. Wir sollten ihnen Sorge tragen und sie ­stärken, wo immer es geht (vgl. «Babel – Ein Quartier gestaltet seine Zukunft»). Werden sie auseinandergerissen und müssen sie durch Institutionen ersetzt werden – etwa Nachbarschaftshilfe durch Pflegeheime, soziale Kontrolle durch Polizei –, können enorme Kosten anfallen: im Verkehr, beim Sozialamt, im Gesundheitswesen, bei der Sicherheit und Prä vention, bei der sozialen Integration usw.

Damit solche Reboundeffekte vermieden werden, sollten Verdichtungsstrategien ganzheitlich und interdisziplinär evaluiert werden. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive braucht das Verdichten flankierende Massnahmen: den Erhalt billiger Wohn und Gewerberäume und einen Anteil günstiger Neubauten. Das liesse sich über Auflagen für Bauprojekte, durch Landkäufe der Gemeinden, gemeinnützige Bauträger oder kommunale Einrichtungen erreichen. Teure und bezahlbare Wohnungen kann man bauen, billige gibt es aber nur in Altbauten. Diese sind deshalb wertvolle Bausteine für nachhaltige Quartiere.

Verdichten kann aber auch eine Chance zur Stärkung sozialer Netze sein, wenn bei der ­Planung darauf geachtet wird, dass sich soziale Schichten, Berufe und Generationen wieder besser mischen können. Natürlich steckt in dicht bewohnten Siedlungen Konfliktpotenzial, etwa im Lärm der Nachbarn, was beim architektonischen Entwurf und bei der Organisation des Siedlungslebens berücksichtigt werden muss. Dichte Siedlungen mit einem vielfältigen Wohnungs und Dienstleistungsangebot und flexibel verfügbaren Räumen erleichtern aber auch gemeinsame Aktivitäten, Nachbarschaftshilfe, Entlastungen für Familien, das Betreuen alter und kranker Menschen, die Integration von Migranten und Alleinstehenden und die Aufrechterhaltung von sozialer Kontrolle im öffentlichen Raum. Sie tragen so zum gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt bei.

4. Historisch verdichten

Verdichten bringt Ersatzneubauten und neue Menschen in die Quartiere. Beides bedroht die lokale Identität, die Identifiktion der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrem Quartier – ihr Heimatgefühl. Dagegen wehren sie sich zurecht. Als politische Vorbedingung für das Verdichten muss deshalb wohl ein wesentlicher Teil des Vertrauten erhalten bleiben. Es darf nicht passieren, dass die verdichteten Quartiere überall gleich aussehen. Sie müssen Heimat bleiben und brauchen Einzigartigkeit, sonst werden sie zu Unorten.

Häuser und Stadtteile haben eine umso stärkere Identität, je mehr Menschen Erinnerungen damit verbinden. Das heisst, dass Identität Zeit braucht, um zu wachsen. Alte Bauten, Plätze und Winkel besitzen sie schon, sie ist ein Kapital, das leicht übersehen wird und lange Zeit braucht, um nachzuwachsen. Wir sollten es erhalten und pflegen. So kann ein Patchwork aus vertrauten alten und dichten neuen Bauten entstehen.

Für historisches Verdichten spricht auch die nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung. «Wir werfen heute noch zu viele ganze Bauwerke fort», sagt Ingenieur und EPFLProfessor Eugen Brühwiler. Und Paul Lüchinger, Projektleiter der neuen SIANorm 269 «Erhaltung von Tragwerken», meint: «Die Erhaltung ist einer der wirksamsten Beiträge des Baubereichs an die Nachhaltigkeit.»[10] Das widerspricht der Forderung der Bauwirtschaft nach genereller Förderung von Ersatzneubauten. Da wir nicht nur Energie und Landschaft, sondern auch die Ressourcen und das Kulturerbe schonen müssen, wird Bauen in Zukunft wohl vor allem heissen: umnutzen, umbauen, renovieren, restaurieren, ergänzen, aufstocken.[11] Die SIANorm 269 bietet hierfür die technische Handhabe. Die Bauwirtschaft wird deshalb nicht weniger zu tun haben, jedoch ihr Knowhow stärker auf Umbauten ausrichten müssen, bei denen sich neue Aufgaben mit hoher Wertschöpfung auftun und neue, auf das Instandsetzen und Umnutzen von Materialien und Bauteilen spezialisierte Berufe entstehen werden.

Das betrifft auch die Denkmalpflege. Unser Kulturerbe möglichst intakt den nächsten Generationen weiterzugeben gehört auch zur Nachhaltigkeit. Und zwar nicht einfach, weil es schön ist: Analog zur Artenvielfalt müssen wir lernen, die Baugeschichte als Genpool kon struktiven Wissens zu begreifen; als Reservoir von Bautechniken, Formen und Nutzungs weisen, die zu Zeiten entwickelt wurden, als die Ressoucen ebenfalls knapp waren und es weder Strom noch Erdöl gab. Auf diesen Wissensschatz an einfachen, ressourcenschonenden Bautechniken aus der präfossilen Epoche können wir beim Bauen im postfossilen Zeit alter zurückgreifen. Ein Beispiel dafür ist die wiederentdeckte Kellerlüftung in den Zürcher Baumeisterhäusern aus dem 19. Jahrhundert, die ohne Energieverbrauch allein durch das Gewicht kalter Luft funktioniert.[12]

Historisch verdichten[13] meint also, einen wesentlichen Anteil der Bauten und der gestalteten Aussenräume aus früheren Epochen zu erhalten, umzunutzen und allenfalls zu erweitern – wegen der günstigen Mieten, ihrer identitätsstiftenden Funktion, der darin gespeicherten grauen Energie und als Schaulager von ressourcensparenden Bautechniken. Wie viel soll stehen bleiben? Wer bestimmt, was bleiben darf? Woran hängen die Erinnerungen? Brauchen wir Inventare der lokalen Identitätsecken?

Fragen Aus all dem ergeben sich viele Fragen. Es ist klar, dass ein solches Programm für eine einzelne Disziplin zu komplex ist und auch nicht verordnet werden kann. Es muss interdisziplinär und im öffentlichen Dialog erarbeitet und zusammen mit der Bevölkerung konkretisiert und umgesetzt werden. Ebenso klar scheint uns, dass eine inhaltlich breitere Diskussion als bisher über die Definition von Wohlstand und von Lebensqualität in unseren Ortschaften nötig ist, über die Ziele und das Mass des Verdichtens und darüber, welche Teile unserer gebauten Umgebung wir behalten wollen. Als Diskussionsgrundlage wären konkretere Bilder und Beschreibungen der möglichen Zukunft hilfreich, dazu Inputs der Sozialwissenschaften und der Regionalökonomie. Ziel der Diskussion sollten Verdichtungsstrategien mit einer Art Gesamtnachhaltigkeitsbilanz sein und natürlich gebaute Beispiele, die man besuchen kann – damit Dichte nicht mehr Angst macht, sondern das dichte 2000WattQuartier ein Ort wird, wo wir gern leben möchten. Welcher Weg führt in eine nachhaltige Dichte? Soll das ganze Siedlungsgebiet aufgezont und für alle Nutzungen geöffnet werden? Oder muss das kontrolliert geschehen? Wie stark sollen wir aufzonen? Wer wählt die Teile aus, die wir davon ausnehmen wollen? Wie kann der Umbau gemeindeübergreifend koordiniert werden? Brauchen Kernstädte, Agglomera tionsgemeinden und Dörfer auf dem Land verschiedene Strategien? Und wie kommen wir zur gestalterischen Qualität, die nötig ist, damit die Dichte angenehm sein wird? Oder sollen wir die Zonenpläne lassen, wie sie sind, und arealweise mit Sonderbauvorschriften und Ausnützungsboni operieren, die an Auflagen geknüpft werden? Es dürfte dann massiv verdichten, wer viele Nutzungen, soziale Vielfalt, partizipative Verfahren und den Erhalt von Altbauten garantiert und die Bebauung in Wettbewerbsverfahren entwickelt. Was tun wir mit Baugesetzen, die Dichte verhindern? Sollen wir sie abschaffen, lockern oder ebenfalls als Pfand für hohe Qualität einsetzen?

Ingenieurwesen und Architektur in der Dichte

Höhere Dichten werfen auch technische Fragen auf: Reichen die Verkehrswege, Werk­leitungen und Kläranlagen noch aus? Das Bauen im Bestand braucht teilweise andere Baumethoden, schonendere und emissionsärmere, und neue Geräte. In dichten Ortschaften wird öfter und in engeren Verhältnissen gebaut, auch häufiger in die Höhe und in die Tiefe. Das heisst, dass Tragwerk und Erschliessung, Versorgung und Entsorgung der Bauten komplexer werden. Damit werden Ingenieurleistungen wichtiger.

Das Architekturschaffen hat sich im vergangenen Jahrzehnt stark mit Wohnungsgrundrissen beschäftigt. Das war nötig, um mit grossen Bautiefen umgehen zu lernen und die 3 und 4-Zimmer-Wohnung zu überwinden. Wird es sich nun vermehrt dem Umgang mit Dichte widmen? Dem Anordnen vielfältiger Funktionen in dichten Häusern und Quartieren? Wie seit je wird die Architektur eine Gestaltung finden müssen für die praktische Nutzung und die symbolische Bedeutung der wichtigen Orte. In einem nachhaltigen Quartier werden das vermutlich wieder vermehrt die Stellen sein, wo soziale Interaktion stattfindet, wo Wohnung und Haus, Haus und Stadt ineinandergreifen: Erdgeschosse, Eingänge, Durchgänge, Hallen, Gemeinschaftsräume, Höfe, gemeinsame Gärten und Terrassen, öffentliche wie kommerzielle Orte des Kollektiven. Häuser für nachhaltige Lebensstile werden wohl eher durchlässig als kompakt sein, die Räume eher verbunden als abgeschottet.

Architektur und Ingenieurbüros werden noch mehr Umnutzungskompetenzen brauchen, auch mit Wissen aus der Geschichte, dazu aber auch die soziale und kulturelle Kompetenz, sich neue Nutzungsweisen und ungewohnte Nutzungskombinationen vorstellen zu können und sie den Bauherrschaften vorzuschlagen. Die Ausbildung wird wohl noch mehr Interesse an der Sicht anderer Disziplinen wecken müssen und das Bewusstsein für den Gewinn bei interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Das Programm des Verdichtens hält jedoch auch mehr als genug genuin architektonische Aufgaben bereit: Je dichter die Siedlung, umso wichtiger und kniffliger wird ein kompetentes Anordnen und Gestalten aller Räume vom Schlafzimmer bis zum Stadtraum. Hingegen wäre zu überlegen, ob das Ausarbeiten von Wettbewerbsprogrammen künftig nicht konsequent interdiszplinären Teams überantwortet werden sollte. Denn das beste Architekturbüro kann nicht mehr viel ausrichten, wenn bereits in den Vorgaben funktionale, soziale oder konservatorische Fragestellungen vergessen gegangen sind.

Siedlungsentwicklung wird in der Architektur oft noch zu stark als formale Aufgabe betrachtet und von einer einzigen Aufgabe, vom Wohnen oder von sogenannten Leuchtturm projekten oder bestenfalls vom Stadtraum her gedacht und noch zu wenig vom konkreten, vielfältigen, komplexen Alltag der Bewohner aus. Wie auch immer eine nach haltige Siedlungsweise dereinst aussehen wird, sie kann wohl weniger denn je nur als bauliche Form oder als technisches Netz von Verkehrs und Leitungssträngen konzipiert werden, sondern wird vielmehr in gemeinsamer Entwicklung von gebauter Form, verwendeten Techniken und neuen Organisationsformen des sozialen Lebens gefunden werden müssen.


Anmerkungen:
[01] Schön beschreibt die Vorteile dichter Bauweise Vittorio M. Lampugnani in «Die Architektur der städtischen Dichte» in: Städtische Dichte, hrsg. von V. M. Lampugnani u. a. Zürich 2007, S. 11–18.
[02] Der Nationalrat hat 2012 eine Motion von FDPNationalrat Filippo Leutenegger gutgeheissen, die beim Ersatz von Gebäuden mit schlechtem Energiestandard Ausnahmen von der Zonenordnung fordert. Diese «Abwrackprämie» für Häuser läuft den Zielen der Raumplanung zuwider und benachteiligt die Eigentümer energiesparender Bauten.
[03] Plan directeur cantonal Genève 2030 (Mai 2011), S. 61–68.
[04] Vgl. TEC21 36/2011, Tracés 1516/2011 sowie «Genf handelt», Beilage zu Hochparterre 11/2011.
[05] Marcel Meili, Markus Peter Architekten AG: Freilager ABCD, Zürich 2012, S. 8–9.
[06] Angaben aus www.europaallee.ch.
[07] Zum Dreieck vgl. TEC21 6/2006, S. 11–14.
[08] Informationen zu Kraftwerk1: TEC21 42/2001, zur Kalkbreite: TEC21 25/2009, S. 8–9, zu «Mehr als Wohnen»: TEC21 26/2009, S. 8–9.
[09] Bekannt geworden ist die Fischer AG Immo bilienmanagement in Zürich, www.fischer97.ch.
[10] Beide Zitate aus: «Bauwerke lassen sich ertüchtigen» in: TEC21 24/2011, S. 33.
[11] TEC21 56/2011.
[12] TEC21 4243/2011, S. 22–28.
[13] Idee und Begriff des historischen Verdichtens verdanke ich dem Vortrag «1 m² 0815/s» von Marc Angélil, gehalten an der Schlusstagung zum NFP 54 am 8.6.2011 in Renens.

Ausnützungsziffer
Die Ausnützungsziffer bezeichnet das Verhältnis der Bruttogeschossfläche eines Gebäudes zur Parzellenfläche. Die Bruttogeschossfläche ist die Summe aller ober und unterirdischen Geschossflächen einschliesslich Mauer und Wandquerschnitten. Bei einer zur Hälfte zweistöckig und ohne Keller bebauten Parzelle ist demnach die Ausnützungsziffer 1.

Dichten am Beispiel Zürichs
Die Bebauungsdichte in den Siedlungsgebieten der Schweiz hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht etwa zu, sondern laufend abgenommen. Zahlen dazu sind nicht einfach greif und vergleichbar. Für die Stadt Zürich lassen sich aus den im Statistischen Jahrbuch 2012 ausgewiesenen Bruttogeschossflächen und den von Gebäuden und Umschwung besetzten Flächen folgende durchschnittlichen Ausnützungsziffern der Gebäude berechnen:
Ganze Stadt: 1.38
CityQuartier: 4.5 (Bahnhofstrasse)
RathausQuartier: 3.9 (Altstadt)
Aussersihl: 2.3 (Arbeiterquartier, Blockrandbebauung)
Kreis 6: 1.5 (bürgerliche Mehrfamilienhäuser und Gartenstadt)
Kreis 7: 1.0 (Zürichberg, bürgerliche Mehrfamilienhäuser und Villen)
Kreis 12: 0.9 (Schwamendingen, Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit)

Massvoll oder effektiv?
Um Ängsten in der Bevölkerung zu begegnen, wird heute oft «massvolles» Verdichten angestrebt. Doch möglicherweise sind gerade dabei die Reboundeffekte am grössten. Damit Effekte im Sinn einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung entstehen und bauliches Verdichten auch soziale und funktionale Dichte bewirkt, muss es vermutlich deutlich sein.
Die Metron AG zeigt in ihrer Publikation «7 Tools zur Innenentwicklung: die Metron Dichtebox» (Themenheft 27, Nov. 2011), dass die Gewinne des Verdichtens in ein bis zweistöckigen Wohnzonen am grössten sind, weil die Bewohnerzahl nicht linear mit der Stockwerkzahl zunimmt, sondern in dreistöckigen Zonen zwei bis dreimal so viele Menschen leben wie in zweistöckigen. Hingegen schafft die Aufzonung eines fünfstöckigen Quartiers um eine Etage nur 20% mehr Raum. Und weil das Aufstocken die Mieten verteuert, würde ein Teil der Bewohnerschaft durch kaufkräftigere Schichten ersetzt, die das zusätzliche Bau volumen mit grösserem Flächenkonsum kompensieren. Die höhere bauliche Dichte trüge hier also nichts zu einer höheren sozialen und funktionalen Dichte bei, sondern würde nur die soziale Segregation fördern. Verdichtungspotenzial besteht deshalb weniger in Ortszentren, die bereits dicht und vielfältig sind, sondern vor allem in den ausufernden monofunktionalen Gewerbe und Einfamilienhauszonen an den Ortsrändern.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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