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anthos 2013/1
Frankreich
anthos 2013/1
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Landschaftsatlanten und kartografisches Denken

Die Erstellung von Departement-Atlanten durch französische Landschaftsplaner seit 1995 wirft ­interessante Überlegungen zur Rolle des Entwurfs im Spannungsdreieck «Karte – Geografie – ­Landschaft» auf.

1. März 2013 - Sandra Parvu
Ein mit Tusche gezeichnetes Landschaftsbild von ­Leonardo da Vinci, das 1473 in dessen Atelier entstand, entzweit die Kritiker: Einige glauben darin das obere Arno-Tal zu erkennen, andere sind der Ansicht, die Komposition sei der Fantasie des Künstlers entsprungen.

Wie dem auch sei, für den Kunsthistoriker Daniel Arasse war diese Skizze die erste Darstellung einer abendländischen Landschaft. Nicht etwa, weil es sich um eine natürliche Gestaltung handelt – eine Festung und weitere Gebäude scheinen sich nämlich in der zweiten Bildebene zu befinden –, sondern weil die Natur als Ausgangspunkt für die Perspektive dient.[1]

Mehr als 600 Jahre nach dieser bedeutsamen Verschiebung der Sichtweise, zeigen die Departement-Atlanten die Landschaften heute weiterhin von einem ausserhalb der Stadt gelegenen Blickpunkt aus. Da sie dennoch zu der Kategorie «Dokumente des Städtebaus» gehören, spielen sie in Frankreich eine Rolle bei der Entwicklung der öffentlichen Politik im Auftrag des Staates unter der departementalen Treuhandschaft der Territorialgemeinschaft. Das französische Gesetz vom 8. Januar 1993 über den Schutz und die Erschliessung der Landschaften bildete gemeinsam mit den dazugehörenden Rundschreiben den Rahmen, in dem diese Atlanten erarbeitet wurden. Parallel zu diesem gesetzlichen Regelwerk beauftragte das ­französische Umweltministerium den Agraringenieur und promovierten Geografen Yves Luginbühl, der Forschungs­arbeiten zu verschiedenen Landschaftsthemen leitete, mit der Schaffung des methodischen Rahmens für die Umsetzung der Atlanten.[2]

In Frankreich wurde damit im Hinblick auf Gesetzgebung und Methodik Pionierarbeit geleistet, und die französischen Experten – unter ihnen auch Yves Luginbühl – haben mit ihren Erfahrungen einen wertvollen Beitrag zur Europäischen Landschaftskonvention im Jahr 2000 in Florenz geleistet. Dennoch hat trotz der Vereinheitlichung des Rahmenwerks jedes Departement seine eigenen Pflichtenhefte und Praktiken entwickelt, deren Eigenheiten schon im Titel der entsprechenden Dokumente ihren Ausdruck finden.[3]

Geschichtliche Perspektive

Der Landschaftsatlas als Dokument der Planung ist im Kontext einer über hundertjährigen Entwicklung von Verwaltungsinstrumenten zu sehen.[4] Mit den Anfängen des Tourismus konzentrierten sich die Debatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Schutz historischer Stätten und Denkmäler, die durch Industrieprojekte gefährdet waren. In fast regelmässigen Abständen – 1887, 1906, 1913, 1930 – wurden Gesetze zum Landschaftsschutz verabschiedet, die primär auf die Stärkung der staatlichen Möglichkeiten zur Einschränkung der Rechte von Privatbesitzern abzielten. Diese erste Periode könnte man als Ära der Geländeinventur und -gliederung bezeichnen. Trotz des Bruchs, der mit der Regierung von Vichy eintrat und über die Nachkriegsjahre bestehen blieb, herrscht dieser Ansatz noch immer vor, da es hauptsächlich um die Identifikation des Bestehenden und um dessen Schutz vor starkem Nutzungsdruck bei hohen Grundstückspreisen geht. Erst ab 1960 zeichnete sich die Idee ab, dieses Landschaftserbe in einem zusammenhängenden Ganzen zu erfassen, aus dem sich später der Begriff «Grand paysage» (weite Landschaft) ergab.

Die Entwicklung einer umfassenderen Reflektion über die Stellung der Natur und der Grünflächen im Flächennutzungsplan der Region Paris (PADOG) von 1960 und die Idee des damaligen Bauministers Pierre Sudreau, die Flächen nicht nur zu klassifizieren, sondern in die Entwicklung einer Region mit einzubeziehen, boten das Fundament für eine Geisteshaltung, die 1971 von Robert Poujade, dem Leiter des neuen Umweltministeriums, aufgegriffen wurde: «Man muss zulassen, dass die Landschaft sich massvoll entwickelt, jedoch unter der Kontrolle eines Landschaftsplans, damit ihre Grundzüge sich nicht verändern. Im Vergleich zur früheren Situation, als diese Klassifizierung auf einzelne Gebiete angewendet wurde und zu irgendeiner Landschaftsform erstarrte, geht es bei diesem neuen Vorgehen nicht nur um Veränderung, sondern um das Entwickeln von Ideen.»[5]

Diese Äusserung ist in mehrerlei Hinsicht interessant, da das «Entwickeln von Ideen» uns wieder zu einer Konstante der geografischen Darstellung zurückführt, die, wie Jean-Marc Besse erklärt, sich nicht in einem «Wissens­problem» oder der «Reduktion der äusseren irdischen Welt auf die Interiorität des Wissens» resümieren lässt, sondern auch «Wahrnehmung und Fantasie» umfasst: «Die Kunst der geografischen Darstellung besteht darin, Flächen und Situationen zu definieren, die für die Umsetzung der Ideen geeignet sind.»[6]

Robert Poujades Sichtweise wird auch durch den Ansatz des Landschaftsarchitekten Jacques Sgard ergänzt, der in den 1970er-Jahren auf politischer, planerischer und pädagogischer Ebene zu dieser Debatte beitrug: «Diese Atlanten sind eine interessante Lektüre, um eine Region besser kennenzulernen, aber alle diese Monographien zielen nicht darauf ab, Projekte zu entwickeln. Für mich haben die Atlanten den selben Ansatz: viele interessante Informationen, die ich persönlich jedoch als etwas statisch betrachte … Sicherlich sind sie nützlich, aber sie helfen nicht, eine gestalterische Vision zu entwickeln.»[7] Die Aussagen dieser drei Akteure (ein Politiker, ein Forscher, ein Planer) stimmen in dem Wunsch überein, Landschaftspläne als Werkzeuge zur Wissensvermehrung zu konzipieren und damit auch als Werkzeuge für landschafts­architektonische, politische oder soziale Projekte.

Mit der Methode von Yves Luginbühl folgt auf die Ära der Landschaftspläne eine dritte Periode, die durch die Unterteilung der Werkzeuge gekennzeichnet ist: einerseits die operativen Werkzeuge wie «Landschaftkonventionen», «Landschaftsstudien» und «Landschaftspläne», andererseits die Werkzeuge des Basiswissens, wie «Landschaftsatlanten».[8] Die Atlanten sind zweiteilig und identifizieren im ersten Teil charakteristische Landschaftseinheiten, im zweiten folgt ihre landschaftliche Beschreibung. Für Yves Luginbühl sind die Atlanten als Fortsetzung des französischen Inventurauftrags zu verstehen. Der historische Teil seiner Methode lässt die Nachkriegsjahrzehnte und die Impulse der Politiker und der Projekte ausser Acht, um die Landschaftsarchitektur in die städtebauliche Planung einzubringen.[9]

Die Spaltung zwischen Erkenntnisprozess und Entwurf hat unter den Landschaftsarchitekten zwei Kernprobleme aufgeworfen. Einerseits entstehen durch die Aufteilung in Einheiten künstliche und zu harte Trennlinien: Manchmal ist zum Beispiel eine Berücksichtigung der Departement-Grenzen erforderlich. Dies macht die Darstellung starr und kann der «wirklichen» Landschaft zuwider laufen, die sich ja in fliessenden Übergängen darstellt.[10] Schon der Begriff Einheit ist für manche Landschaftsarchitekten problematisch, sodass sie ihn durch Bezeichnungen wie «Land» oder «Motiv» ersetzen.[11] Häufig wird durch Landschaftsarchitekten auch der Zweck der Atlanten an sich infrage gestellt. Bertrand Folléa meint zum Beispiel, dass seine Gesprächspartner einen Zusammenhang zwischen Wissen und Handlung erwarten; er meint, dass demnächst departementbezogene Landschaftspläne erstellt werden: «Bisher hält sich der Staat auf zentraler Ebene in dieser Hinsicht noch zurück, aber er wird von seinen eigenen Behörden überholt, da die Landschaftsplaner bereits solche Atlanten vorsehen.»[12]

Zwischenräume

Aus dieser Perspektive betrachtet, liegt die interessanteste Phase zwischen dem Ende der zweiten und dem Beginn der dritten Periode, als die Aufnahme der Landschaft in die Raumplanung stattfand. 1992 erschien der «Atlas des pays et paysages des Yvelines» (Atlas der Landschaften des Departement Yvelines) von Alain Freytet und Alain Mazas. Dieses Werk im A3-Format enthält grosse, handgezeichnete Karten und weist die Besonderheit auf, dass es sowohl die Arbeitsabläufe wie auch die Gedanken zum Ablauf darstellt. Folgt man zum Beispiel auf der Karte «Strukturen der zu meisternden Kontinuitäten» den durch die Wälder und Wasserauffanggebiete gebildeten Grenzlinien, erkennt man die visuelle Logik, welche die Autoren bei ihrer darstellerischen Arbeit zugrunde­legten. Ihre Empfehlungen bezüglich der wiederherzustellenden Kontinuitäten basieren sowohl auf dieser kartografischen Erfassung als auch auf der gefühlten Erfahrung des Geländes bei ausgedehnten Wanderungen. In diesem Sinne kommt in diesem Atlas – um es mit den Worten von Jean-Marc Besse zu sagen – eine «körperliche und visuelle Erfahrung» zum Ausdruck.[13]

Ein zweiter Atlas, «Les grands paysages d’Ile-de-France» (Die Landschaften der Ile-de-France) von Jacques Sgard, bezieht sich in doppeltem Sinne auf einen Zwischenraum: Diese Studie wurde zwar 1996 veröffentlicht, erfolgte jedoch im Auftrag des Instituts für Raumplanung der Ile-de-France IAURIF und unabhängig von der Methode Yves Luginbühls[14]; ausserdem entspricht ihr Arbeitsmassstab dem der Region: Er ist zwischen der lokal geprägten Sicht­weise des Departements und der ganzheitlichen staatlichen Sichtweise angesiedelt. Anstatt den Raum erschöpfend zu erfassen, stellt Jacques Sgard die landschaftlichen Gefüge im Stile jener Renaissance-Porträts dar, bei denen sich die Hände oder das ­Gesicht durch die extrem präzise Arbeitsweise und Detail­treue des Künstlers vom restlichen Gemälde abzu­heben scheinen. Zur Karte der «grossen landschaftlichen Einheiten» sagt er: «Diese Waldbogen von Fontainebleau über Rambouillet fand ich beeindruckend, wie auch die Wälder entlang der Oise. Ich wollte wissen, ob sie tatsächlich der Oise folgen oder ob sie bereits zu einem anderen Gebiet gehören, da es dort Feuchtzonen gibt.»[15]

Diese Aussage, die weissen Flecken auf der Karte und die Randnotizen verstärken den bildlich vermittelten Eindruck, dass die Hand etwas sucht. Durch diese Geste und die Unentschlossenheit, die sich in seiner Haltung ausdrückt, platziert der Autor seine Arbeit an der Grenze zwischen Wissensdarstellung und Entwurf. Da bald jedes Departement über einen eigenen Landschaftsatlas verfügen wird (von manchen gibt es bereits eine zweite Auflage), wäre es an der Zeit, die Fragestellungen und Darstellungs­methoden wieder in diesem fruchtbaren Zwischenraum anzusiedeln.


Bibliographie:
Barraqué, Bernard: Le paysage et l’administration. Paris 1985.
Besse, Jean-Marc: Face au monde. Atlas, jardins, géoramas. Paris 2003.
Freytet, Alain; Mazas, Alain: Atlas des pays et paysages des Yvelines. Saint Ismier 1992.
Luginbühl, Yves: Pour un paysage du paysage. Économie rurale. Paris 2007, pp. 23–40.
Luginbühl, Yves: Méthode pour des atlas de paysage. Identification et qualification. Paris 1994.
Sgard, Jacques: Les grands paysages d’Ile-de-France. Document d’appui aux démarches d’aménagement. Paris 1995.
Sgard, Jacques. 1994–2011, les limites de la ville encore en question. Numéro thématique des Cahiers de l’IAU IdF. Le paysage, du projet à la réalité. Paris 2011, n. 159, pp. 35–36.
Tricaud, Pierre-Marie: Unités paysagères de la région d’Ile-de-France. Méthodologie, notice d’utilisation de la base de données et atlas. Paris 2010.
Tiberghien, Gilles A.: Finnis Terrae. Imaginaires et imaginations cartographiques. Montrouge 2007.


Anmerkungen:
[01] Dixième émission radiophonique réalisée par l’historien de l’art Daniel Arasse pour France Culture en 2003 «Léonard de Vinci est un peintre chinois». Ces émissions ont été retranscrites dans l’ouvrage: Histoires de peinture. Paris 2006.
[02] Luginbühl, Yves: Méthode pour des atlas de paysage. Identification et qualification. Paris 1994.
[03] Pour citer quelques exemples en région Ile-de-France: Atlas et politique du paysage pour le département des Hauts-de-Seine (1995), Eléments pour une politique du paysage du Val-de-Marne (1997, 2001), Schéma départemental des paysages de l’Essonne (2009), tous les trois conçus par l’agence Folléa Gautier; Etude paysagère du département de Seine-Saint-Denis (1999) réalisée par Jacques Sgard; Etude de préfiguration de l’atlas des paysages de Seine-et-Marne (2002), Atlas des paysages et des projets urbains des Hauts-de-Seine (2014), tous les deux par l’agence Michel Collin.
[04] Pour retracer l’histoire des deux premières périodes, «le temps des inventaires (1887–1960)» et «le temps des plans de paysage (1960–1994)», je m’appuierai principalement sur la recherche que Bernard Barraqué a réalisée pour le ministère de l’Urbanisme, du logement et des transports: Le paysage et l’administration. Paris 1985.
[05] Poujade, Robert: Le ministère de l’impossible. Paris 1975, p. 54 cité par Barraqué, Bernard: op. cit., p. 53.
[06] Besse, Jean-Marc: Face au monde. Atlas, jardins, géoramas. Paris 2003, pp. 9–11.
[07] Entretien avec Jacques Sgard réalisé à son agence à Marly-le-Roi le 24 juin 2011.
[08] Luginbühl, Yves: Théories et démarches du projet de paysage, séminaire de Master 2 formé conjointement par l’Institut de géographie Paris I et l’école de paysage de Versailles.
[09] C’est une période dont par ailleurs Yves Luginbühl connaît très bien l’histoire et ses enjeux. Son article «Pour un paysage du paysage», Economie rurale. Paris 2007 offre un contrepoint intéressant à l’étude de Bernard Barraqué.
[10] Le débat sur la notion de limite dans le paysage est trop riche pour qu’il soit possible d’en rendre pleinement compte dans cet article. Pour une introduction aux problèmes qu’elle pose, voir Tricaud, Pierre-Marie: Unités paysagères de la région d’Ile-de-France. Méthodologie, notice d’utilisation de la base de données et atlas. Paris 2010, p. 11.
[11] Entretien avec Alain Mazas réalisé au Laboratoire architecture anthropologie à Paris le 4 avril 2012.
[12] Entretien avec Bertrand Folléa et Claire Gautier réalisé à leur agence à Montrouge le 2 avril 2012.
[13] Besse, Jean-Marc: op. cit., p 13.
[14] Entretien avec Pierre-Marie Tricaud réalisé à l’IAURIF le 8 octobre 2012.
[15] Entretien avec Jacques Sgard.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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