Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 04|2013
Trauer braucht Raum
db deutsche bauzeitung 04|2013

Stein, Hof und Dach

Aussegnungshalle in Ingelheim am Rhein

Am neuen zentralen Friedhof der Stadt Ingelheim gelingt es, das ortstypische Bild des Bruchsteinmauerwerks in eine schützende und erdverbundene aber gleichzeitig dem Leben zugewandte Architektur zu übersetzen. Die neue Aussegnungshalle setzt dabei ein Zeichen im banalen Umfeld, das sowohl Trauernden wie denjenigen, denen die eigene Vergänglichkeit noch unvorstellbar erscheint, Halt bietet.

8. April 2013 - Martin Höchst
Die knapp 25 000 Einwohner von Ingelheim am Rhein im größten deutschen Weinbaugebiet »Rheinhessen« gelegen verteilen sich auf fünf Teilorte, von denen einige jahrhundertealte Ortskerne besitzen. In Nieder-Ingelheim sind gar die Überreste einer Kaiserpfalz Karls des Großen aus dem 8. Jahrhundert erhalten, deren Baumaterial ein ockerfarbener Kalkstein sich auch in etlichen Fassaden und Stützmauern der Gegend wiederfindet. Zwischen den alten Ortsteilen haben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts sowohl der Bahnhof und das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim – größter Arbeitgeber der Stadt – als auch die etwas gesichtslos immer noch wachsende Mitte der Stadt angesiedelt.

Da nicht nur das bauliche Umfeld für die Lebenden Ingelheims, sondern auch deren künftige letzte Ruhestätte zusammenwachsen soll, beschloss die Stadt, die an ihren jeweiligen Standorten begrenzt erweiterungsfähigen Friedhöfe zusammenzufassen; nicht zuletzt, um auch den veränderten Bestattungsgewohnheiten Rechnung zu tragen. So sah 2008 das Programm des beschränkten interdisziplinären Wettbewerbs zur Erweiterung des Friedhofs der Teilgemeinde Frei-Weinheim zum zentralen Friedhof neben einem Friedhofsgebäude und konventionellen Erdbestattungsfeldern auch Urnennischenwände, anonyme Urnenerdbestattungen und sogar einen Baumhain für Urnenbestattungen (in Anlehnung an einen Friedwald) vor.

Verbindend und Verschränkt

Am Standort unweit des Rheins galt es, zwischen gesichtslosem Ortsrand auf der einen und der Landschaft auf der anderen Seite eine Verbindung zu schaffen. Der realisierte erste Bauabschnitt des erfolgreichen Entwurf von Bayer & Strobel Architekten aus Kaiserslautern und den Landschaftsarchitekten jbbug Johannes Böttger Büro Urbane Gestalt aus Köln zeigt sich als streng orthogonale Anlage. Aussegnungshalle, zentrale Grünfläche und erste Erdbestattungsfelder – begrenzt von Urnenwänden – ziehen dabei ihren besonderen Reiz aus Großzügigkeit und den verwendeten wertigen Materialien, ohne dabei die nötige Zweckmäßigkeit aus dem Auge zu verlieren. Inbegriff dieser Haltung sind die geschosshohen, mit Kalkbruchstein bekleideten Betonmauern am Eingang, die sowohl durch ihre handwerkliche Qualität als auch durch ihre schiere Dimension beeindrucken. Selbstverständlich und selbstbewusst verschränken sie Ort und Friedhof und kennzeichnen den Haupteingang. Vom Friedhof aus betrachtet blenden sie die Banalität von angrenzenden Einfamilienhaus- und Gewerbegebieten aus, werden entweder Teil der großzügigen Hofanlage des Friedhofsgebäudes oder dienen als schützender »Rücken« für Urnennischengräber.

Der Belag der neuen Wege aus Kalksteinsplitt führt die Materialität der Wände am Eingang zwischen Grabfeldern und Beeten ebenso konsequent fort wie neue Rampen und Stützmauern. In einem zweiten Bauabschnitt werden noch weitere Erdbestattungsfelder und – als Überleitung zu Landschaft und Rhein – ein Feld für Urnenbestattungen unter Bäumen realisiert. Universell lesbar

Von Weitem bereits sichtbar ist das geschlossene Volumen des 60° geneigten 9 m hohen Satteldachs der Aussegnungshalle über dem eingeschossigen quadratischen Mauergeviert (38 x 38 m) von Höfen und Nebenräumen. Die Giebelwände aus Bruchstein mit Betonabschluss und die graue Blechdeckung des Dachs werden im Laufe der Jahre in ihrer Farbigkeit immer weiter miteinander verschmelzen und so dazu beitragen, den archetypischen Charakter des Gebäudes – angesiedelt zwischen Gotteshaus und Scheune – zu stärken. Darüber hinaus erlaubt die Verzinnung der Kupferblechdeckung, das anfallende Regenwasser auch zur Friedhofsbewässerung zu nutzen. Einfache Geometrie und kräftige Proportionen vertragen sich ausgesprochen gut mit dem eher ländlichen Umfeld und verleihen dem Gebäude Stärke und Würde, Gebäudequalitäten, die insbesondere einen Trauernden stützen können.

Nur wenige Meter nach dem Haupteingang gibt eine der beiden wegbegleitenden Mauern einen Durchgang zum Besucherhof des Friedhofsgebäudes frei. Ein umlaufendes 1 m auskragendes Betonvordach rahmt den Blick zum Himmel und die aufragende Giebelwand der angrenzenden Aussegnungshalle. Die drei Felsenbirnen im Zentrum dieses Hofs illustrieren anhand ihrer deutlich veränderten jahreszeitlichen Erscheinung den steten Wechsel der Natur. Ein ursprünglich vorgesehenes Wasserbecken fiel bedauerlicherweise Einsparungsmaßnahmen zum Opfer. Der Bodenbelag aus grau-beigefarbenem Terrazzo setzt sich auch hinter der verglasten EG Fassade der Aussegnungshalle fort. Die Möglichkeit, in diesem großen und freundlichen Hof einer Trauerfeier als Zaungast beizuwohnen, werde häufig praktiziert, um z. B. als entfernter Bekannter des Verstorbenen dabei sein zu können, den nahen Angehörigen aber dennoch Raum zu lassen, so Architekt Gunther Bayer. Direkt vom Windfang aus ist der Abschiednahmeraum, in dem der Sarg oder die Urne für ca. 2-3 Stunden vor der Trauerfeier aufgestellt wird, für den Besucher erreichbar. Holzdielen an Boden und einer Wand sowie der Ausblick auf einen kleinen Hof mit niedriger Bepflanzung entlang einer Bruchsteinmauer verleihen diesem Raum für eine persönliche Verabschiedung einen intimen Charakter. Zur Trauerfeier werden Sarg oder Urne von hier durch die bereits versammelte Trauergemeinde hindurch zur Stirnseite der Aussegnungshalle gebracht. Diese wirkt nicht groß aber sehr großzügig: Drei Seiten des EGs sind geschosshoch in tiefen Eichenholzlaibungen verglast und lassen den Blick bis zu den ockerfarbenen Bruchsteinmauern der angrenzenden unterschiedlich bepflanzten Höfe schweifen. Allein die vordere komplett geschlossene Giebelwand zieht den Blick nach oben: Über der scheinbar nahtlos im Innern fortgeführten eingeschossigen Bruchsteinwand des Hofs füllt eine geschlämmte Ziegelwand mit geradezu samten anmutender Oberfläche das Giebeldreieck und leitet zur aufgehellten Holzlattendecke über, die in einem durchlaufenden Oberlicht mündet. Um den First über die gesamte Länge und auch die Wände im EG öffnen zu können, spannen die Brettschichtholzträger des Dachs von Giebel zu Giebel. So entsteht ein lichtdurchfluteter Raum, der seine schützenden Wände für den Trauernden nach außen gerückt hat, um ihm Weite und gleichzeitig Geborgenheit bieten zu können. Pendelleuchten und Eichenholzbänke zeigen sich schlicht und gediegen und bringen vertraute Dimensionen in die Abstraktheit des Raums. Und obwohl das ganze Gebäude bewusst keine eindeutige christliche Symbolik aufweist – das filigrane Standkreuz lässt sich bei Bedarf leicht entfernen – und somit konfessionslose oder andere religiöse Aneignung zulässt, ist sein durch christliche Traditionen geprägter Charakter zu spüren.

Austausch und Angemessenheit

Als sehr konstruktiv erlebten die Architekten in der Überarbeitungsphase des Wettbewerbsentwurfs den Austausch am sogenannten Runden Tisch sowohl mit Vertretern der verschiedenen Glaubensgemeinschaften und der Stadt als auch mit Bestattern und Friedhofsmitarbeitern. Konfessionelle Belange standen hier ebenso zur Debatte wie funktionale. So entschloss man sich z. B. den Werkhof aus dem Gebäude an eine weniger prominente aber dennoch zentrale Stelle des Geländes auszulagern, um mehr Abstellmöglichkeiten u.a. für Fahrzeuge und Grabschachtschalungen zu gewinnen.

Als sinnvoll befand man von Anfang an hingegen die Platzierung der dienenden Räume im Mauergeviert auf der vom Haupteingang abgewandten Seite. Sie ermöglicht Mitarbeitern, Seelsorgern und Bestattern über einen untergeordneten Zugang an ihren Arbeitsplatz zu gelangen oder Anlieferungen abzuwickeln, ohne eine versammelte Trauergemeinde zu stören. Die interne Erschließung der Sozial-, Verwaltungs- und Technikräume sowie des Raums für die gekühlte Lagerung der Leichname und der Urnen mündet außerdem an der Stirnseite der Aussegnungshalle und im Abschiednahmeraum. Eine Trauerfeier begleitende Arbeiten können so aus dem Hintergrund heraus sehr dezent erledigt werden. Für ungewöhnlichen Komfort sorgt eine Fußbodenheizung, die sich aus der zuvor ungenutzten Abwärme der benachbarten Abwasserpumpstation speist. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Bauherrenvertreter der Qualität der Bruchsteinwände. Steinsorte und -größen sowie Kantenbeschaffenheit und Fugmaterial wurden anhand mehrerer Testmauerabschnitte ausgewählt. Letztlich kam ein gespaltener und danach getrommelter Kalkstein zur Ausführung, verfugt mit dem gleichen Mörtel, der auch bei der Konservierung der Ingelheimer Kaiserpfalz Verwendung findet. Die Mühe hat sich gelohnt. Und man kann es gut nachvollziehen, wenn Architekt Gunther Bayer sagt: »Die Leute haben ihr ganzes Leben diese Mauern vor Augen, dann findet das auch hier seine stimmige Fortsetzung.«

Diese regionale Besonderheit des Bruchsteins in einen universell lesbaren und gut organisierten Entwurf miteinzubeziehen und ihn mit zeitgemäßem hohem ästhetischen Anspruch konsequent umzusetzen, hat in Ingelheim wesentlich dazu beigetragen, einen angemessenen Ort der Trauer zu schaffen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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