Zeitschrift

TEC21 2013|19
Grün in der Dichte
TEC21 2013|19
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Spuren, Sporen, Spolien

Kann ein Stadtpark der Bevölkerung Freiräume bieten und zugleich Naturschutzgebiet sein? Lassen sich unter dem steigenden Nutzungsdruck in den dichter werdenden Quartieren ökologisch wertvolle Standorte erhalten? Nicht abgetrennt und eingezäunt, sondern in die Nutzflächen übergehend? Im Basler ­Erlenmattpark zeigt der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Raymond Vogel, dass es geht und wie städtische Freiräume künftig funktionieren könnten – nicht als ­entleerte Designikonen, sondern als ökologisch, sozial und historisch gedachte, ganzheitlich geplante Lebensräume.

3. Mai 2013 - Hansjörg Gadient
Die Form folgt der Funktion! Ornament ist Verbrechen! Weniger ist mehr! Die Moderne hatte noch Rezepte. In der Architektur stellten Postmoderne und Dekonstruktivismus die starren Dogmen infrage. Robert Venturis «Komplexität und Widerspruch in der Architektur» ­machte Furore. Ausdrücklich wandte sich Venturi gegen Mies van der Rohes «less is more» und plädierte für Mehrschichtigkeit. Er zitierte den Literaturwissenschaftler Cleanth Brooks (1906–1994) und sagte mit ihm: «Wir sind gefangen in der übermächtigen Tradition des ‹Entweder-oder› und entbehren der geistigen Beweglichkeit [...], welche es uns erlauben würde, den feineren Unterscheidungen und den subtileren Möglichkeiten nachzugehen, die uns die Tradition des ‹Sowohl-als-auch› aufschliesst.»[1] Ákos Moravánszky bezeichnet diese Aussage als Kern von Venturis Theorie. Er sagt: «Eine both-and-(sowohl-als auch)-Attitüde soll laut Venturi die Entweder-oder-Ästhetik des Funktionalismus ersetzen, um eine reichere, interessantere und damit populärere Architektur zu schaffen, wo Mies van der Rohes Diktum «less is more» nicht mehr akzeptiert werden muss.»[2]

Sowohl-als-auch

Weniger ist also wieder weniger, und mehr ist wieder mehr – wenigstens in der Architektur. In der Landschaftsarchitektur dagegen setzen noch immer zu viele Projekte auf Ent- leerung und Reduktion. Sie wiederholen damit ein Rezept, das in der Architektur seit vierzig Jahren infrage gestellt ist. Die landschaftsarchitektonischen Projekte, die nach dieser ­simplizistischen Vorstellung realisiert wurden, sehen zwar auf den Plänen gut aus und gewinnen in den Wettbewerben, aber beim Publikum fallen sie durch. Sie stehen leer und ­werden schon nach wenigen Jahren umgebaut und den real vorhandenen Bedürfnissen angepasst. Glücklicherweise haben sich in den letzten Jahren auch andere Auffassungen durchgesetzt, wie etwa bei der Parkanlage Brünnengut in Bern (vgl. TEC21 11/2011), beim Brixpark in Berlin, beim Landschaftspark Duisburg-Nord oder beim Hyde Park in London. Es sind Projekte einer höheren Komplexität, nicht mehr dem Entweder-oder, sondern dem ­Sowohl-als-auch verpflichtet. Es gelingt in ihnen, scheinbar unvereinbare Anforderungen an einen Ort zu einer Synthese zu führen. Vor dem Hintergrund zunehmender baulicher ­Verdichtung und erhöhter Ansprüche an die Ökologie sind solche Ansätze von erheblicher Bedeutung.

Sukzessionen

Der Erlenmattpark in Basel ist das vorläufig letzte Glied in einer Kette von Veränderungsprozessen an diesem Ort. Ursprünglich mäandrierte hier der Rhein und schuf kontinuierlich neue Schotterbänke. Wärmeliebende Tiere und Pionierpflanzen nahmen sie in Besitz, bis die natürliche Sukzession sie mit Büschen und Bäumen besetzte. Ende des 19. und im 20. Jahrhundert wurde der Rhein reguliert, das angrenzende Land beackert. Ab 1855 kam die Bahn und mit ihr die Stadt, bis 1998 war die Erlenmatt ein Güterbahnhof der Deutschen Bahn. Solche Bahnareale sind oft wertvolle Sekundärbiotope, in denen sich die sandigen Magerrasen und offenen Schotterfluren wieder finden, die in den begradigten Gewässern fehlen. Hier finden sich Ruten-Knorpelsalat und Pfeilblättriges Schlangenmaul, Weinhähnchen und Mauereidechse (vgl. Kasten). 420 Arten wurden in der Erlenmatt nachgewiesen, darunter auch 73, die auf der Roten Liste des Schweizer Mittellands stehen.[3] Heute könnte man den Erlenmattpark als Tertiärbiotop bezeichnen, ein menschgemachter Ersatz für das Sekundärbiotop Bahngelände. Denn der ausserordentliche Artenreichtum und der Schutzstatus vieler Tiere und Pflanzen haben dazu geführt, dass hier das Prinzip des Sowohl-als-auch fruchtbar gemacht wurde.

Umformungsprozess

Der 5.7 Hektaren grosse Erlenmattpark ist 2001 aus einem Wettbewerb hervorgegangen. Das Gelände bildet den Kern der Aussenräume eines rund zwanzig Hektaren grossen ­Entwicklungsgebiets mit Wohn- und Bürobauten. Der zentrale Park ist in vier Zonen gegliedert, die von Süden nach Norden an Nutzungsintensität ab- und an ökologischem Wert ­zunehmen. Im bereits fertiggestellten südlichen Teil dominiert die menschliche Nutzung; er heisst «Menschenmitte». Im noch zu realisierenden nördlichen Teil wird dem Natur-schutz der Vorrang gegeben; er wird «Florenarena» heissen. Dazwischen bilden «Kissenhain» und «Träumerholz» Übergangszonen, in denen sich menschliche Nutzung und ­Naturschutz überlagern. Bis 2023 sollen alle Bauabschnitte realisiert sein. Der Umformungsprozess zu einem Stadtquartier hat begonnen und wird die nächsten Jahrzehnte weiter fortschreiten.

Genius loci

1728 schrieb Alexander Pope: «Wer einen Garten anlegt, muss zuallererst auf eines achten: den Genius Loci.»[4] Den Geist des Orts zum Ausgangspunkt aller Überlegungen zu machen, um Vorgefundenes zu verstärken und zu überhöhen, das war neu. Pope war ein Zeitgenosse von Lancelot «Capability» Brown, dem Landschaftsarchitekten, der seinen Spitznamen seiner Fähigkeit verdankt, die Möglichkeiten eines vorgefundenen Orts am besten zu erkennen und zu entwickeln. Die Website von Raymond Vogel heisst www.capability.ch, was man ohne Hintergrundwissen als anmassend empfinden kann. Aber Vogel vergleicht sich nicht mit Capability Brown, sondern hat sich dessen Vorgehen zum Vorbild genommen, die Möglichkeiten eines Orts bestmöglich zu nutzen. Der Geist des Orts leistet viel für den Entwurf des Erlenmattparks. Aus der Analogie zu Eisschollen, die auf einem Fluss treiben, ist das Konzept des ganzen Stadtquartiers entstanden, das frei treibende Schollen von Baublöcken und Grünflächen aneinanderschiebt. Der Güterbahnhof mit seiner «billigen» und rüden Materialität wurde zur Inspiration für das, was schön sein könnte in diesem Stadtteil. Das Sekundärbiotop des Orts wird zum Leitbild für die Ökologie des neuen Parks. Der ­Genius Loci bestimmt seine Gestalt.

Im Verlauf der Baumassnahmen wurden die für ein Bahnhofareal typischen grossformatigen Betonplatten ausgebaut und zwischengelagert. Dasselbe geschah mit dem vorhandenen Boden­substrat. Diese physische Umschichtung und Wiederverwendung von Material diente in ­beiden Fällen dem Erhalt von Information. Im Falle der Betonplatten wurde die Erinnerung an den früheren Ortscharakter konserviert. Es sind Spolien, d. h. bauliche Elemente, die nicht nur wegen ihres materiellen, sondern auch wegen ihres Erinnerungswerts erneut in ­einem Bauwerk verwendet werden.[5] Die Platten bilden heute den Bodenbelag des neuen Platzes; ihre Bemalung, die durch die zufällige Verlegung keinen Sinn mehr ergibt, durchbricht die Regelhaftigkeit des Musters und wirkt durch diese formale Freiheit aktuell und anregend. Und doch schwingt der industrielle Charakter mit. Für manche Besucher mag er zu rüde sein. Doch vermutlich kommt das dem Gestalter entgegen. Ist das nun ein Platz oder ein Lastwagenparkplatz? Vogel sucht die Nähe zum ehemaligen Güterbahnhof und nähert sich damit der Strategie von Lancelot Brown an.[6]

Durch die Wiederverwendung des vor Ort vorhandenen Oberbodens wurden Saatgut und Sporen darin erhalten. So konnten die Pflanzen, die sich hier auf dem Sekundärbiotop angesiedelt hatten, ihre genetische Information erhalten und weitergeben. Dieser Erhalt von sogenannten regionalen Ökotypen ist für die Biodiversität eines Orts von entscheidender Bedeutung. Die gleiche Massnahme dient also auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen dem Erhalt von Erinnerung und wird so zu einem Paradebeispiel für eine ganzheitliche Sicht und Handlungsweise.

Beziehung – nicht nur Flirt

Unlängst hat das Bundesamt für Raumentwicklung die Möglichkeit skizziert, dass in der Schweiz zehn Millionen Menschen leben könnten. Doch schon heute kommen wir nicht umhin, den Lebensraum mit Tieren und Pflanzen zu teilen und die Anliegen von Flora und Fauna denen der Menschen gleichzustellen und nicht unterzuordnen. Die Integration von ökologischen Anliegen muss selbstverständlich werden und mehr als modische Attitüde sein. Vittorio Magnago Lampugnani konstatierte 1995 eine Serie von Flirts der Architektur mit verschiedenen Disziplinen. So habe sie sich am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Technik verbunden, in den 1960er-Jahren mit der Soziologie, in den 1970ern mit der Semiotik und in den 1980ern mit der Geschichte. In den 1990ern habe sie dann ihren bis heute anhaltenden Flirt mit der Ökologie begonnen. Mittlerweile hat sich auch die Landschaftsarchitektur in diesen Flirt verstricken lassen. Für beide Sparten gilt Lampugnanis Wort: «Jetzt scheint die Ökologie an der Reihe zu sein. Es würde uns schmerzen, eine weitere oberflächliche und flüchtige Liebelei miterleben zu müssen. Denn wir glauben, dass das Engagement für den sparsamen Umgang mit Ressourcen und für den Schutz unserer Umwelt vor Verseuchung und Zerstörung eine Verpflichtung ist, der sich niemand entziehen kann. Und wir glauben, dass die Entwerfer die ersten sind, die sich diese Verpflichtung zu eigen machen müssen.»[7]


Anmerkungen:
[01] Robert Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Braunschweig 1978, S. 37. Das Original erschien 1966 unter dem Titel Complexity and Contradiction in Architecture.
[02] Ákos Moravánszky: Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Wien/New York 2003, S. 531.
[03] Michèle Büttner: «Zwischen Schiene und Schotter», in TEC21 3-4/2003, S. 24.
[04] Brief an die Prinzessin von Wales, zit. nach Penelope Hobhouse: Der Garten. London 2002, S. 206.
[05] Vgl. dazu Hans-Rudolf Meier: «Vom Siegeszeichen zum Lüftungsschacht. Spolien als Erinnerungsträger in der Architektur» in: ders. u. a.: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Zürich 2000, S. 87 ff.
[06] Sir William Chambers, Architekt und Gartenentwerfer, kritisierte 1772, Browns Parkgestaltungen «differ very little from common fields, so closely is nature copied in most of them», zit. nach: Patrick Taylor: The Oxford Companion to the Garden. Oxford 2006, S. 77.
[07] Vittorio Magnano Lampugnani: Die Modernität des Dauerhaften. Essays zu Stadt, Architektur und Design. Berlin 1995, S. 77.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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