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TEC21 2013|20
Innere Qualitäten
TEC21 2013|20
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ein Wohnturm am Lario

Im kleinen Ort Olgiasca am oberen Comersee hat das Zürcher Büro Met Architektur den historischen Wohnturm Castel Mirabel neu ausgebaut. Das stattliche Gebäude mit bewegter Vergangenheit war 1975 vom Architekten Otto Kober vor dem Zerfall gerettet und als Wohnstätte eingerichtet ­worden. Nach dem aktuellen Umbau beherbergen die sorgfältig instand ­gesetzten, teilweise über 500 Jahre alten Mauern zwei moderne, flexibel nutzbare und mit ortstypischen Materialien ausgestattete Wohnungen.

10. Mai 2013 - Mercedes Daguerre
Als stummer Zeuge von Belagerungen und Seeschlachten, die die Geschichte der Ortschaften rund um den Comersee – in Italien Lario genannt – geprägt haben, wacht das im 14. Jahrhundert als massiver Turm im Zentrum von Olgiasca errichtete Castel Mirabel über die kleine Siedlung (Abb. 01). Auf dem höchsten Punkt des Felsvorsprungs der Halbinsel Piona gelegen, unweit der zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert erbauten Abtei, ist es eines der bedeutendsten Architekturbeispiele der lombardischen Romanik.[1]

Der Turm gehörte wegen seiner strategischen Lage zum Verteidigungssystem des Comersees. Dieses umfasste während der spanischen Vorherrschaft im 17. Jahrhundert auch die nahegelegene Festung Fuentes, eine Bastion an der Nordgrenze des Herzogtums Mailand gegen Franzosen, Bündner[2] und Österreicher, die Ende des 18. Jahrhunderts abgebrochen wurde.

Sicherer Turm in unsicheren Zeiten

Die heute rechteckige Feste war als Mittelpunkt der gesamten Siedlung wahrscheinlich auf den Ruinen eines älteren Castellum errichtet worden. Einige Quellen datieren das Castel Mirabel noch vor die Mitte des 16. Jahrhunderts. Seitdem beschützte es die Strassen ins Veltlin und ins Valchiavenna – wichtige Kommunikations- und Handelsrouten. Die Typologie der «Casaforte» – eines alten befestigten Herrensitzes, der sich überwiegend in der Zeit der unabhängigen Kommunen in Oberitalien zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert herausgebildet hat – umfasste neben der Wohnfunktion auch die eines Speichers, in dem der Grundherr die landwirtschaftlichen Erzeugnisse sicher aufbewahren konnte. Die intensive landwirtschaftliche Nutzung des Hügels von Olgiasca ist bereits für das 13. Jahrhundert nachgewiesen. In Verbindung mit den Stadtmauern umschloss das massive Gebäude ausserdem ein sicheres Rückzugsgebiet, zumindest für die adligen Familien des Dorfs.

Neues Leben für das Castel Mirabel

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die einst blühende Region am oberen Comersee zunehmend ins Abseits der grossen Verkehrsströme. Die historische Bausubstanz wurde dem Zerfall überlassen – eine Entwicklung, von der auch das stolze Castel Mirabel nicht verschont blieb. Die Rettung kam aus den Bergen jenseits der nahen Grenze: Der St. Moritzer Architekt Otto Kober erwarb das vernachlässigte, nicht mehr bewohnte Gebäude und sanierte es 1975 zur erneuten Nutzung als Wohnstätte. Die massiven Aussenmauern und tragenden Mauern im Inneren blieben dabei, ebenso wie die Gewölbedecken im Erd- und Untergeschoss, mehrheitlich unverändert; das Dach musste hingegen ersetzt werden. Die bisher als Stall oder Lager genutzten überwölbten Räume im Untergeschoss wurden zu einem Wohnraum mit Küche aufgewertet, diejenigen im Erdgeschoss zu Schlafräumen. Der Zukauf des nordseitig angrenzenden unbebauten Grundstücks ermöglichte die Erweiterung der nutzbaren Aussenwohnfläche auf allen Ebenen. Eine weitere Intervention war der Durchbruch von Türöffnungen zu den aus der Südfassade vorspringenden SO-Zimmern der Wohngeschosse. Diese zwei Räume wiesen als Folge der früheren Eigentumsverhältnisse keine innere Verbindung mit den übrigen Räumen auf und waren miteinander durch eine eigene Treppe oder Leiter verbunden.[4] Wahrscheinlich bestand der ursprüngliche Schutzbau nur aus diesem zweigeschossigen Turm. Die beiden Räume werden deshalb auch nach dem aktuellen Umbau als Turmzimmer bezeichnet.

Individualität in der Verdichtung

Die diversen inneren und äusseren Verbindungen zwischen den Ebenen zeigen, dass Otto Kober das Castel Mirabel für die Nutzung als Einheit mit grosszügigem Platzangebot konzipiert hatte. Der aktuelle Umbau durch Met Architektur hingegen spiegelt den Trend zur Verdichtung und zur flexiblen Gestaltung der Wohnungsgrundrisse wider, unter Wahrung des ursprünglichen Charakters. Das Haus wird in zwei voneinander unabhängige Wohneinheiten verschiedener Grösse mit getrennten Eingängen und Gartensitzplätzen (Abb. 07) unterteilt, mit einem separaten Schaltzimmer (Abb. 03) mit Bad in der nordwestlichen Ecke. Der Gedanke der gemeinsamen Nutzung lebt im für alle Bewohner zugänglichen Untergeschoss mit Taverne (Abb. 06) und Wellnessbereich fort. Diese Einteilung ermöglicht die flexible Nutzung der Räume in verschiedenen Kombinationen zu allen Jahreszeiten.

Respektvolle Pflege lokaltypischer Bauformen

Die Ansiedlungen am westlichen, steil zum See hin abfallenden Hang des Monte Legnone haben bis heute einen bäuerlichen Charakter bewahrt. Ein Merkmal dieser ländlichen Architektur ist die nüchterne Volumetrie in grauem Stein, mit traditionellen Piode (Dachschindeln aus Schiefer) aus dem Valmalenco und gemauerten Treppen, die entlang der Aussenwände den Zutritt von den umliegenden Gassen ermöglichen.

Wegen der zahlreichen Feuchtigkeitsschäden musste die Gebäudehülle tiefgreifend saniert werden. Die Massnahmen umfassten hauptsächlich den Ersatz der erdberührten Bodenplatten durch belüftete Hohlböden, eine neue Heizung, den Ersatz der Fenster inklusive der Einfassungen und Läden, die Applikation eines inneren Isolierputzes und die Abdichtung, Isolation und Entwässerung des Dachs. Das Bruchsteinmauerwerk wurde äusserlich gereinigt und beschädigte Fugen wurden erneuert; aufgrund von denkmalpflegerischen und gestalterischen Überlegungen wurde jedoch auf die aus bauphysikalischer Sicht effizienteste Massnahme eines Aussenverputzes als Schutz gegen Wassereintritt verzichtet. Der kleine Dachvorsprung, unter dem sich die Dachrinne verbirgt, die Erhaltung des Mauerwerks aus braunen, oxidhaltigen Bruchsteinen oder die Schieferdeckung des neuen Dachs verstärken den turmartigen architektonischen Ausdruck des Gebäudes, das an Hospize in den Alpen erinnert. Die ursprüngliche Verteidigungsfunktion des Wohnturms erklärt die vergleichsweise geringe Grösse der vorhandenen Öffnungen, die nahezu unverändert belassen oder nur punktuell ergänzt wurden, sowie die spärliche Beleuchtung der Räumlichkeiten. Auf der Südseite wurden hingegen grössere Fenstertüren eingebaut, die den ehemals düsteren Räumen Licht und einen grosszügigen Ausblick auf den See gewähren. Die ortstypischen weissen Einfassungen akzentuieren die schlichten Öffnungen in der Granitfläche der Wand, die gegensätzliche Werte dieses beeindruckenden Gebäudes – Stärke und Zartheit – kennzeichnen.[3] Auch die verputzten Einfassungen und die einseitig angebrachten Fensterläden veredeln den Bau als Identitätskriterium urbaner Struktur.

Innen archaisch und raffiniert

Der Wohnturm lebt vom Spiel der Kontraste: Der archaische Charakter seiner Bruchsteinmauern trifft auf die Glätte des ortstypischen feinkörnigen Gipsputzes. Neue Küchen und Bäder passen den Standard an den aktuellen Bedarf an: Die Funktionsbereiche (mit Eichenholz verkleidete Ausstattung/Schränke) bilden in ihrer Leichtigkeit einen schönen Kontrast zum gewichtigen Aussenmauerwerk. Das Fehlen grossartiger Verzierungen oder kostbarer Schnörkel an den Aussenfassaden wird durch die sorgfältige Auswahl der Materialien ausgeglichen, durch die die edle Beschaffenheit der Innenräume betont werden soll (Zementfliesen mit Intarsiendekoration auf den Fussböden der Esszimmer, geöltes Eichenparkett in den Wohn- und Schlafzimmern). Auch die in verschiedenen Blautönen gehaltenen Badezimmerkacheln, das grosse Kamelien-Fresko von Heloisa Ackermann-Rodrigues und das von Madlaina Lys entworfen Mobile-Leuchtenobjekt aus Porzellanplättchen (Abb. 04) erzeugen eine warme und helle Atmosphäre im Haus. Dank der sorgfältigen Interventionen ist die Casaforte in Olgiasca ein auserwählter Ort geworden, an dem sich eine aussergewöhnliche Landschaft mit Freude (er)leben lässt.


Anmerkungen:
[01] Vgl. F. Farina, L’Abbazia di Piona gioiello del romanico lombardo, Edizioni dell’Abbazia di Piona 2001. Auch: C. Marcora. Il Priorato di Piona, Lecco 1972; C. Tosco, Architetti e committenti nel romanico lombardo, Rom, Viella 1997.
[02] Von 1450 bis 1797 bestand auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden der souveräne Freistaat der Drei Bünde (seit 1497 gleichberechtigter Zugewandter Ort der Schweizerischen Eidgenossenschaft). Dieser besetzte 1512 die südlich angrenzenden Untertanengebiete Veltlin, Worms (Bormio), Cleven (Chiavenna) und Drei Pleven. Die letztere Herrschaft am oberen Comersee, zu der auch Olgiasca gehörte, fiel jedoch bereits 1524 wieder an das Herzogtum Mailand zurück. In Conrad Ferdinand Meyers 1876 erschienenem historischem Roman «Jürg Jenatsch» ist die Gegend um den oberen Comersee mehrmals Schauplatz der während des Dreissigjährigen Kriegs (1618–1648) spielenden Handlung.
[03] A. Fumagalli, Architettura contadina in Valsassina, Val Varrone e Valassina, Silvana ed., Mailand 1982.
[04] Infolge Erbteilungen, Abwanderung etc. sind viele grosse, mehrgeschossige Wohnbauten im südlichen Alpenraum im Lauf der Zeit in isolierte, vertikal strukturierte «Wohntürme» mit eigenem Treppenhaus, meist noch unter einem gemeinsamen Dach, aufgeteilt worden.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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