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TEC21 2013|23
Hoch hinaus mit Holz
TEC21 2013|23
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Holzwohntürme in Mailand

An der Via Cenni in Mailand entsteht eine vom Florentiner Architekten Fabrizio Rossi Prodi konzipierte Überbauung mit vier neungeschossigen Wohnhäusern. Die Bauherrschaft entschied sich im erdbebengefährdeten Gebiet für vorgefertigte Wände und Decken aus Brettsperrholz, die zu einer dreidimensionalen geschlossenen Tragstruktur zusammengeschraubt sind. Die kurz vor der Vollendung stehenden Türme zeigen ­exemplarisch den Stand der Bautechnik im mehrgeschossigen Holzbau.

31. Mai 2013 - Andrea Bernasconi
Das Interesse für den mehrgeschossigen Holzbau hat in neuerer Zeit weltweit zugenommen. In vielen Ländern sind in den vergangenen Jahren neue Brandschutzvorschriften in Kraft gesetzt worden, die die Holzbauweise für mehrgeschossige Wohnbauten erlauben. In der Schweiz ist dieser Schritt 2003 mit der Neufassung der Brandschutznormen vollzogen worden. Auch die Technik des Holzbaus hat enorme Fortschritte gemacht. Hervorzuheben sind dabei das Brettsperrholz für die Herstellung grosser flächiger Elemente und neue ­Entwicklungen in der Verbindungstechnik. In diesem Bereich sind diverse leistungsfähige Techniken, etwa Vollgewindeschrauben und eingeklebte Gewindestangen, eingeführt worden, mit denen Tragwerksplaner heute fast jedes Anschlussproblem lösen können.

Erste hohe Holzhäuser

Der mehrgeschossige Holzbau ist in der Schweiz auf sechs Stockwerke beschränkt; aus­serdem muss die Tragstruktur der Fluchtwege aus nicht brennbaren Materialien bestehen. Das erste sechsgeschossige Holzhaus in der Schweiz, ein in Rahmenbauweise mit Betonkern erstelltes Mehrfamilienhaus in Steinhausen ZG von 2006, gilt heute noch als Meilenstein.[1] Weitere Wohnhäuser folgten. Viele darunter werden heute noch in Holzrahmenbauweise erstellt. Aus der Perspektive des Tragwerksplaners ist die 2007 vom Architekten Lorenzo Felder erbaute «Casa Montarina» in Lugano zu erwähnen. Sie war vermutlich das erste sechsgeschossige Wohnhaus mit einer ausschliesslich aus Holz bestehenden Tragstruktur. Der geneigte Baugrund ermöglichte es, die Eingänge auf verschiedenen Höhen ebenerdig anzuordnen und damit den Anforderungen des Brandschutzes zu genügen.

Brettsperrholz wird in der Schweiz noch nicht in grossem Umfang verwendet. Von Anfang an aber hat es als sehr leistungsfähiges Material die Aufmerksamkeit der Tragwerksplaner geweckt. Mittlerweile ist es bei einigen anspruchsvollen Projekten eingesetzt worden. Die massiven und grossformatigen Brettsperrholzplatten können zu dreidimensionalen Raumtragwerken zusammengefügt werden und ermöglichen die Herstellung komplexer Trag­strukturen für den Wohnungsbau. Ein Beispiel ist die 2011 vom Architekten Maurizio Marzi erbaute «Residenza Sirio» in Lugano (Abb. 01). In der sechsgeschossigen Tragstruktur sind zwar für die Einhaltung des Brandschutzes einzelne Wände im Kernbereich und im Treppenhaus betoniert, das Treppenhaus ist aber gegen aussen mit einer Fensterwand abgeschlossen, sodass es nicht die Aussteifung der gesamten Konstruktion übernehmen kann. Die Holzkonstruktion wurde deshalb als eigenständige, durch ihre Wände ausgesteifte Tragstruktur ausgeführt.

Das Projekt an der Via Cenni

Die Leistungsfähigkeit des modernen mehrgeschossigen Holzbaus ist im Ausland erkennbar, wo in den vergangenen Jahren einige Objekte aus Brettsperrholz mit bis zu neun Geschossen als reine Holztragwerke erstellt worden sind. Zurzeit wird an der Via Cenni in Mailand ein Wohnviertel mit vier neungeschossigen Wohntürmen fertiggestellt. Da Mailand wie ganz Italien als Erdbebenzone gilt und diesem Thema zu Recht grosse Aufmerksamkeit geschenkt wird, musste die Tragkonstruktion von der obersten Zentralbehörde für das Bauwesen in Rom geprüft und bewilligt werden. Dazu wurde eigens eine Prüfkommission gebildet. Das Bauvorhaben in der Via Cenni besteht aus vier neungeschossigen Gebäuden, die untereinander durch einen zweigeschossigen Sockelbau verbunden sind (Abb. 02). Das ­Projekt umfasst 124 Wohnungen, Gemeinschaftsräume und eine Grünfläche von 1000 m². Die Mietwohnungen sind teilweise gefördert, zum Teil mit einer Vereinbarung zum künftigen Ankauf vermietet. Das vom Architekten Fabrizio Rossi Prodi aus Florenz als Holzbau mit ­einer Tragstruktur aus Brettsperrholzplatten (BSP-Platten) konzipierte und entworfene Projekt wird im Rahmen des Immobilienfonds «Fondo Federale di Lombardia» realisiert. Es ist aus einem Architekturwettbewerb hervorgegangen.

Mitentscheidend für die Wahl der Holzbauweise war die Suche nach innovativen Lösungen, die die Nachhaltigkeit und den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen berücksichtigen. Auch die kurze Bauzeit und das gute Dämmungsverhalten waren für die Bauherrschaft wichtige Kriterien.

Stand der Holzbautechnik

Zurzeit gilt die Realisierung von Wohngebäuden aus Holz mit zehn Geschossen als Stand der Technik. Beim Projekt an der Via Cenni, in dem ca. 6100 m³ Brettsperrholz verbaut ­wurden, kamen das aktuelle Fachwissen und die verfügbaren Technologien zum Einsatz. Es liegt im Rahmen der heutigen Vorschriften und Normangaben. Das Ziel war nicht, Proto­typen oder Prozesse zu entwickeln; keine Speziallösung wird ausgetestet oder zum ersten Mal umgesetzt. Aus der Perspektive der Tragwerksplanung zeigt dieses Projekt lediglich eine Möglichkeit zum optimalen Einsatz des heutigen Stands der Technik im Bereich der Tragstrukturen aus BSP. Derartige hohe Bauwerke müssen als Ingenieurtragwerke ­konzipiert und dürfen nicht als einfache geometrische Vergrösserung der üblicherweise ­eingesetzten Technologien und Techniken des Holzhausbaus behandelt werden.

Mit neun Geschossen über Terrain und relativ geringen Grundrissabmessungen von ca. 13.5 × 19 m sind die vier Hochhäuser dieses Projekts aufgrund ihrer Schlankheit Türme. Ihre Tragkonstruktion aus BSP-Platten ist ein Ingenieurtragwerk und muss unter Ein- haltung der Regeln des konstruktiven Ingenieurholzbaus und unter Berücksichtigung der Erdbebensicherheit entworfen, konstruiert, berechnet und nachgewiesen werden. Aus ­dieser Sicht sind die neun Geschosse im Erdbebengebiet durchaus als Innovation zu betrachten.

Tragstruktur aus Brettsperrholz

Die dreidimensionale, geschlossene Tragstruktur besteht aus vertikalen und horizontalen, untereinander kontinuierlich verbundenen plattenförmigen BSP-Tragelementen. Biegebalken und Stützen wurden nur als lokale Verstärkung bei einzelnen Öffnungen oder Übergängen eingesetzt (Abb. 07). Die Tragkonstruktion besteht aus sieben vertikalen Wandebenen, wovon drei in einer Richtung und vier senkrecht dazu orientiert sind. Diese Wände bilden die vertikale Tragstruktur von der Verankerung im Fundament bis zum Dach. Sie bilden keine geschlossenen Flächen, sondern sind durch mehrere Öffnungen unterbrochen; jede dieser Wandebenen besteht aus mehreren Wandstreifen unterschiedlicher Länge, die in derselben Flucht stehen. Die Decken sichern die Verbindung zwischen den einzelnen Wandstreifen. Unterzüge, die in der Regel aus der durchlaufenden BSP-Wand gebildet sind, überbrücken die Öffnungen. Daraus entstehen lokale Kraftkonzentrationen, die sich in den vollflächigen Wandteilen nach unten ausbreiten können. Mit Ausnahme der Balkone gibt es keine auskragenden Tragelemente und keine nicht direkt abgestützten Wandelemente. Die Balkone sind als Kragelemente – mit der Decke oder den Wänden als tragenden Teilen – ausgebildet. Wände, deren Kontinuität nach unten durch Öffnungen unterbrochen ist, wurden nicht als Bestandteil der räumlichen Tragstruktur betrachtet. Daraus ergeben sich bei der ersten Beurteilung der Tragkonstruktion Wandstreifen, die nach oben schmaler werden, obwohl sie effektiv in den obersten Geschossen wieder geschlossen sind. Diese Betrachtungsweise ermöglicht eine erste, einfache, effiziente und vor allem übersichtliche und kontrollierbare Analyse der Lastabtragung.

Das Tragwerk wurde geschossweise erstellt. Die Wände sind deshalb durch die Decken unterbrochen. Die Decken sind direkt auf den Wandoberkanten aufgelegt, und die oberen Wände stehen direkt auf den Decken. Sie bilden die horizontalen, aussteifenden Scheiben. Das gesamte Holztragwerk ist auf dem in Stahlbeton erstellten Untergeschoss verankert. Decken und Wände

Die Decken bestehen aus BSP-Elementen, die entsprechend ihrer Haupttragrichtung orientiert werden. Durch die nicht identische Anordnung der Wohnungen und der Balkone in den Geschossen sind die Decken und deren Lastabtragung ebenfalls unterschiedlich angeordnet. Daraus entsteht über die gesamte Gebäudehöhe eine gute Verteilung der Vertikallasten auf sämtliche Wandelemente, was einen nicht unwesentlichen Beitrag zur regelmässigen Kraftableitung leistet. Die Decken weisen zudem unterschiedliche Spannweiten auf. Zur Vereinfachung, aber auch um die Scheibensteifigkeit der Decken möglichst gleichmässig und konstant zu halten, wurden für Spannweiten bis zu 5,80 m eine Dicke von 200 mm (5-schichtiges BSP) und für Spannweiten bis zum Maximalwert von 6,70 m eine Dicke von 230 mm (7-schichtiges BSP) eingesetzt. Dabei wurden sämtliche Anforderungen und Nachweise der Tragsicherheit und der Gebrauchstauglichkeit eingehalten.

Die Wandstärke wurde geschossweise konstant gehalten, was eine gleichmässige und regelmässige Tragstruktur gewährleistet und die gesamte Konstruktion einfach hält. Daraus ergibt sich eine durchwegs uniforme Verteilung der Vertikalkräfte auf die Wandstreifen und auf die Wandebenen. Die Wandstärken nehmen in den höheren Geschossen ab (ausgehend von 200 mm für das Erdgeschoss stufenweise auf 120 mm für das Dachgeschoss); dadurch wird die Tragkonstruktion bei abnehmenden Lasten und Beanspruchungen in ihrer Steifigkeit und Festigkeit reduziert. Sämtliche Wandelemente bestehen aus 5-schichtigen BSP-Platten.

Verbindungen sind entscheidend

Die Abmessungen der einzelnen grossformatigen BSP-Plattenelemente sind im Vergleich zu jenen der gesamten Tragkonstruktion gering. Eine dreidimensionale Tragstruktur entsteht daraus nur, wenn die einzelnen Tragelemente kraftschlüssig untereinander verbunden werden. Neben einer ausreichenden Kraftübertragung ist auch eine ausreichende Steifigkeit der Verbindung Voraussetzung für die räumliche Tragwirkung. Die mechanischen Verbindungen des Holzbaus können jedoch keinesfalls als «unendlich steif» angenommen werden. Dies hängt von der Auslegung der Verbindung ab und wird bei einfachen Tragstrukturen in der Regel zu Recht vernachlässigt. Bei komplexeren Tragkonstruktionen kann jedoch die Steifigkeit der Verbindungen einen wesentlichen Einfluss auf die Beanspruchungen haben und muss sorgfältig berücksichtigt werden. Räumliche BSP-Tragstrukturen sind darauf besonders empfindlich, da sie innerlich hochgradig statisch unbestimmt sind. Diese Eigenschaft ist bei dynamischen und horizontalen Beanspruchungen, wie sie bei Erdbeben auftreten, besonders bedeutend.

Robustheit von Holzbauten

Die Anforderungen an die Robustheit von Tragstrukturen gelten im Allgemeinen als anerkannt und selbstverständlich. Im Wohnungsbau aus Holz sind sie in Anbetracht der meist geringen Grösse der Gebäude selten Gegenstand von Diskussionen. Bei grösseren Gebäuden muss aber sichergestellt werden, dass ein nicht planmässiges und durch die üblichen Lastannahmen nicht abgedecktes Ereignis nicht zu Folgeschäden führen kann, die schwerwigender sind als das Ereignis selber. Für dieses Projekt wurde als Kriterium der Robustheit der Wegfall einer beliebigen Wand angenommen: Dabei musste nachgewiesen werden, dass ein derartiges Ereignis keine Kettenreaktion mit einem Kollaps der gesamten Konstruktion oder von grösseren Teilen des Gebäudes zur Folge hat. Dieses Kriterium ist wesentlich und wichtig beim Entwurf und bei der Bemessung. Seine Anwendung kann zwar zur lokalen Verstärkung einzelner Tragelemente und Anschlüsse führen; vielmehr ist es jedoch ein allgemeines und interessantes Prüfkriterium für die Gesamtqualität der Tragkonstruktion.


Anmerkung:
[01] Architektur: Scheitlin-Syfrig + Partner Architekten AG, Luzern. Holzbau: Renggli AG. Ingenieur und Konstruktion Holzbau/Brandschutz: Makiol + Wiederkehr, Beinwil am See

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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