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TEC21 2013|24
Denkmal Curtain Wall
TEC21 2013|24
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Le Lignon – Monument der späten Moderne

7. Juni 2013 - Giulia Marino
Die Genfer Wohnungsnot hat Le Lignon nicht lange lindern können. Doch die Überbauung mit dem grössten Wohnhaus der Schweiz beweist, dass eine Satellitenstadt lebendig sein kann, wenn die Bevölkerung sozial durchmischt ist und genug Versorgungsfunktionen vorhanden sind. Ihre Entstehung von 1963 bis 1971 ist so bemerkenswert wie die Architektur, die seit 2009 auf Wunsch der Eigentümer geschützt ist.

In der konjunkturellen Blüte der 1960er-Jahre wuchs die Genfer Bevölkerung exponentiell an.[1] Angesichts der Wohnungsnot, die schon seit 1945 andauerte, war die Schaffung von Wohnraum ein vorrangiges Ziel der Genfer Regierung. Nachdem die Grundsätze der räumlichen Expansion und Entwicklung festgelegt waren[2], konnte mit dem Bau der ersten Wohnkomplexe begonnen werden. Nach der ersten Satellitenstadt der Schweiz, der Cité Meyrin[3], und der Cité Nouvelle d’Onex[4] entstand von 1963 bis 1971, von den Behörden umfassend medial vermarktet, die Grosssiedlung Le Lignon.

Direktauftrag von neuer Dimension

1961 hatten informelle Verhandlungen zwischen dem Kanton und der Architektengruppe um Georges Addor über eine Überbauung des Gebiets Le Lignon begonnen. Wie schon bei den Projekten Meyrin Parc und Le Ciel Bleu in der Cité Meyrin, hinter denen die gleichen Bauherren standen wie hinter Le Lignon, wandte sich der Vorsteher des Baudepartements, Staatsrat Jean Dutroit, über den Planungsamtschef André Marais an das Architekturbüro von Georges Addor und Louis Payot. Die Architekten bekamen den Auftrag, die Machbarkeit einer grossen Wohnüberbauung zu prüfen. Dabei unterstützte sie Horace Julliard, der streitbare Direktor der Immobilienabteilung des Büros Addor et Julliard. Er arbeitete die Verträge mit den privaten Bauträgern und den Finanzierungsplan aus. Letzterer wurde 1961 gleichzeitig mit dem Einzonungsgesuch eingereicht.

Der Standort im Westen des Kantons gehörte zu einem grossen Landgut bei Aïre in der Gemeinde Vernier. Man schlug vor, das Land einzuzonen und dafür ein Drittel der Fläche dem Kanton zu übereignen. Das Überbauungsprogramm für die 280 000 m² grosse bewaldete Fläche zwischen der Rhone und dem Bach Nant des Grebattes war ehrgeizig: Das Bauvorhaben umfasste eine Grosssiedlung mit Wohnraum und Infrastrukturanlagen für 10 500 Menschen. Verglichen mit den grossen Wohnbauprojekten in Frankreich, das gerade den Wiederaufbau beendete, war das zwar bescheiden, für Genf und die Schweiz aber stellte es eine neue Dimension dar. Neben den Wohneinheiten sollten eine katholische und eine protestantische Kirche, eine Schulanlage und ein Einkaufszentrum entstehen. «Wir haben nicht vor, hier eine Schlafstadt zu bauen»[5], versicherte Staatsrat François Peyrot, der das Dossier von seinem Vorgänger übernommen hatte.

Das Bewilligungs- und Finanzierungskonzept folgte einem ganz neuen Ansatz, der von den zuständigen staatlichen Stellen unterstützt und von der Presse als Modelllösung für die Überwindung der Wohnungsnot gelobt wurde. Das Bauprojekt wurde auf informelle Anregung des Kantons von einer unabhängigen Architektengruppe eingereicht und schliesslich von privater Seite lanciert: Zwei Immobiliengruppen kauften das gesamte Bauland. Umgesetzt wurde das Projekt dann in einer öffentlich-privaten Partnerschaft. Der Kanton Genf und die Gemeinde Vernier, die einen Teil der Infrastruktur erstellte, wurden von der Handelskammer des Verbands der Genfer Metallindustrie (Union des Industriels en métallurige), dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) sowie von den zwei privaten Bauträgern unterstützt, die das Projekt initiierten. Hinter einer dieser zwei Gruppen stand der Geschäftsmann Joseph Jaglom, die andere wurde von Ernst Schmidheiny, dem Direktor des Holderbank-Konzerns, vertreten. Die öffentlich-private Partnerschaft führte zu einer neuartigen Kombination von Wohnungstypen: Hinter den einheitlichen Fassaden wurden sowohl subventionierte als auch freitragende Wohnungen untergebracht, darunter auch solche im Stockwerkeigentum. Diese «vielleicht gewagte Formel, in die aber alle Bauträger grosses Vertrauen haben, vereint in einem grossartigen Umfeld verschiedene soziale Milieus und begünstigt so das harmonische Zusammenleben»[6], lobte Staatsrat Peyrot die Lösung beim Richtfest. Das Prinzip der sozialen Durchmischung, das heute wieder aktuell ist, hat sich seither bewährt. Le Lignon ist bei den Bewohnern beliebt; sie entkräften damit die pessimistischen Szenarien einiger Soziologen und Architekturkritiker in den 1970er-Jahren.[7]

Linearer Städtebau

Die behördlichen Vorgaben zur Nutzung und Siedlungsdichte waren streng. Der Plan, den die Architektengruppe vorlegte, verband hohe Dichte mit sparsamer Bodennutzung – eine Lösung, die die kantonalen Stellen vor allem wegen der wirtschaftlichen Vorteile begrüssten. Die Wohnbauten besetzen nur 8 % der zur Verfügung stehenden Fläche. Die tiefe Ausnutzungsziffer (1.0) wurde durch die Verteilung der Wohneinheiten auf drei Objekte erreicht: zwei Hochhäuser mit 26 bzw. 30 Stockwerken im tiefer gelegenen Teil des Geländes und ein 11- bis 15-stöckiges Gebäude, das sich in einer geknickten, aber lückenlosen Linie über mehr als einen Kilometer erstreckt und dabei dem Umriss und der Neigung der Parzelle folgt. Die Gemeinschaftseinrichtungen – Schule und Gemeindesaal vom Büro Billaud, katholische Kirche von Arthur Bugna, protestantisches Kirchgemeindezentrum von René Koecklin und Marc Mozer sowie Läden – entstanden gleichzeitig. Die Architekten platzierten sie im Zentrum, das von dichtem Baumbestand umgeben und in die Landschaft des Rhoneufers eingebettet ist. Die Umgebungsgestaltung des Landschaftsarchitekten Walter Brugger hob die Wirkung der Natur hervor: Streng geometrische Kompositionen, wie der Platz zwischen den Hochhäusern, wechseln mit bewaldeten Flächen ab.

Mit diesem Ansatz wählten die Architekten eine Alternative zu den rechtwinkligen Rastern aus Hochhäusern und Riegeln, die zu jener Zeit bei neuen Wohnsiedlungen die Norm waren. Damit positionierten sie sich in der architektonischen Strömung der 1960er-Jahre, die die dogmatischen Grundsätze der klassischen Moderne kritisierte und schliesslich in den Experimenten des Teams X8 gipfelte. Sie lehnten die «Zerstückelung des unbebauten Raums»[9] ab und bevorzugten die Idee einer «möglichst grossen Parkanlage, die allen Bewohnern die Aussicht auf einen ruhigen und sonnigen Garten ermöglicht und gleichzeitig die Annehmlichkeiten einer urbanen Siedlung in unmittelbare Nähe bringt»[10], wie es Eugène Beaudouin 1955 vorgeschlagen hatte. Addor und sein Architektenteam bekundeten ihr Interesse an den Bauten dieses französischen Architekten, der damals Direktor der Genfer Hochschule für Architektur war. Doch das Projekt Le Lignon orientierte sich stärker an den Experimenten des «linearen Städtebaus», wie sie vor allem in Toulouse-le-Mirail zur Anwendung kamen. Mitarbeiter von Addor erinnern sich, wie sie an einem Vortrag in Genf von diesem spektakulären Projekt für eine Trabantenstadt für 100 000 Einwohner in Toulouse erfuhren. Der Wettbewerbsentwurf des Architektentrios Candilis-Josic-Woods hatte entscheidenden Einfluss auf das Projekt Le Lignon. 1961 arbeiteten die Architekten des Büros Addor und Julliard unter Jacques Bolliger, dem Chef der Projektabteilung, an Entwürfen des Überbauungsplans. Sie führten einen kleinen internen Wettbewerb durch, bei dem sie sich an die für Toulouse-le-Mirail erarbeiteten Grundsätze hielten: eine kompakte, an einem Sechseckraster ausgerichtete Volumetrie, ein streng modulares System, das sich drei Achsen entlang entwickelte. Aus den zahlreichen Varianten wählten Addor und Bolliger diejenige von Werner Francesco. Nach dessen Aussage wurde der mittlere Bereich des Sechsecks, der senkrecht zum langen Riegel stand und Le Mirail nachempfunden war, schon bald wieder verworfen, um Platz für das Einkaufszentrum zu schaffen, das als unabhängiges Gebäude konzipiert wurde. Dieser Entscheid führte dazu, dass die ursprüngliche Idee, Kleingewerbe im Erdgeschoss der Wohngebäude unterzubringen, aufgegeben wurde.

Grund für diesen entscheidenden Schritt war die Rentabilitätsberechnung des unerbittlichen Horace Julliard. Sie hatte noch eine weitere Konsequenz: Die Wohnungen, die im rechtwinkligen Flügel vorgesehen waren, wurden in den Attika- und Galeriegeschossen untergebracht, die ursprünglich als offene, umbaute Flächen mit einigen Gemeinschaftseinrichtungen geplant waren. Obwohl das Konzept auch einige besorgte Stimmen hervorrief – «Eine 50 Meter hohe Mauer kann nicht schön sein!»[11] –, genehmigte der Grosse Rat das Projekt. Im Frühling 1964 war Baubeginn.

Flexible Wohnungstypen

Die Form des langen Hauptgebäudes ermöglichte es, alle Wohnungen nach zwei Seiten, Richtung Jura und Mont Salève, auszurichten. Da keine gegenüberliegenden Bauten im Weg stehen, sind die Wohnungen optimal besonnt und belüftet. Wenn sich auch die Anordnung der Gebäude radikal von derjenigen der Cité Meyrin unterschied, so nahm man bei der Verteilung der Wohnungen und der Raumaufteilung doch deutlich darauf Bezug. Die Bauträger waren mit der Wohnungstypologie, die Addor und Payot in der Cité Meyrin umgesetzt hatten, zufrieden, weshalb die Architekten sie für Le Lignon wieder aufnahmen. Jedes Treppenhaus erschliesst zwei Wohnungen, die sich über die ganze Gebäudetiefe erstrecken und aus standardisierten, 6.60 m breiten, von tragenden Innenwänden begrenzten Raumeinheiten bestehen. Die Standardwohnung ist nicht ganz 90 m² gross und verfügt über dreieinhalb Zimmer und eine integrierte Loggia. Dank dem raffinierten Reduit-Flur-System lassen sich durch Umschlagen eines Zimmers auf einem Stockwerk auch eine 4.5- und eine 2.5-Zimmer-Wohnung einrichten, je nach Nachfrage auf dem Immobilienmarkt.

«Wie viel Platz eine Familie braucht, hängt nicht davon ab, wie viel Geld sie hat»[12], meinte Addor. Deshalb unterscheiden sich die 3900 subventionierten Wohnungen von den 6600 freitragenden nicht durch die Raumaufteilung oder die Wohnfläche, sondern nur durch den einfacheren Innenausbau. Auch das Äussere der Gebäude gibt keine Unterschiede preis, was zu einem eindrücklich kohärenten Erscheinungsbild führt. Die Architekten verfolgten auf allen Ebenen systematisch das Prinzip einer architektonischen Einheit durch Wiederholung der Typologien. Dieser Wille, den sie mit dem Massstab des Bauvorhabens rechtfertigten, äusserte sich im rhythmischen Raster der statischen Elemente und in der Kontinuität der Gebäudehülle: Die 125 000 m² grosse Vorhangfassade ist ein Markenzeichen von Le Lignon, ihre plastische Wirkung spielt bei diesen gewaltigen räumlichen Dimensionen eine entscheidende Rolle. Georges Addor gibt uns hierzu eine wertvolle Interpretationshilfe: «Es handelt sich um eine architektonische Komposition, um die Suche nach Volumen im Raum, ähnlich den Kompositionen, die wir aus der Architektur des 18. Jahrhunderts kennen. Die Gebäude gleichen sich, aber wie auf der Place Stanislas in Nancy oder der Place des Vosges in Paris erzeugen sie keine Monotonie, die Komposition spricht für sich selbst.»[13] «Kühnheit und Vernunft, Wirtschaftlichkeit und Üppigkeit [...] Gerade die Strenge, die Kargheit in der Umsetzung der Module schafft eine unbestreitbare Grösse»[14], urteilte der Kritiker Pierre-A. Emery.

Eine erste Version des Projekts, die wie in der Cité Meyrin zwischen voll verglaster Vorderseite und einer Rückfassade mit Fensterbändern und opaken Brüstungsmodulen unterschied, wurde rasch verworfen. Die architektonische Einheit wird nun durch die umlaufende, auch die Loggien integrierende Gebäudehülle betont, die in jedem vierten Geschoss durch eine zurückversetzte Galerie rhythmisiert wird. Diese Fassadengestaltung verstärkt die plastische Wirkung des Ensembles: Die glatte Oberfläche erhält durch die Alufensterrahmen eine feine Struktur und wird moduliert durch die streng geometrische Abfolge von abwechselnd transparenten und opaken Elementen. Das Markenzeichen des Architekturbüros Addor und Julliard, die im Wohnbau selten eingesetzte, formal gelungene Curtain-Wall-Konstruktion, weckt noch heute das Interesse vieler Architekturfotografen. Noch immer lassen sie sich verführen von der Fassade, die «vom Spiel des Lichts, der Wolken am Himmel und der Natur belebt wird»[15] und die nun denkmalgerecht renoviert wird, nachdem der Kanton Genf Le Lignon 2009 unter Schutz gestellt hat.


Anmerkungen:
[01] Dieser Artikel basiert auf der ausführlicheren Fassung «Un classique de l’architecture et du l’urbanisme de notre temps» in: Franz Graf, Giulia Marino (Hg.): La cité du Lignon 1963–1971. Etude architecturale et stratégies d’intervention. Infolio, Gollion 2012, S. 18–33.
[02] Loi du développement des agglomérations urbaines (LDAU, Gesetz über die Entwicklung der städtischen Agglomerationen) von 1957.
[03] Cité Meyrin: Büro Addor et Julliard, Gaillard Frères, Eduard Conti, R. Jaton; darin: Meyrin Parc und Le Ciel Bleu: Georges Addor und Louis Payot, Honegger Frères, 1959–64.
[04] Cité Nouvelle Onex-Lancy: Überbauungsplan Honegger Frères, 1959–64.
[05] Wie Anm. 1, S. 20, Anm. 12.
[06] Wie Anm. 1, S. 22, Anm. 19.
[07] Z. B. Stanislaus von Moos: «Orientamenti nuovi nell’architettura svizzera» in: Electa, Mailand 1970, S. 53–63.
[08] Team X oder Team 10 (1953–81): Architektengruppe, kritisierte Vertreter der klassischen Moderne; Mitglieder: Peter und Alison Smithson, Georges Candilis, Shadrach Woods, Jacob Bakema, Aldo van Eyck u. a.
[09] «Le Lignon» in: Habitation 9/1965, S. 35.
[10] Eugène Beaudouin: «De la composition des plans-masse des groupes d’habitations» in: Forum 3/1955, S. 61–68, hier: S. 68.
[11] Aus einer Studie der Eigentümergemeinschaft von 1964 zur Auswirkung der Gebäudegrösse.
[12] Georges Addor in «Tel sera le plan de la future cité du Lignon» in: Journal de Genève, 3.11.1963.
[13] Georges Addor: «Le Lignon», Typoskript vom April 1963, Privatarchiv der Familie Addor, Genf.
[14] Pierre-A. Emery: «La Cité du Lignon, Genève» in: Architecture, Formes, Fonctions 15/1969, S. 248–253, hier S. 248.
[15] G. Addor zit. in: wie Anm. 14.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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