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TEC21 2013|25
Saaneviadukt erweitert
TEC21 2013|25
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Mit Weitwinkeleffekt

Seit Ende März 2013 steht das Siegerprojekt des Studienauftrags für den Ausbau des Saaneviadukts fest. Der Ausbau des Denkmals auf Doppelspur wird eine sichtbare Veränderung des Erscheinungsbilds zur Folge haben. Da kommt vorerst Wehmut auf, denn der Wert des bestehenden Viadukts ist hoch: Trotz seiner Grösse bettet er sich erhaben in die Umgebung ein. Während die markanten Mauerwerksbögen beschwingt die Vorlandbereiche überziehen, überspannt das leichte Stahlfachwerk das Hauptfeld über die Saane. Das Bauwerk ist eine beachtliche ingenieurtechnische Leistung. Ist ihm das Siegerprojekt von Fürst Laffranchi Bauingenieure mit Flury und Rudolf Architekten, Sieber Cassina   Partner sowie Uta Hassler ebenbürtig?

Das Siegerprojekt fällt durch das neue Stahlfachwerk mit seiner dynamischen Wirkung auf. Es überrascht damit und widerspiegelt so gar nicht die starren und vor allem zahlreichen Rahmenbedingungen, die der Studienauftrag gestellt hatte. Neben den technischen Vorgaben (vgl. «Noch ist der Viadukt einspurig», S. 14) galt es für die Planerteams vor allem auch den Wert des knapp 112 Jahre alten Baudenkmals zu respektieren. Es gilt als Zeuge der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Ausserdem ist es im Bauinventar des Kantons Bern als schützenswertes Objekt verzeichnet; gemäss kantonalem Baugesetz sind solche Baudenkmäler ungeschmälert zu bewahren. Diese Vorgaben schränkten den Spielraum für Lösungen ein.

Der Saaneviadukt ist wertvoll

Der bestehende Saaneviadukt ist klar gestaltet und besteht aus drei Teilen: der Damm auf Seite Gümmenen, die Steinviadukte in den Vorlandbereichen und das Stahlfachwerk über der Flussquerung (vgl. «Noch ist der Viadukt einspurig», Abb. 3 und 4, S. 16). Zusammen bilden sie ein Ensemble, das die umliegende Landschaft prägt. Insbesondere der Damm und der Steinviadukt auf der Seite Gümmenen dominieren die Talebene. Das Fachwerk ist vor allem im Sommer weniger sichtbar. Neben seinem Situationswert und seiner historisch-kulturellen Bedeutung hat das Ensemble auch einen hohen emotionalen und ästhetischen Wert. Für die BLS ist es die grösste Kunstbaute der Strecke, die einen Liebhaberwert aufweist. Die regelmässigen Viaduktbögen sind harmonisch gestaltet, und die rechteckförmigen, sich nach oben verjüngenden Pfeiler mit den grob behauenen Jurakalksteinen sind kräftig und versinnbildlichen Stand- und Tragfähigkeit – ihr Tragvermögen ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft (vgl. «Noch ist der Viadukt einspurig», Kasten S. 16). Der leichte einfeldrige Stahlträger mit zweifachem Strebenzug mit Pfosten wirkt filigran und zeigt sich noch im Originalzustand. Die Filigranität erhält der Träger vor allem durch die Struktur der genieteten Flach- und Walzprofile. Mit ihren Kanten bewirken sie ein Schattenspiel, das den Profilen vermeintlich ihre wahre Abmessung nimmt – so erscheinen die Flacheisen breiter als die U-Profile, obwohl ihre Abmessungen gleich sind (Abb. 2).

Das Erscheinungsbild wird sich verändern

Der ausgebaute Saaneviadukt soll den ursprünglichen Charakter behalten. Das Team um Fürst Laffranchi Bauingenieure fügt deshalb in seinem Siegerprojekt die neuen Bauteile nicht im Kontrast zum Bestand ein. Die Pfeiler und die Gewölbe werden generell in Steinmauerwerk instandgestellt und die erforderlichen Verbreiterungen des Viadukts in gleicher Gestalt und Materialisierung weitergebaut. Die Rhythmisierung des bestehenden Bauwerks durch die Gruppenpfeiler des Steinviadukts wird beibehalten und wie bisher durch die Lage der Fahrleitungsmasten akzentuiert.

Trotzdem wird sich das Erscheinungsbild verändern, denn an allen drei Teilen des Ensembles – Damm, Viaduktbögen und Fachwerk – sind die Eingriffe für den Ausbau sichtbar. Der bestehende Damm wird ohne Stützbauwerke verbreitert, damit der Viadukt nach wie vor am Damm endet und seine ursprüngliche Gestalt bewahrt. Die erforderlichen Anpassungen resultieren aus der Erhöhung der Nivellette von 0.72 m im Bereich der Brücke sowie aus dem zusätzlichen Flächenbedarf und den vergrösserten Radien im Grundriss. Teile des Trockenstandorts von nationaler Bedeutung können erhalten werden.

Markante, aber feine Linie auf der Mauerwerkskrone

Der neue doppelspurige Betonschottertrog, der den Viadukt auch neu abdichtet, kragt weit über die bestehende Viaduktkante aus und erscheint neu als markante Linie auf der Talquerung. Die beidseitige Auskragung von 3.35 m, die sich im Regelquerschnitt aus den Anforderungen an die neue Fahrbahn ergibt, ist über die gesamte Brückenlänge konstant und nicht strukturiert. Sie ist von Weitem sichtbar. Der Schattenwurf betont die Horizontale zusätzlich – vor allem bei hohem Sonnenstand, wenn der Schatten bis tief ins Mauerwerk auf halbe Viadukthöhe ragt. Immerhin entschärft die aufwärts gerichtete Trogunterseite diesen Effekt, und die gleichbleibende Auskragung über die gesamte Bauwerkslänge erzeugt ein ruhiges Schattenbild. Im Siegerprojekt liegt der neue Trog auf dem bestehenden Mauerwerk, nachdem der vorhandene vollständig abgetragen ist. Dies verdeutlicht, dass der Unterbau die Mehrlasten abtragen kann und seinen Dienst noch lange nicht getan hat. Der Trog wirkt als Versteifungsträger über die Steinbogenöffnungen und wird grau belassen, womit die Bauteile mit ihrer unterschiedlichen Funktion und Geschichte ablesbar bleiben. Die Stirnansicht verläuft durchgehend vom Damm bis zum Widerlager auf Seite Mauss und bindet so die Viaduktbögen und Fachwerkträger zusammen.

Diese Zusammenbindung geschieht nicht nur optisch, sondern auch statisch: Der in Längsrichtung vorgespannte Schottertrog verbindet nämlich die Natursteinpfeiler und gibt den Mauerwerksbögen zusätzliche Steifigkeit, insbesondere für nicht affine Belastungen. Er ist in Längsrichtung in nur drei Abschnitte von etwa 90 m Länge unterteilt, damit auf eine Schienendilatationsvorrichtung verzichtet werden kann. Über die Verbindung zwischen Trog und Mauerwerk kann ausserdem eine genügend grosse Zugkraft aktiviert werden, um den infolge Bewegungen verschobenen Widerlagerpfeiler wieder in die ursprüngliche Lage zu führen. Eine Verspannvorrichtung, mit der die bestehende Fachwerkbrücke 1944 versehen werden musste (Abb. 2), braucht die neue Stahlbrücke also nicht mehr.

Die bestehende Fachwerkbrücke wird ersetzt

Eine weitere hervorstechende Veränderung ist die neue Brücke über die Saane. Das bestehende Stahlfachwerk zwischen den beidseits des Flusses liegenden Kalksteinviadukten wird durch eine neue Stahlfachwerkverbundbrücke ersetzt, weil die Querschnittsabmessungen im Hinblick auf die künftige Nutzung nicht ausreichen. Verstärkungsmassnahmen hätten das Erscheinungsbild der bestehenden Brücke unerwünscht stark geprägt. Die neue Saanequerung wird wie das historische Vorbild mit einem Fachwerk ausgeführt. Es besteht aus rechteckigen, unterhaltsfreundlichen und gegen Ermüdung tauglichen Hohlkastenprofilen, die über ausgerundete Knoten zusammengeschweisst sind. Es fällt durch seine Ausfachung auf: Die Maschenweite des Fachwerks passt sich an die Grenzwertlinie der Schubbeanspruchung an und folgt damit der Bedingung V × cot (α) = konstant, wobei mit α §die Neigung der Diagonalen gemeint ist. Damit wird die Ausfachung gleichmässig und statisch sinnvoll ausgenutzt. Das Fachwerk beginnt also an den Auflagern dichter und wird im Feld allmählich transparenter. Ausserdem wird die Zunahme der Zugkraft im Untergurt durch den gegen die Flussmitte anwachsenden Gurtquerschnitt erkennbar. Der Obergurt, der direkt mittels Kopfbolzendübel mit der Betonplatte des Schottertrogs verbunden ist, weist kleinere Abmessungen auf. Der Kräfteverlauf ist also ablesbar. Dies bewirkt insbesondere in der frontalen Ansicht, aber auch in der Seitenansicht eine optische Täuschung.

Wie bei einem Weitwinkeleffekt scheint sich das Fachwerk nach vorn zu wölben (Abb. 6). Wegen der gleichbleibenden Auskragung des Trogs, der sich gegen Mauss hin infolge der Gleisachsverschiebung verbreitert (Abb. 5), ist der unterwasserseitige Träger gekrümmt. Dies führt am Untergurt zu Ablenkkräften, die über biegesteif angeschlossene Querträger auf beide Gurten verteilt werden. Diese Rahmenwirkung erhält auch die Trägerform im Feld. Querverbände sind nur an den Brückenenden angeordnet, wo sie ebenfalls die Form des Trägers erhalten, aber auch Beanspruchungen quer zur Fahrbahn einleiten (Abb. 4). Im bestehenden Fachwerk ist die Form konstant, und die einzelnen Bauteile variieren in ihrer Stärke. Das moderne Fachwerk hingegen fällt mit einer variablen Form und dafür konstanten Bauteilabmessungen auf. Jede Konstruktion widerspiegelt ihren Zeitgeist. Die Stahlfachwerkverbundbrücke reizt neue statische Erkenntnisse aus, die beim Bau der alten noch nicht zur Verfügung standen – die erste echte Verbundbrücke für eine Schweizer Eisenbahn liess die SBB beispielsweise erst in den 1940er-Jahren bauen. Mit den variabel angeordneten Streben erreichen die Verfasser trotz der Hohlkastenprofile mit ihrer flachen Aussenform eine ähnliche Transparenz und Filigranität, wie sie das bestehende Fachwerk mit seinen Walzprofilen aufweist. Schliesslich erzielen sie mit der speziellen Ausfachung ein günstiges Verhältnis von Material- und Arbeitsaufwand, das wiederum umgekehrt proportional vergleichbar ist mit der ursprünglichen Konstruktion.

In eine neue Epoche überführt

Der neue Fachwerkträger als Hauptmerkmal des angepassten Saaneviadukts fesselt einen insofern mehrfach. Ohne beim Ausbau auf historisierende Elemente zurückzugreifen, nimmt die moderne Konstruktion Form und Materialisierung des bestehenden Fachwerks auf.

Eine neue Epoche beginnt, in der der Saaneviadukt mit einem veränderten Bild erscheint, seinen Charakter aber bewahrt. Wie so oft aber ist auch diese Beurteilung nur vorläufig, denn wie die Brücke wirken wird, wenn sie denn tatsächlich steht – die BLS geht davon aus, sie bis 2019 in Betrieb zu nehmen –, darauf darf man gespannt sein. Dann zeigt sich definitiv, ob das Siegerprojekt dem historischen Denkmal ebenbürtig ist. Wie die Jury sagt: Das Potenzial dafür ist da.


Der Artikel basiert auf dem Technischen Bericht des Teams um Fürst Laffranchi Bauingenieure, Oktober 2006.es Ergebnisse, 7. 9. 2009.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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