Zeitschrift

TEC21 2015|07-08
Gedanken zur Mobilität
TEC21 2015|07-08
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Die Fahrzeit ist entscheidend

Gemessen an der Reisezeit zwischen zwei Orten ist die Schweiz zwischen 1950 und 2000 auf die Hälfte ihrer Fläche geschrumpft. Die Forderung nach noch besserer Erreichbarkeit steht im Raum. Wie soll das Land damit umgehen? Ein Verkehrsexperte gibt seine Einschätzung.

22. Februar 2015 - Kay W. Axhausen
Gemessen an der Reisezeit zwischen zwei Orten ist die Schweiz zwischen 1950 und 2000 auf die Hälfte ihrer Fläche geschrumpft. Die Forderung nach noch besserer Erreichbarkeit steht im Raum. Wie soll das Land damit umgehen? Ein Verkehrsexperte gibt seine Einschätzung.

Text: Kay W. Axhausen

Die letzten 250 Jahre in Westeuropa und insbesondere in der Schweiz sind eine Geschichte des Wachstums und des Reicherwerdens. Seit dem Beginn der Industrialisierung um 1750 hat die Schweiz in ihre Verkehrsnetze investiert, um am internationalen Handel und später am Tourismus teilnehmen zu können. Im frühen 19. Jahrhundert standen die Strasseninvestitionen im Vordergrund, um dann für 100 Jahre von den Eisenbahninvestitionen abgelöst zu werden.[1,2] Die letzte grosse Phase der Einigkeit darüber, dass höhere Geschwindigkeiten notwendig und wünschenswert seien, waren die Jahre des Nationalstrassenbaus. Es gab keine Fundamentalkritik, sondern nur Auseinandersetzungen über die beste Art, die gewünschten Erreichbarkeiten zu produzieren. Alle wollten damals ein Verkehrsnetz, das die erwartete dichter besiedelte und reichere Schweiz mit den herbeigesehnten Pkw und Zügen schnell und effektiv bedienen konnte. Die grosszügig geplanten und gebauten Kapazitäten reichten bis Ende des letzten Jahrtausends aus, um der wachsenden Bevölkerung die gewünschten Geschwindigkeiten zu ermöglichen. Seit 1990 merkt man aber, dass dies nicht mehr überall gelingen will – zuerst am Genfersee und rund um Zürich.

Die Schweiz ist eingelaufen

Die Zeitkarten (unten) zeigen, wie die Schweiz durch die öffentliche Investition in bessere Netze und die privaten Investitionen in schnellere Fahrzeuge geschrumpft ist. Die Karten haben denselben Massstab. Sie sind das Ergebnis einer Anpassung der Landeskarte an die Reisezeiten zwischen den Gemeinden. Die Abstände sind nicht mehr in Kilometern, sondern als Fahrzeit in Stunden angegeben. Vereinfacht gesagt ist die Strassen-Schweiz zwischen 1950 und 2000 um die Hälfte eingelaufen. Beim Schienenverkehr war die Schrumpfung nicht ganz so stark (Karten S. 28).

Der Optimismus der 1960er-Jahre ist verflogen, Verkehrs- und Infrastrukturplanung sind heute in einer Zwickmühle. Die Externalitäten bestimmen die Diskussion: Unfälle, Lärm, Stau, Abgase, Kohlendioxid, zusätzliche Fahrleistungen, Bevölkerungswachstum im Umland der Städte. Gleichzeitig werden immer noch höhere Erreichbarkeiten gewünscht, die genau diese Externalitäten erzeugen.

Distanz und Erreichbarkeit

Erreichbarkeit ist in der allgemeinen Diskussion ein relativ unbestimmter, aber positiv besetzter Begriff, der weniger Staus, höhere Geschwindigkeiten, niedrigere Fahrkosten, grössere Verlässlichkeit und allgemein mehr Mobilität verspricht. In der Fachdiskussion ist die Erreichbarkeit aber eine messbare Grösse, die die Fahrzeit zwischen zwei Orten, deren Bewertung durch die Reisenden und die Anzahl der am Ziel vorhandenen Aktivitätsgelegenheiten (Einkaufszentrum, Sportanlage etc.) zueinander in Beziehung setzt. Die Bewertung bringt zum Ausdruck, dass weiter entfernte Aktivitäten nicht so nützlich sind und damit ein tieferes Gewicht haben sollten. Die Erreichbarkeit ist ein Mass der Möglichkeiten, die die Bewohner einer Gemeinde, eines Stadtteils, eines Gebäudes haben. Man kann das Mass auch umkehren und fragen, wie viele Personen einen Punkt erreichen können. So definiert, wächst die Erreichbarkeit mit höheren Geschwindigkeiten und damit rückläufigen Fahrzeiten.

Eine erhöhte Erreichbarkeit wird von den Bewohnern einer Region anfänglich genutzt, um schneller unterwegs zu sein, dann aber allmählich auch, um an besseren, auch weiter entfernteren Orten zu arbeiten, sich zu vergnügen oder zu wohnen – ohne auf die alten Freunde oder Kontakte verzichten zu müssen. Mehr Erreichbarkeit produziert mehr Verkehr der Bewohner und Firmen, die dann im Mittel besser zusammenpassen. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Wachstum der Fahrleistung, Pendlerdistanzen und Einzugsbereiche kleiner ist als das Wachstum der Erreichbarkeiten, das der Auslöser war.[3]

Ausserorts versus innerorts

Auf nationaler und kantonaler Ebene versucht die Verkehrspolitik, mit ihren Engpass- und Agglomerationsprogrammen sowie Investitionen in das Schienen- und Strassennetz diese Erreichbarkeit zu erhöhen, da sie die Geschwindigkeiten zwischen den Gemeinden sichern oder erhöhen werden. Auf kommunaler Ebene jedoch strebt man zum Teil das pure Gegenteil an. Vor allem die grossen Städte verschieben den Verkehr auf langsamere Verkehrsmittel, indem sie den Strassenverkehr langsamer oder teurer, sprich unattraktiver machen. Zudem hat sich die Schweiz gegen eine weitere Zersiedlung ausgesprochen: mit dem neuen Raumplanungsgesetz mit seiner forcierten Innenentwicklung, dem 20%-Deckel für Ferienwohnungen und der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (vgl. Dossier «Nachhaltigkeit planen» auf www.espazium.ch).

Anders gesagt: Die Städte reduzieren die möglichen Gewinne der kantonalen Programme, während gleichzeitig der Volkswille die Möglichkeiten einschränkt, die Gewinne aus der erhöhten Erreichbarkeit einfach zu realisieren. Ob die angestrebte Innenentwicklung ausreicht, um diese Prozesse auszugleichen, wird man sehen.

Es ist nicht offensichtlich, wie sich die Strassengeschwindigkeiten in der Summe entwickeln werden. Die Verdichtung der Takte der öffentlichen Verkehrsmittel und ihr punktueller Geschwindigkeitsausbau erhöhen die erlebte Geschwindigkeit. Der immer intensivere Flugverkehr steigert die mittleren Jahresgeschwindigkeiten massiv. Die verstärkte Nutzung des Internets ebenso: Wie viele langsame Wege und Wartezeiten werden hier durch kurzes Nachschlagen, Bestellen, Anmelden, Einkaufen ersetzt! Können die Nutzerinnen und Nutzer auf diese Weise ihre wachsende Ungeduld befriedigen und gleichzeitig ihren Umweltansprüchen genügen? Die wachsende Ungeduld ist ein Ergebnis des wachsenden Wohlstands, der aber auch dazu führt, dass die Erwartungen an die Umwelt und das Umfeld steigen.

Was passieren könnte

Die jährliche Verkehrsmenge im Individualverkehr ist das Produkt aus der Anzahl der Bewohner eines Landes mal deren Fahrleistung – plus allfälliger Ziel-, Durchgangs- und Besucherverkehre, die aber neben der Verkehrsmenge der Einheimischen nur lokal ins Gewicht fallen. Die zukünftige Bevölkerungszahl steht in den Sternen, politisch wie ökonomisch. Jede Annahme ist problematisch, aber eine konservative ist, dass die Bevölkerung konstant bleibt, die nächsten Jahrzehnte erst älter und dann durch Zuwanderung und natürliches Wachstum verjüngt wird. Eine wachsende Bevölkerung verschärft alle anderen Trends durch ihre Nachfrage nach Wohnraum, Verkehr und das durch sie realisierte und ausgelöste Wirtschaftswachstum.

Die künftige Bevölkerung wird einen grösseren Zugang zu Pkw haben. Ob es sich dabei um eigene oder um geteilte Fahrzeuge handelt, ist für die Fahrleistung gleichgültig. Die höheren sichtbaren Unkosten der geteilten Fahrzeuge werden die Nachfrage zwar dämpfen, aber nicht auf null reduzieren. Die grössere Verfügbarkeit wäre auch noch zu berücksichtigen und die damit vielleicht in der Summe grössere Fahrtenmenge. Es gibt zwar Hinweise, dass insbesondere junge Männer ihre Fahrerlaubnis später erwerben, aber noch nicht darauf, dass sie in grösserer Anzahl darauf verzichten werden.

Verkehrsnutzung politisch steuern

Spannender ist die eminent politische Frage, ob die Schweiz in Zukunft davon abrücken wird, die Erreichbarkeit substanziell zu erhöhen, indem sie keine neuen Kapazitäten mehr baut, oder ob sie die Kapazitäten durch erhöhte Preise der Nutzung quasi rationiert.

Bei neuen Kapazitäten stellt sich das Problem, dass die Anforderungen in Sachen Lärmschutz, Sicherheit, Trassenführung überproportional gewachsen sind und ihre Kosten deshalb stärker als die allgemeinen Baukosten gestiegen sind. Während die Eisenbahnen ihre Finanzierungspakete bisher genehmigt bekamen, ist es nicht klar, ob dies auch bei den Strassen so sein wird (vgl. TEC21 5–6/2014, «Was hinter FABI steckt»).

Die Rationierung durch Preise hätte zwar den Vorteil, dass das System verlässliche und je nach Preis sogar höhere Geschwindigkeiten anbieten könnte, aber die politische Akzeptanz ist bisher noch nicht erkennbar.

Die Schweiz muss also bauen oder rationalisieren. Sonst wird der Strassenverkehr langsamer, und wachsende Belastungen und Preissteigerungen im öV sind zu erwarten, da die Fahrweiten der Bevölkerung weiter wachsen werden. Familien oder Paare mit zwei arbeitenden Erwachsenen werden weiter Schwierigkeiten haben, Arbeitsplätze am selben Ort zu finden – je spezialisierter die Wirtschaft wird, desto unwahrscheinlicher. Neben der zeitlichen Belastung der Bevölkerung verzichtet die Schweiz durch den fehlenden Ausbau oder Rationierung aber auch auf die Produktivitätsgewinne durch eine höhere Erreichbarkeit.

Fast so gut wie «beamen»

Eine Hoffnung auf billige höhere Kapazitäten und Erreichbarkeiten gibt es aber im Moment: autonome (elektrische) Fahrzeuge, vielleicht ab 2030 fahrerlose Fahrzeuge. Die Vision kleiner, schneller, aber sicherer Elektrofahrzeuge fasziniert wegen ihrer Möglichkeiten im Moment alle an Verkehrs- und Stadtplanung Interessierten. Sie wären leise, sie würden allen Personen zur Verfügung stehen, sie könnten Dinge holen und bringen, sie könnten sich selbst umsetzen, sie könnten effektiv geteilt werden. Fast so gut wie «beamen».

Die Hürden auf dem Weg zu einer solchen Schweiz sind im Moment noch hoch: Kann das Recht so angepasst werden, dass ein Fahrzeug ohne letztverantwortlichen Fahrer betrieben werden kann? Wer legt die Regeln für die Fälle fest, in denen sich das System zwischen zwei unglücklichen Ergebnissen entscheiden muss (vgl. das «Trolley Problem»4)? Ist es überhaupt möglich, die notwendigen Karten zu erstellen und praktisch in Echtzeit so aktuell wie nötig zu halten? Wie kann, wie muss man sich als Fussgänger in einem solchen Verkehr verhalten? Neben den technischen, rechtlichen und moralischen Problemen stehen die verkehrlichen Fragen: Wie viel mehr Verkehr würde ein solches System erzeugen? Würden die Erreichbarkeitsgewinne durch die höhere Fahrleistung erschöpft? Würde am Ende doch mehr CO2 als vorher erzeugt?

Geschwindigkeit und Erreichbarkeit stehen nicht im Mittelpunkt

Die Zwickmühle ist klar: Die Schweiz möchte höhere Erreichbarkeiten, ist aber im Moment weder bereit, den Ausbau der Kapazitäten durch Steuern zu finanzieren, noch will sie die Nachfrage über Preise so einschränken, dass die erhöhte Erreichbarkeit allen Verkehrsteilnehmern nur zeitweise zur Verfügung steht. Hoffen auf autonome Fahrzeuge ist angesichts ihrer Hürden keine wirkliche Lösung. Politische Diskussionen über Strassengebühren oder Mobility Pricing scheitern an genau dieser Zwickmühle, vor allem, da die Geschwindigkeiten und damit die Erreichbarkeiten nicht in den Mittelpunkt gestellt werden. Es wäre den Versuch wert, den Prozess mit einer Diskussion über die gewünschten Geschwindigkeiten zu beginnen. Diese Zielgrösse würde dann die baulichen, preislichen, finanziellen Massnahmen festlegen. Die Diskussion wäre wieder auf Visionen gerichtet und nicht mehr wie jetzt auf allfällige Verluste.


Anmerkungen:
[01] T. Frey und H.-U. Schiedt: Transformation periods in Switzerland’s transport system, 1810–1910 – The structures and processes of traffic acceleration, paper presented at the 1st International Conference on the History of Transport, Traffic and Mobility (T2M), Eindhoven, November 2003.
[02] H.-U. Schiedt: Die Strassennetze 1750–1850 – Aspekte des Wandels, 1998, Historicum: Zeitschrift für Geschichte 57, S. 10–17.
[03] C. Weis und K. W. Axhausen: Aktivitätenorientierte Analyse des Neuverkehrs: Leitfaden 2012/02, SVI, St. Gallen 2013.
[04] Eine Strassenbahn (Trolley) ist ausser Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Bahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Dort befindet sich eine weitere Person. Darf der Tod dieser einen Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten? Bei diesem Gedankenexperiment geht es um die Frage, ob man den Tod weniger in Kauf nehmen darf, um viele zu retten, oder zu diesem Zweck sogar herbeiführen muss. Das Entscheidungsproblem wird in der Fachliteratur variiert mit der Absicht, Grenzen für die moralische Bewertungen von Handlungen auszuloten und festzustellen, ab wann und mit welcher Begründung eine bestimmte Entscheidung als moralisch gerechtfertigt oder verwerflich gilt.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: