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db deutsche bauzeitung 06|2015
Suffizienz
db deutsche bauzeitung 06|2015

Einfach mehr

Baugruppenprojekt R50 in Berlin-Kreuzberg

Effiziente Architektur und kostengünstiges Bauen zeichnen das Wohngebäude in der Berliner Ritterstraße 50 aus. Aber reicht ein niedriger Ausbaustandard und ein Mehr an Gemeinschaftsflächen, um einen Beitrag zur Suffizienz-Debatte zu leisten?

1. Juni 2015 - Carsten Sauerbrei
Ein kompakter, frei stehender Baukörper auf einem niedrigen Sockel und insgesamt sieben Geschosse gegliedert durch stählerne, umlaufende Balkonzonen vor einer hellen Holzfassade – das ist der erste Eindruck vor Ort. So ungewöhnlich wirkt das Projekt der Berliner Büros ifau und Jesko Fezer | HEIDE & VON BECKERATH nicht, als dass der Besucher hier neue Antworten auf Fragen nach der Zukunft des ressourcenschonenden Wohnungsbaus vermuten würde. Auf den zweiten Blick fällt jedoch auf, dass weder das Grundstück noch der Balkonumgang vor den Wohnungen fest markierte Grenzen haben. Privatheit scheint also weniger wichtig als Gemeinschaft und Begegnung. Außerdem fehlt die bei Neubauten immer noch übliche Tiefgarage und auch Materialwahl und Detaillierung erscheinen weniger prätentiös als bei anderen Neubauten in der Berliner Innenstadt.

Rohbau gleich Ausbau

»Robust angelegt und präzise detailliert«, so beschreibt Architekt Tim Heide beim Rundgang durch das Haus eine Idee des Entwurfskonzepts. Damit sollte zunächst kostengünstiger Wohnungsbau mit attraktiver Gestaltung verbunden werden. So legten die Planer gemeinsam mit den Bewohnern einen einheitlichen, niedrigen Ausbaustandard für das Gebäude fest. »Wir haben im Grunde überall die letzte Schicht weggelassen«, fasst Heide zusammen. Die Ästhetik der Wohnräume wird daher bestimmt von den rau wirkenden Oberflächen der Betondecken, des Kalksandsteinmauerwerks und des Heizestrichs im Kontrast zur warm wirkenden Kiefernholzfassade, die sowohl außen als auch innen Verwendung fand. Trotz des Verzichts auf den Glanz der Oberfläche wirken die Räume keineswegs »billig«. Einfach oder low tech, wie es Heide formuliert, trifft es tatsächlich ziemlich genau. Die Baukosten waren mit 2 150 Euro/m² tatsächlich sehr niedrig und senkten damit die Schwelle zum Eigentumserwerb deutlich. Aber bewirkt finanzielle auch ökologische Entlastung?

Geringere Wohnfläche effizient organisiert

Weniger Materialeinsatz, der auch mit einem schlanken Stahlbetonskelett und einer minimierten Stützenanzahl erreicht wurde, ist sicherlich ein wesentlicher Beitrag zur Ressourcenschonung, wenn auch nur schwer zu quantifizieren. Leichter zu bestimmen ist dagegen der Effekt, den die Größe der pro Kopf in Anspruch genommenen Wohnfläche auf den Ressourcenverbrauch hat. Eine Verringerung dieser Fläche ist tatsächlich einer der »Big Points« der Suffizienz im Haushalt, so das Freiburger Öko-Institut im Jahr 2013. In der Ritterstraße 50 sind im Verlauf der Planung 19 Wohnungen mit einer Größe von 80 bis 130 m² sowie ein kleineres Studio aus den zunächst drei Regelgrundrissen und einem optionalen Gemeinschaftsraum pro Etage entstanden, insgesamt 2 130 m² Wohnfläche für 62 Bewohner. Damit liegt die pro Kopf in Anspruch genommene Wohnfläche mit 34 m² ca. 20 % unter dem Berliner Durchschnitt – ein deutlicher Beitrag des Projekts zur dauerhaften Umweltentlastung und eine seltene Ausnahme vom immer noch anhaltenden Trend zu mehr Flächenverbrauch.

Eine der Voraussetzungen, um mit weniger Raum auszukommen – eine effiziente Nutzung der Wohnungen – ist hier im aufwendigen Planungsverfahren von Architekten und Nutzern gemeinsam erarbeitet worden. Dazu befragten die Architekten die zukünftigen Bewohner detailliert zu ihren Wohnbedürfnissen, diskutierten diese mit ihnen und entwickelten anschließend individuell maßgeschneiderte Grundrisse. Aufgrund der nicht-tragenden Innenwände können die Räume sich auch zukünftig wandelnden Lebensumständen anpassen und selbst Teilungen in zwei kleinere Apartments sind bei den Wohnungen auf der Nordseite möglich.

Temporär und gemeinsam genutzt

»Eine zweite Voraussetzung für ein Weniger an privater Wohnfläche wäre ein Mehr an gemeinsam genutzten Räumen«, führt Susanne Heiß, Architektin und selbst Bewohnerin, im Gespräch über das Gebäude aus. Anders als zunächst konzipiert, fielen zwar nach Diskussion in der Baugruppe die optionalen Gemeinschaftsräume auf den Etagen weg. Diese Flächen werden jedoch fast vollständig durch den 130 m² großen Gemeinschaftsraum im EG kompensiert, für den wiederum eine Wohnung aufgegeben wurde. Damit gibt es bei diesem Projekt deutlich mehr gemeinschaftlich genutzte Flächen als bei vergleichbaren Baugruppen, insgesamt ungefähr 20 m² pro Wohnung. Dazu zählt nicht nur der 70 cm breite, durchlaufende Umgang vor den Wohnungen, sondern auch eine Dachterrasse, Waschküche und Holzwerkstatt, der doppelgeschossige Raum im EG und nicht zuletzt der große Garten. »Das sei schon ein gewisser Luxus«, so Susanne Heiß weiter. V. a. die Kinder nutzen Umgang und Garten intensiv zum gemeinsamen Spielen und man könne sich leichter treffen, schneller seine Nachbarn besuchen. Außerdem wäre gerade der große Gemeinschaftsraum für verschiedene flexible Nutzungen gut geeignet – als temporäres Gästezimmer, zum gemeinsamen Kochen, Feiern oder Spielen. »Key Points« der Suffizienz nennt das Öko-Institut solche Änderungen des Lebensstils, die eine möglichst große gesellschaftliche Umgestaltung in Richtung Nachhaltigkeit anstoßen können. Einen Einstellungswandel hin zu mehr gemeinschaftlich genutzten Flächen kann die Baugruppe in der Ritterstraße 50 tatsächlich befördern, auch wenn längst nicht alle Ideen der Planer dahingehend aufgingen. So verzichten nur acht der zwanzig Eigentümer auf die Waschmaschine in der Wohnung und bevorzugen die gemeinsame Waschküche.

Vernetzung mit der Nachbarschaft

Auch in größerem Rahmen zeigt dieses Projekt Möglichkeiten, aber auch Grenzen gemeinsamer Nutzungen auf. So wird der Gemeinschaftsraum im EG neben den Bewohnern auch sozialen Initiativen zur Verfügung gestellt. Zweimal wöchentlich findet dort zurzeit eine Hausaufgabenhilfe statt. Das Gebäude leistet somit einen aktiven, kommunikativen Beitrag im Quartier. Der Garten, dessen Grenzen nur teilweise und auch nur weich durch Heckenpflanzungen markiert sind, soll den Nachbarn offen stehen und ist dennoch Teil des gemeinschaftlichen Raums der Baugruppe. Im Moment nutzen dieses Angebot v. a. Nachbarskinder zum Spielen und zwar so gut, dass die Kinder der Baugruppe sich schon beschwert haben, wie Susanne Heiß lachend anmerkt. Auch die Erdgeschosswohnungen wünschten sich mittlerweile ein wenig mehr Privatheit. Daher überlege man jetzt, den Freiraum durch Pflanzungen stärker in privatere und öffentlichere Flächen zu gliedern.

Auch städtebaulich ist Vernetzung das Freiraumthema. Die heterogene Bebauung der Umgebung – vom aufgelockerten Siedlungsbau der 50er Jahre bis hin zur Rekonstruktion des Berliner Blockrands in den späten 80er Jahren – wird über das neue Gebäude und den großen umgebenden Garten locker miteinander verknüpft. Einen Entlastungseffekt für die Umwelt bewirkt dabei die reduzierte Grundfläche des Gebäudes. Die Anlage einer großen Fahrradabstellfläche anstelle von Pkw-Stellplätzen ist dagegen ein fast schon selbstverständlicher Ausdruck eines bereits erfolgten Einstellungswandels.

Welche Maßnahmen suffizientes Bauen ermöglichen, wird bei R50 insgesamt sehr deutlich. Mit der intensiven Nutzerbeteiligung wurde eine optimierte, nutzerspezifische Grundrissplanung und ein großer Konsens über Gemeinschaftsnutzungen möglich. Dieser Umstand und die überdurchschnittlich großen Gemeinschaftsflächen ermöglichten hier tatsächlich geringere Wohnflächen ohne Qualitätseinbußen bei der Nutzung.

Andere Entscheidungen wie die für Eigentumswohnungen oder für die Ausführung des großen Gemeinschaftsraums außerhalb der energieeffizienten Gebäudehülle erscheinen in Hinblick auf Suffizienz ambivalent. Formen des gemeinschaftlichen Eigentums wie Genossenschaften oder das Modell des Mietshäuser-Syndikats wären vermutlich noch besser geeignet, um auch in Zukunft einen Konsens in der Hausgemeinschaft über umweltentlastende Veränderungen in Nutzung und Architektur zu finden. Das Genossenschaftsmodell wurde anfangs auch favorisiert, scheiterte jedoch an der zu geringen Größe des Projekts und der fehlenden öffentlichen Förderung. Und die weniger aufwendige Ausführung der Glasfassaden des Gemeinschaftsraums half zwar Baukosten zu sparen, erfordert jedoch ein dauerhaft diszipliniertes Heizverhalten, um nicht überdurchschnittlich viel Heizenergie zu verbrauchen. Bei allen Optimierungsmöglichkeiten ist das Baugruppenprojekt R50 dennoch ein sehr gutes Beispiel für einen nachhaltigeren Lebensstil und mehr Suffizienz in der Architektur.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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