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TEC21 2015|48
Wettbewerb zweite Hinterrheinbrücke
TEC21 2015|48
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Brückenduett

Die zweite Hinterrheinbrücke ist eine Stahltrogkonstruktion mit V-Stielen, die die historische Fachwerkbrücke gut sichtbar belässt. Auszüge aus dem Jurybericht zeigen, dass sie dem Bestand mit Respekt begegnet.

27. November 2015 - Clementine Hegner-van Rooden
Der rätoromanische Name «Sora Giuvna» steht für das Siegerprojekt der zweiten Hinterrheinbrücke Reichenau. Mit ihm werden künftig inklusive der A13-Überführungen nur zwei Hinterrheinbrücken stehen: die heutige und ihre «junge Schwester», die den Rhein einspurig und die A13 doppelspurig überquert. Diese starke Konzeption bestimmt das ganze Projekt.

Stahlkasten auf V-Stielen

Das Siegerteam schlägt für die neue Brücke eine Stahlkasten-Trogkonstruktion über Rhein und A13 vor, die von V-Stielen getragen wird. Zwei seitlich der Gleise angeordnete dickwandige, steifenlose Stahlkästen tragen eine halb versenkte orthotrope Fahrbahnplatte. Ihre Höhe ist konstant über die ganze Brückenlänge. Über den Hauptpfeilern sind sie mit ebenfalls stählernen V-Stielen unterstützt – diese ragen jeweils wie vier Finger aus den Betonpfeilern. Die Schlankheit der Hauptträger ist so gewählt, dass die im Lichtraumprofil eingeschränkte Überquerung der A13 gut möglich ist, die Träger die bestehende Brücke jedoch kaum überragen.

Die jeweils vier Stiele treffen sich auf einer Auflagerplatte auf den Köpfen der beiden Hauptpfeiler. Diese Pfeiler korrespondieren in Form, Lage und Ausrichtung mit den Natursteinpfeilern der historischen Brücke. Das Siegerteam setzt die neuen Hauptpfeiler östlich und westlich des Hinterrheins flussaufwärts in die Flucht der bestehenden Pfeiler, wie in den Rahmenbedingungen gefordert. Der Übergang von den Stahl-V-Stielen zum Betonpfeiler wiederum nimmt die untere Kante des Stahlfachwerks der historischen Brücke auf.

Die neue Brücke besitzt zwischen Rhein und A13 kein Widerlager, sondern einen weiteren Pfeiler. Wegen der engen Platzverhältnisse ist er als V-Stiel parallel zur A13 gedreht. Eine – gemäss Jurybericht – reizvolle Idee, die das Platzproblem elegant löst, dem Grundkonzept der V-Stiel-Stützung treu bleibt und den Blick von der Autobahn auf das bestehende Widerlager frei lässt. Ausserdem wird die neue Hinterrheinbrücke über die A13 so erweitert, dass sie beide Gleisstränge umfasst. Sechs Felder der insgesamt siebenfeldrigen neuen Brückenkonstruktion dienen der Südspur der Rhätischen Bahn (RhB), und ein Feld ist für die Nordspur vorgesehen.

Aus einem Brückentrio oder gar -quartett wird so ein übersichtliches und reduziertes Duett. «Die bestehende Betonbrücke und die Stützmauer östlich des Widerlagers der alten Stahlfachwerkbrücke werden zurückgebaut. Damit definiert sich die historische Stahlbrücke als die zuerst gebaute, und die Vielfalt der Brückenlandschaft wird reduziert», bekräftigt das Siegerteam.

Bezug zwischen Alt und Neu

Mit der gewählten leicht geschwungenen Linienführung C erhält die neue Brücke den grösstmöglichen Abstand zur bestehenden, was ihre Eigenständigkeit betont. Dennoch nimmt sie Bezug auf die historische Konstruktion (vgl. «Das Siegerteam und sein Vorschlag», Kasten unten). Zudem lässt «Sora Giuvna» mit ihrer transparenten Konstruktion – dem schlanken parallelgurtigen Balken und den relativ schmalen V-Stielen – ­einen weitgehend freien Blick auf die bestehende Brücke zu. Schliesslich verweist die neue auch durch die Wahl des Materials Stahl auf die alte. Sämtliche Stahlteile sind in heller Farbe im Ton der bestehenden Fachwerkbrücke lackiert.

Da die beiden Brücken ein Ensemble bilden, trotzdem aber klar eigenständige Bauwerke sind, ist gemäss den Projektierenden keine farbliche Differenzierung nötig. Die Betonelemente sollen analog zum umgebenden Gesteinsmaterial eine hellgraue Farbe und eine glatte Oberfläche erhalten.

Landschaftliche Eingriffe

Heute dominieren massive, mehrere Meter hohe Stützmauern den östlichen Hang zum Plong Vaschnaus über dem Bahnhof Reichenau-Tamins. Darin eingeschnitten verlaufen auf unterschiedlichen Niveaus Strasse, Bahnlinie und Fussweg. Der Entwurf ersetzt die obere Stützmauer und sieht stattdessen eine bepflanzte Steil­böschung der Neigung 1 : 1 unter und über dem Polenweg vor. Der notwendige Hangabtrag von 31 000 m³ – etwa die Hälfte des jährlichen Abbaus im Steinbruch Plong Vaschnaus nebenan – soll für die Rekultivierung ebendieser Kiesgrube verwendet werden.

Auf der Südwestseite ist eine Verbreiterung des Damms unvermeidlich. Sie nimmt Richtung Rhein kontinuierlich zu. Der parallel zum Damm führende Fahrweg wird verlegt und die dort bestehende Wildhecke längs der Böschung ersetzt.

Die markante, geneigte Natursteinmauer auf der Ostseite der A13 wird heute durch den hohen, vertikalen Betoneinsatz abrupt unterbrochen. Das Siegerprojekt sieht deshalb vor, das Brückenende der Churer Seite auf einen knapp in die bestehende Natursteinmauer eingelassenen Auflagerkörper zu legen. Die Mauer läuft künftig ungestört unter der neuen Brücke durch.

Auf der Westseite der Nationalstrasse soll eine Betonmauer das Auflagerbauwerk zwischen bestehender Fachwerkbrücke und A13-Überführung begrenzen. Beide Mauern entlang der Strasse fügen sich an den durch die A13 vorgenommenen Hangdurchschnitt. Gleichzeitig bilden sie zusammen mit der V-förmigen Stütze parallel zur Strasse einen sich weitenden Trichter, der den Verkehr zielgerichtet durch das Strassenengnis führt.

Beruhigte Situation

«Sora Giuvna» schaffe Ordnung, schreibt die Jury in ihrem Bericht. Sie tut dies sowohl bezüglich konstruktiver als auch landschaftlicher Aspekte. Die Massnahmen beruhigen die Landschaft oberhalb der Bahngleise, und weil unterhalb der Bahnlinie so viel passiert, wirkt sich der Effekt positiv auf das gesamte Landschaftsbild aus. Jürg Conzett, Bauingenieur und Mitglied der Wettbewerbsjury, verdeutlicht: «Ganz allgemein sind bergseitige Stützmauern heiklere Elemente als talseitige Mauern, weil sie eine ‹Wunde› in der Hügel­land­schaft bedecken.»

Zwar habe der Schweizer Architekt Rino Tami (1908–1994) bei der Planung versucht, die Stützmauer als «Gebäude» erscheinen zu lassen, indem er die Oberkante parallel zum Verkehrsweg führte. Doch dies bedinge eine gewisse Länge der Mauer im Verhältnis zur Höhe. Die gegenwärtige, eher kurze und hohe Mauer zeige den Schnitt in die Landschaft etwas zu deutlich auf, gibt Conzett zu bedenken. «Hingegen wird die Landschaft ohne Mauer so erscheinen, als hätte man die Bahnlinie an eine bestehende Felswand herangebaut.»

Andreas Galmarini von WaltGalmarini, Mitglied des Siegerteams, betont wiederum: «Vom ingenieurspezifischen Standpunkt her haben wir versucht, die Tragkonstruktion schlicht zu halten, um der Dauerhaftigkeit und der Unterhaltsfreundlichkeit gerecht zu werden und um eine ausgewogene Balance zwischen Neu und Alt zu finden.»

Die Auslegungen im ausführlichen Jurybericht überzeugen (vgl. «Jurybericht», Kasten unten). Die Argumente des Preisgerichts sind gerade auch deshalb plausibel, weil sich die Jurymitglieder nicht durch Visualisierungen beeinflussen liessen. Sie stützten ihre Beurteilung auf Gipsmodelle, die aus allen Blickwinkeln begutachtet werden konnten.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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