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TEC21 2016|27-28
Nah am Wasser gebaut
TEC21 2016|27-28
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Entschärftes Risiko auf der Nord-Süd-Achse

Beim Hochwasser 2005 hatten im Kanton Uri einige Schutzbauten versagt. Nun ist der «Urner Talboden» mit einem beeindruckenden Rückfallsystem abgesichert. Selbst Extremereignisse sollen nur noch ­geringe Schäden verursachen.

1. Juli 2016 - Paul Knüsel
Die neue Alpentransversale am Gotthard wird den Bahnverkehr nicht nur beschleunigen, sondern auch sicherer machen. Da die Bergstrecke nun vom Basistunnel unterquert wird, ist die Gefahr weiterer Felsabbrüche und Erdrutsche gebannt.

Vor vier Jahren war das Bahntrassee oberhalb von Gurtnellen mehrmals und tagelang gesperrt. Allerdings durchqueren die Züge auf der Zufahrt zum Nordportal eine weitere unberechenbare Risikozone: Die «Rynächt» bei Schattdorf liegt im Mündungsbereich des Schächen; der bisweilen wilde Gebirgsfluss trifft hier auf die auch nicht immer gemächlich strömende Reuss.

In den letzten 100 Jahren erlebte der Urner Talboden vier dramatische Unwetterereignisse, zuletzt 2005. Jedesmal wurde der durch mehrere Verkehrsachsen durchquerte Raum überschwemmt; angrenzende Wohn- und Gewerbezonen sowie viel Kulturland standen meterhoch unter Schlamm und Wasser. Die Schäden beliefen sich auf über 350 Mio. Franken.

Damit sich dieses Szenario nicht wiederholt, wurden in den letzten zehn Jahren gegen 80 Mio. Franken investiert. Seit diesem Frühjahr ist das «Hochwasserschutzprojekt Urner Talboden» zu wesentlichen Teilen fertiggestellt. Auf Gebiet der Gemeinden Schattdorf, Altdorf und Attinghausen hat der Kanton Uri eines der vorausschauendsten Hochwasserschutzkonzepte der Schweiz umgesetzt. Siedlungsgebiete sind vor einem 100-jährlichen Ereignis zu schützen, wichtige Infrastrukturanlagen zusätzlich vor einem 300-jährlichen Hochwasser.

Doch nicht nur der gesetzliche Standard wird garantiert; der Schutzgrad beinhaltet zudem den sogenannten «Überlastfall»: Ein Mix aus klassischen und innovativen Wasserbauelementen muss dafür sorgen, dass auch extreme Wassermengen kontrolliert ab- und umgeleitet bzw. zurückgehalten werden können respektive ein Extremszenario weder Leib und Leben noch wichtige Sachwerte bedroht. Eine nationale Studie warnt derweil, dass nur jedes zweite der aktuell realisierten Hochwasserschutzprojekte vergleichbar konzipiert ist.[1]
Schutzdefizit erst nach 2005 behoben

Weite Teile des Urner Talbodens standen jeweils im Sommer 1910, 1977, 1987 und 2005 unter Wasser. Das Schutzdefizit ist bekannt; das Gebiet rund um die Schächenmündung war auf der Naturgefahrenkarte rot markiert. Doch erst nach dem Augusthochwasser vor elf Jahren wurde das Vollzugstempo erhöht. Vom Hochwasser betroffene Unternehmen, darunter der Staatsbetrieb Ruag (vgl. Kasten unten: «Kostenpflicht für Dritte»), hatten mit Wegzug gedroht. 2008 hiess das Stimmvolk den Kredit für das «Hochwasserschutzprogramm Uri» gut.

Die effiziente Umsetzung wurde dadurch begünstigt, dass die Projektverantwortung allein bei der kantonalen Behörde lag und sich die Standortgemeinden nicht einmal an den Kosten zu beteiligen hatten. Trotzdem profitieren auch sie vom Resultat: Um den europäischen Transitverkehr auf Schiene und Strasse ebenso wie die benachbarten Gewerbeliegenschaften und Wohnquartiere oder Kantons- und Quartierstrassen vor Hochwasser zu schützen, wurden das Abflussgerinne und die Mündungsgeometrie am Schächen optimiert.

Wenige hunter Meter oberhalb der Einmündung in die Reuss wartet ein neuer Geschiebesammler mit einer Fläche von etwa 4 ha darauf, bei Bedarf rund
100?000 m³ Kies und anderes Treibgut abzufangen. Zwischen 1 m und 4.5 m hohe, teilweise mehrere hundert Meter lange Schutzmauern und -dämme sichern derweil die Ufer des Schächen und der Reuss sowie Überflutungsbereiche im Hinterland ab. Eine stromlinienförmige Brücke schützt den Bahnkorridor (vgl. Kasten unten: «Druckbrücke»).

Und ein revitalisierter Reusszulauf ist zu einem Rückhaltebecken erweitert worden. Die wichtigsten Schutzbauten wurden am physikalischen Modell an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich überprüft. Simuliert wurden die Abflüsse bei 100-, 200- und 300-jährlichen Hochwasserereignissen, ergänzt mit einer Abschätzung, wohin das Schächenwasser bei Totalüberlastung ausweichen kann.
Kettenreaktion ausgelöst

Bei allem Modellieren und Simulieren: Jedes Hochwasser liefert genauere Daten. Im Nachgang zum Unwettersommer 2005 nahm der Bund eine umfassende Ereignisanalyse vor.[2] Am Schächen zeigte sich, dass nicht mehr Wasser abfloss, als ein 100-jährliches Ereignis erwarten liess. Doch dem lang andauernden Regen waren die natürlichen Puffer im alpinen Einzugsgebiet nicht gewachsen, daher wurde eine derart grosse Fläche im Raum Schattdorf überflutet.

Die morphologischen, hydraulischen und hydrologischen Zusatzstudien deckten zudem eine verhängnisvolle Kettenreaktion auf, bei der einiges nicht vorhersehbar war und anderes nicht wie gedacht funktionierte. Gänzlich unerwartet konnte sich ein Geschiebesammler im Schächen-Oberlauf entleeren, sodass das Geschiebe aus dem Gebirgsbach die Einmündung in die Reuss verstopfte.

Brücken und Bachübergänge wurden ihrerseits zu Engpässen. Ein weiterer Schwachpunkt war der zu schmale Durchlass unter der Autobahn, durch den viel mehr Wasser in die Reuss hätte abfliessen sollen.

Das Fazit: Ohne zusätzliches Entlastungs- und Puffervolumen würden Geschiebe und Wasser im nächsten Fall abermals aufstauen und eigene Abflusswege suchen.

Die neu erstellten Elemente bilden nun das aufeinander abgestimmte, redundante Hydrauliksystem, das eine kontrollierbare, möglichst schadlose Ausbreitung der Wassermassen auch bei Überforderung der Bach- und Flussläufe erlauben soll. Denn das ist der springende Punkt am neuen Risiko- und Schutzkonzept (vgl. TEC21 12?–?13/2016): Bauen gegen das Hochwasser ist keine statische Angelegenheit mit maximaler Sicherheitsgarantie, sondern eine dynamische Aufgabe mit durchaus steuerbarem Ausgang.

Daher sichert nun folgende Kaskade den Urner Talboden ab: Der Geschiebesammler im Oberlauf des aufbrausenden Schächen, der aus den 1970er-Jahren stammt, hat ein hydraulisches Schutzwehr erhalten, damit mehr Material zurückgehalten wird.

Die übrige Kies- und Schwemmholzfracht landet wie bisher in der Reusseinmündung, von wo aus ein Aufstau bis zum rückwärtigen Grosssammler stattfinden kann. Dort rutscht das Material seitlich ab und füllt die Kuhle, die ihrerseits mit einem Damm nach aussen abgegrenzt ist.

Trotzdem überlaufendes Wasser landet im benachbarten Hochwasserkorridor (vgl. «Reserven für ein kontrolliertes Fluten»); die natürliche Hangneigung, künstliche Geländeerhebungen und ein sekundärer Schutzdamm sorgen in dieser unbebauten Kulturland- und Waldfläche dafür, dass Überlaufwasser kontrolliert über die Kantonsstrasse in die Stille Reuss abfliessen kann.

Dieses Gewässer ist ein künstlicher Vorfluter, der seit 100 Jahren die Abflüsse der östlichen Berghänge sammelt und unter dem Schächen und der Autobahn hindurch in die Reuss leitet. Im Hochwasser 2005 schwoll die Schächen-Überführung allerdings derart an, dass auch die Stille Reuss überlief und das Wasser ungehindert den Schattdorfer See füllte.
Revitalisierter Rückhalteraum

Die Stille Reuss hat nun ein grösseres Rückhaltevolumen; dazu wurde der Lauf verlängert und auf Kosten von Bestockungen revitalisiert. Im Alltag ist das Bachbett ein hochwertiges aquatisches Ökosystem, bei Hochwasser wird es zum redundanten Auffangsystem. Ein Entlastungskanal und ein beweglicher Notverschluss halten das Wasser zusätzlich im Zaum. Und falls dieses Volumen nicht mehr genügt, ist – wie im Überlastfall simuliert – die Überflutung des angrenzenden Kulturlands erlaubt.

Erhöhte Dämme und Mauern schützen die unmittelbar daneben liegende NEAT-Zufahrt und Autobahn vor dem Extremfall. Im unteren Urner Reusstal wird die A2 dagegen selbst zum Entlastungsraum: Der Kanton Uri und das Bundesamt für Strassen haben vertraglich vereinbart, dass die Autobahn ab einem 50-jährlichen Unwetterereignis vorsorglich gesperrt und kontrolliert überflutet werden darf. Das Schadensrisiko ist für die vierspurige Strasse jedenfalls bedeutend geringer, als wenn weitere Siedlungsräume unter Wasser gesetzt werden müssten.


Anmerkungen:
[01] Was macht Hochwasserschutzprojekte erfolgreich? Eine Evaluation der Risikoentwicklung, des Nutzens und der Rolle privater Geldgeber; Mobiliar Lab für Naturrisiken und Oeschger-Zentrum (OCCR) der Universität Bern 2015
[02] Ereignisanalyse Hochwasser 2005, Teil 1 – Prozesse, Schäden und erste Einordnung; Bafu, WSL 2007

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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