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TEC21 2016|36
Lärmschutz: Planerische Gratwanderung
TEC21 2016|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Der Ausnahme droht die Regel

Bauen an lärmbelasteten Wohnlagen ist ein baurechtlicher Spagat und oft nur unter Auflagen möglich. Die Vollzugspraxis muss national vereinheitlicht werden, 30 Jahre nach Inkrafttreten der Gesetzesvorschriften.

2. September 2016 - Paul Knüsel
Cluster-Wohnungen lassen einem die Wahl: Entweder man möchte sich mit anderen zum Kochen, Essen und Verweilen treffen, oder man zieht die Ruhe in den eigenen vier Rückzugswänden vor.

In der Zürcher Genossenschaftssiedlung Kalkbreite (vgl. TEC21 26–27/2014) widerspricht diese Logik jedoch den baurechtlichen Anforderungen, die Bewohner wirksam vor Lärm zu schützen. Grund dafür ist aber nicht der Störfaktor «Mitbewohner», sondern der Schallpegel vorbeifahrender Autos, Trams und des Schienenverkehrs. Die gemischte Wohn- und Gewerbeüberbauung steht an innerstädtischer Lage und wird von allen möglichen Seiten mit Verkehrslärm über dem erlaubten Mass eingedeckt.

Ein Gutachten warnte, dass die Immissionsgrenzwerte (IGW) um mindestens 3 dB überschritten sind. Das heisst, der Verkehr wäre faktisch zu halbieren, damit die Lärmschutzvorschriften eingehalten sind (vgl. Grafik «Schallpegel»). Die Baubewilligung darf aber nur erteilt werden, wenn ruhiges, gesundheitsschonendes Wohnen möglich ist. Damit dies für die Kalkbreite zutrifft, schirmen unter anderem Loggien den Aussenlärm ab respektive sind die Räume der Grosswohnungen bau- und umweltrechtlich definiert: Das private Reduit befindet sich aussen an der Fassade, an lärmexponierter Lage. Die Gemeinschaftsräume haben dagegen Zugang zum ruhigen Innenhof und werden unabhängig vom Belegungsgrad bau- und umweltrechtlich zum Ruhebereich gezählt.

Kompromisse zuhauf

Bereits bei der Festsetzung des Gestaltungsplans wurden die Weichen für eine Ausnahmebewilligung gestellt. In der Abwägung zwischen Bauinteresse und Lärmschutz gaben die raumplanerisch relevanten Kriterien «Verdichtung» und «Siedlungsqualität» gegenüber der «sehr stark belasteten Lage» den Ausschlag.[1]

Die Kalkbreite-Siedlung wird inzwischen nicht nur als soziales Modell gelobt, sondern auch für die Massnahmen beim Schallschutz. Zugleich verdeutlicht das Beispiel aber: Der Vollzug der Lärmschutzvorschriften ist für Baubehörden, Raumplaner und Architekten zu einer schwer berechenbaren Gratwanderung geworden. Die Lärmbekämpfung ist, wie andere Umwelt- und Gesundheitsthemen, erst in den 1980er-Jahren gesetzlich geregelt worden. Seither stehen die Verursacher eigentlich in der Pflicht, die Emissionen zu reduzieren. Bund und Kantone sind dabei, ihre Strassen entweder mit Flüsterbelag oder Lärmschutzwänden zu versehen.

Wo dies unmöglich ist, sind ganze Strassenzeilen auf Staatskosten mit Schallschutzfenstern auszurüsten. Im Vergleich dazu wären Temporeduktionen günstiger; die wirkungsvolle Bekämpfung von Verkehrslärm ist politisch jedoch ein ohnmächtiges Unterfangen. Die Lärmverursacher sind bekannt. Der Gesetzesvollzug aber stockt: Es fehlt am politischen Durchsetzungsvermögen, und mangelhaft ist auch der föderalistische Beurteilungsapparat.[2] Die Kantone gehen vor allem bei der Bewilligung von Neubauten an lärmbelasteten Standorten eigene, untereinander kaum abgesprochene Wege. Nun räumt das Bundesgericht mit dieser Vielfalt auf.

Hälfte der Kantone lag falsch

In diesem Frühjahr erging der präjudizierende Entscheid, wonach die bislang populärste Auslegungsvariante falsch gewesen ist: Die «Lüftungsfensterpraxis» tauge weder zur Beurteilung der Lärmbelastung, noch werde die Gesundheit der betroffenen Bewohner ausreichend geschützt (vgl. TEC21 31–32/2016: «Wohnen bei zu viel Lärm?»).

Die Bewilligungspraxis bestand darin, den Lärmpegel jeweils dort zu bestimmen, wo er am niedrigsten ist. In der Hälfte der Kantone halten die Neubauten den Immissionsgrenzwert daher nur bei rückseitigen Fenstern ein und nicht an der exponierten Gebäudefront. Vor wenigen Wochen bestätigte das Bundesgericht das Präjudiz (vgl. Kasten unten: «Lärm-Urteil: ‹Nein, aber …›»), ohne Verbesserungsvorschläge zu formulieren. Dennoch machen beide Entscheide klar: Die Vollzugsregeln sind zu vereinheitlichen.

«Neu definiert werden müssen ebenfalls die planerischen Gestaltungsmöglichkeiten», ergänzt Denis Kopitsis, Inhaber eines Bauphysikbüros und als Gutachter am Gerichtsverfahren beteiligt. Das Grunddilemma ist: Wird der IGW überschritten, ist Bauen eigentlich untersagt. Das Einhalten der Lärmschutzvorgaben dürfte vor allem an belasteten Orten noch schwieriger werden. Doch wie die bisherige Bewilligungspraxis zeigt, gibt es unterschiedliche Interpretationen und eine Tendenz zur flexiblen Auslegung. Auch die sogenannte «Lüftungsfensterpraxis» wurde aus der pragmatischen Überlegung eingeführt, dass eine bauliche Verdichtung vereinfacht wird.

An zentralen Lagen konnte dadurch lärmschutzkonform gebaut werden, ohne die Qualität bei Wohnkomfort und Ortsgestaltung zu mindern. Architektonisch liess sich insofern darauf reagieren, als ein Lüftungsfenster an der Rückseite, zum beruhigten Innenhof oder Atrium, genügte. Dagegen war die Strassenfassade nur punk-tuell schalldämmend gestalterisch oder baulich zu verbessern.

Das Merkblatt «Neue Wohnnutzungen im lärmigen Siedlungsraum», erarbeitet von der Baudirektion des Kantons Zürich, galt vielen Planern als inoffizielles, hilfreiches Umsetzungshandbuch. Vor allem, weil darin auch städtebauliche und architektonische Kriterien hohe Beachtung finden. In Kantonen ohne «Lüftungsfensterpraxis» hat der Lärmschutzvollzug dagegen oft fragwürdige Spuren hinterlassen: Fassaden mit üppig verglasten Loggien, blinde Strassenfronten oder festverschraubte Fenster sind zwar wirksame, aber das Gebäude oft verunstaltende Schallschutzmassnahmen.

Hintertürchen als Ausweg?

Am Gebäude selbst kann die städtebauliche Setzung oder die Gestaltung von Fassade, Tiefe und Grundriss mithelfen, Aussenlärm wirksam abzuschirmen. Ein technisches Hilfsmittel ist der Schalldämmlüfter. Aber aus dem Fenster ein multifunktionales Bauteil zu entwickeln, das sowohl Akustiker als auch Architekten zufriedenstellen kann, wurde bislang wenig versucht.

Ganz anders in Hamburg: Dort ist aus dem Bemühen, Neubauten vor Strassen- und Schiffslärm abzuschirmen, ein eigenes Modell entwickelt worden. Das «HafenCity-Fenster» ist kastenförmig und besitzt eine ausgeklü-gelte Kippfunktion. Frische Luft strömt ein, ohne die Dämmwirkung zu sehr einzuschränken. Inzwischen ist dieser Lösungsansatz auch in anderen deutschen Städten anzutreffen. Das Schutzniveau ist mit demjenigen in der Schweiz grundsätzlich vergleichbar. Im nördlichen Nachbarland ist aber ein zusätzlicher Innenpegelwert einzuhalten.

Die Grenzwerte selbst werden nicht hinterfragt. Hierzulande stehen die uneinheitlichen Beurteilungsmodelle und Verfahren in der Kritik. Bei fast jeder Bauaufgabe sind die materiellen und formalen Prinzipien, mit denen Architekten und Bauherrschaften konfrontiert sind (vgl. «‹Einander entgegenlaufende Ansprüche›»), wieder anders. Von Kanton zu Kanton wird nicht nur den Ort der Lärmbelastung anders ermittelt oder werden unterschiedliche Massnahmen angeordnet.

Uneins ist man sich auch, wie freizügig eine Ausnahme bewilligt werden soll: Manchmal reicht ein kommerzielles Interesse, lärmbelastete Standorte überbauen zu dürfen. Andernorts wird ein raumplanerisch nachvollziehbarer Verdichtungsgrund verlangt. Trotzdem ist absehbar, dass der Verhandlungsbedarf ansteigen wird. Die Bundesrichter selbst weisen daraufhin, dass vermehrt Ausnahmefälle, etwa bei Verdichtungsvorhaben, in Erwägung zu ziehen sind. Das würde heissen: Ohne baulich umdenken zu müssen, würden dieselben Bauten wie bisher via Sonderparagraf durchgewunken. Als Ausweg aus dem Lüftungsfensterverbot steht damit ein juristisches Hintertürchen zur Disposition.

Den Fuss in diese Lücke hineingezwängt hat die Lärmschutzfachstelle des Kantons Zürich schon. Als erste und bisher einzige Vertreterin aus dem Lüftungsfenster-Zirkel skizziert sie eine Alternative, die jedoch auf aufgeweichte Lärmschutzregeln angewiesen ist. Bei neuen Wohnbauten, die im Siedlungsgebiet, aber zugleich an Strassen und Bahnlinien geplant sind, soll das Schutzinteresse geringer gewichtet werden als bei Projekten am Siedlungsrand. Denkbar sei eine Ausnahmebewilligung für Verdichtungsvorhaben selbst dann, wenn alle Fenster eines Raums übermässig beschallt würden, erklärt die Zürcher Fachstelle ihren neuen Vorschlag. Dieser bezeichnet die Lärmbelastung im Wohnungsgrundriss per Farbcode «Grün-Gelb-Rot»: In grünen Räumen sind die Grenzwerte eingehalten; Gelb warnt, falls nur noch das Lüftungsfenster ruhig ist. Alle übrigen Räume schalten bei zu viel Lärm auf Rot.[3]

«Differenziertes» Schutzkonzept gesucht

Auch in Fachkreisen und auf übergeordneter Ebene wird derzeit über eine «differenzierte Prüfung der gesetzlichen Lärmvorschriften in Verdichtungsgebieten» nachgedacht. Diesbezüglich hat die Eidgenössische Kommission für Lärmbekämpfung (EKLB), die sich sonst öffentlich zurückhält, gemeinsam mit dem Rat für Raumordnung (ROR) einen Bericht publiziert[4]. Darin wird erwogen, dass der Lärmschutz «unter bestimmten Umständen relativiert werden darf». Das Nichteinhalten von Grenzwerten am offenen Fenster soll kein kategorisches Bauverbot bedeuten. «Demgegenüber muss dem raumplanerischen Anliegen an hochwertiger Siedlungsentwicklung nach innen verstärkt Rechnung getragen werden», bestätigt Lukas Bühlmann, Direktor der Vereinigung für Landesplanung (VLP), den neu gefundenen Konsens.

Die Knacknuss für den weiteren Vollzug besteht nun darin, eine juristisch korrekte, vor Gericht haltbare Auslegung zu finden. Denn eines soll verhindert werden: «Die Ausnahme darf nicht zur Regel werden, wenn etwa flächendeckende Ausnahmebewilligungen erteilt würden», ergänzt Georg Thomann, ELKB-Präsident und Fachstellenleiter im Kanton Graubünden. Dass sonst die nächste juristische Pleite droht, hat die Zürcher Behörde selbst schon erfahren: Anhand eines Baulückenplans sollten die Gemeinden bei erhöhter (Flug-)Lärmbelastung selber festsetzen, wo ein überwiegendes Interesse an weiteren Überbauungen besteht. Doch das Bundesgericht intervenierte: Die Abwägung dürfe nur der Kanton treffen und Ausnahmebewilligungen nicht an die Gemeinden delegieren.

Mehr Lärm in dichten Räumen

Während also einiges zu bereinigen ist, um planerisch einfach anwendbare und baurechtlich einwandfreie Lärmschutzlösungen zu erarbeiten, wird es dort, wo inskünftig noch gebaut werden kann, kaum ruhiger werden. Ganz im Gegenteil: So führt das Siedlungswachstum fast von allein dazu, dass deutlich mehr Personen von Lärm betroffen sind. Gemäss öffentlichen Wirkungskontrollen leidet inzwischen rund ein Fünftel der Schweizer Gesamtbevölkerung an ihrem Wohnort an Lärmimmissionen, die über den Grenzwerten oder auf erheblich störendem Niveau liegen.

Würde die Messlatte gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO tiefer gelegt, wäre der Anteil der Lärmbetroffenen sogar doppelt so hoch. Konsens herrscht jedoch darüber, dass die menschliche Gesundheit durch die Lärmexposition wesentlich beeinträchtigt werden kann (vgl. Kasten unten: «Wie krank macht Lärm?»).

Akustisch wird die Entwicklung nach innen diese Probleme weiter verschärfen. Werden Baulücken ausgefüllt, nimmt die Reflexionswirkung entlang der geschlossenen Strassenschluchten nämlich zu. Wie die Schallausbreitung und -verstärkung im Stadtraum reduziert werden kann, wird daher erforscht. Die physikalischen Einflussgrössen wie Strukturierung und Materialisierung von Gebäudefassaden sind bekannt. Parallel dazu sind qualitative Ansätze zu entwickeln, wie der Klang einer Stadt nicht als Belastung, sondern als hörenswert wahrgenommen werden kann (vgl. «Wege zu einer hörenswerten Stadt»).


Anmerkungen:
[01] Evaluation zum Vollzug der Artikel 22 und 24 Umweltschutzgesetz (USG) respektive Art. 29, 30 und 31 Lärmschutz-Verordnung (LSV); Bafu 2011.
[02] Vollzug Lärmschutz, Bafu, Interface 2015.
[03] Lärm, Zürcher Umweltpraxis Nr. 85, 2016.
[04] Lärmbekämpfung und Raumplanung, Grundlagen, Positionen, Stossrichtungen; ROR, EKLB 2015.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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