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TEC21 2018|34
Wie viel Kontrolle braucht die Luft?
TEC21 2018|34
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Alternativen zum Standard gesucht

Gute Luft wollen alle. Doch uneinig ist man sich, wie und mit welchem Aufwand der systematische Austausch organisiert werden soll. Die Stadt Bern stellt nun zwei Lüftungsvarianten auf die Praxisprobe.

24. August 2018 - Paul Knüsel
Die Luft darf es sich einfach machen: Sie flüchtet dorthin, wo es am wärmsten ist. Die Anziehungskraft der Wärme besteht aber nicht aus ihrer Behaglichkeit, sondern liegt darin, dass sie die physikalische Dichte geringer macht. Auch der Ausbreitungspfad ist vordefiniert; die Luft wählt immer den Weg des geringsten Widerstands. Will man der Strömung jedoch eine bestimmte Richtung geben oder sie anderweitig konditionieren, wird es schnell kompliziert.

Die Kontrolle des Luftwechsels ist allerdings ein Qualitätsmerkmal für hohe Energieeffizienz im Wohnungsbau. Ein regelmässiger Austausch, eine optimale Zirkulation in der Wohnung und ein Recycling der Wärme in der ausströmenden Abluft sind zentrale Anforderungselemente für das umsetzbare Lüftungskonzept. Weder die Thermodynamik noch der Nutzer sollen dem Ziel, so viel Wärme wie möglich in einem Baukörper zu halten, in die Quere kommen.

Überflüssig oder bauphysikalisches Muss?

Kontrollierte Wohnungslüftungsanlagen sind längst Marktstandard, dennoch werden sie in Bauherren- und Architekturkreisen und sogar unter Fachplanern ­häufig als notwendiges Übel wahrgenommen. Den einen ist der technische Installationsaufwand zu gross, andere kritisieren das bevormundende Funktionsprinzip. Doch so hartnäckig sich die Skepsis hält, so erfinderisch gehen Lüftungsspezialisten mittlerweile ans Werk. Immer häufiger werden vereinfachte Varianten eingebaut, weil man die Dynamik der Luft endlich besser versteht.

Eine zentrale Erkenntnis ist dabei nicht mehr ganz jung, und gleichwohl beherzigen sie erst wenige: Die Luft strömt meistens von allein durch die Wohnung. Selbst grosse und verwinkelte Räume lassen sich fast ohne aktives Zutun ausreichend durchlüften. Die Wirksamkeit einer selbstständigen «Kaskadenlüftung» wurde wiederholt wissenschaftlich erforscht.[1] Die Quintessenz dabei ist: Der technische Belüftungsaufwand lässt sich reduzieren. Antriebe oder Rohre an der Decke für die interne Verteilung braucht es ebenso wenig wie jeweils eine Frischluftzufuhr für jeden einzelnen Raum. Ein Lüftungseinlass pro Wohnung genügt, damit die Raumluft nicht übermässig mit CO2 belastet wird.

Dasselbe thermisch angeregte Kaskaden­prin­zip wird auch im Bürobau, mit der sogenannten «Raumlunge», genutzt: Ein mehrgeschossiges Atrium erlaubt der Luft eine weitgehend natürliche interne Zirkula­tion. Der Aufwand zur mechanischen Kontrolle wird dadurch deutlich reduziert.

Verzicht auf Mechanik möglich

Zurück zum Wohnungsbau: Das Spektrum der Lüftungsvarianten reicht vom automatisch gesteuerten All-in-one-Zirkulationssystem bis zum Handgriff am Fensterflügel. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich unterschiedliche, mechanische Lüftungsanlagen individuell aus Einzelkomponenten für die Zu- und Abflüsse und die interne Luftverteilung zusammenstellen. Derzeit sehr beliebt scheinen er­wei­terte Abluftanlagen, weil auf Mechanik und viel Platz verzichtet werden kann.

In der neuen Siedlung Stöckacker Süd am Ostrand von Bern werden nun unterschiedliche Lüftungskonzepte auf die Vergleichsprobe im Wohnalltag gestellt. Die Immobilienabteilung der Stadt Bern konnte letzten Herbst die Mieter von 146 Wohnungen in der «2000-Watt-Siedlung» begrüssen (vgl. «Aufwertung mit 2000 Watt», Kasten unten). Zwei Gebäudezeilen sind mit einer kontrollierten Wohnungslüftungsanlage ausgestattet; der dritte Komplex verfügt über eine abgespeckte Anlage mit «Zuluftautomat». Die Erfahrungen aus dem Wohnalltag und dem Energiemonitoring will man für weitere öffentliche Neu- und Umbauprojekte nutzen.

Kaskadenartige Luftverteilung für alle

Die klassische, kontrollierte Lüftungsvariante ist in die Häuser «B» und «C» eingebaut; diese liegen am nächsten zur Eisenbahnlinie und sind daher besonders lärm­exponiert. Die Baukörper sind schmale Zweispänner und fast ausschliesslich als Durchschusswohnungen organisiert. Der viergeschossige Gebäudekomplex «C» am Ostrand gleicht einer Reihenhauszeile; die 5-½- bis 6-½-Zimmer-Wohnungen belegen jeweils zwei Geschosse.

Für die mechanische Belüftung ist das einerlei: Sämtliche Wohneinheiten werden zentral mit Frischluft versorgt. Die Steigschächte führen an den gefangenen Nasszellen vorbei; von dort wird die frische Luft unter der abgehängten Decke in die Wohnung geleitet. Die Zirkulation erfolgt danach frei und erreicht kaskadenartig die übrigen Räume; zusätzlich werden periphere Schlafzimmer mit einem in der Betondecke eingelegten Kanal belüftet. Die belastete Luft strömt über die Badezimmer via Steigschacht nach aussen ab. Mit einem Wärmetauscher zwischen Ab- und Zuluft können etwa 80 % der Energie zurückgewonnen werden, mit dem zusätzlichen Komforteffekt, dass die Frischluft vorgewärmt in die Wohnung einströmt. Der kontrol­lierte Luftaustausch variiert zwischen 24 und 30 m³/h. Letzterer bildet die maximale Strömungsrate, wie sie im Wohnungsbau sonst üblich ist.

Ein «Zuluftautomat» reicht aus

Das Lüftungssystem im südlichen, lang gezogenen Siedlungskomplex «A» besitzt demgegenüber nur eine aktive Komponente, auf die man sowieso nicht verzichten kann. Die Wohnungsabluft wird über die übliche Ventilations­anlage in der Nasszelle abgeführt. Zeitgleich strömt die Zuluft jeweils über eigene Fassadendurchlässe in ein Schlaf- und/oder Nebenzimmer ein. Dieser «Zuluftauto­mat» ist mit Ventil, Schalldämpfer und Filter ausgestattet, sodass die Nachströmung bei Bedarf ­kon­trolliert erfolgt. Die Luft tauscht sich ebenfalls kaskadenartig in der gesamten Wohnung aus.

Ein wesentlicher Unterschied zum konventionellen System ist: Die Luft zirkuliert stossweise, sobald die Nasszellenabluft in Betrieb genommen wird. Ein Schlitz unten an der Badezimmertür synchronisiert den Luftaustausch, wobei die Abflussrate mit 60 m³/h wesentlich höher ist als beim kontrollierten System. Eine Zeitschaltuhr sorgt für den regelmässigen Lüftungsrhythmus. Alternativ lässt sich der Abluftbetrieb über einen CO2-Sensor steuern. Entsprechende Vorgaben sind unter anderem bei Gebäudezertifizierungen zu erfüllen.

Abluftsysteme vereinfachen zwar den Installationsaufwand, sind aber im Wohnalltag durchaus störungsanfällig. Das Hauptproblem: Sie erzeugen in den Wohnräumen einen chronischen Unterdruck. Der Luftwechsel kann daher unkontrollierbare Ab- oder Zuluftströme auslösen. Ein offenes Fenster oder der Dampf­abzug in der Küche genügt, um eine unerwünschte Kon­kurrenzsituation zu verursachen. Auch im Stöck­acker macht der Luftwechsel ab und zu nicht, was von ihm erwartet wird. Weil die Ventilatoren in der Dampfhaube einen stärkeren Sog als die Nasszellenabluft erzeugen, strömt Wohnungsluft in die Küche anstatt ins Bad. Weder für die Fachplaner noch für die städtische Liegenschaftsverwaltung war dies eine Überraschung: Beim Bezug der Wohnungen wurde der Mieterschaft deshalb empfohlen, jeweils beim Kochen ein Küchenfenster zu kippen, damit die Aussenluft direkt nachströmen kann.

Neuland für Planer und Bauherrschaften

Ungeachtet des Optimierungsbedarfs im Betrieb scheint das Nachströmsystem Freunde zu finden. Im Stöckacker geht die Bestellung auf die Bauherrschaft zurück. Das beteiligte Planungsbüro hat nun selbst ein ähnliches Konzept für eine 2000-Watt-taugliche Neubausiedlung mitten in Bern vorgeschlagen. Nicht zuletzt überzeugt der reduzierte Installations- und Investitionsaufwand: «Rund ein Drittel kann gegenüber einer kontrollierten Anlage eingespart werden», sagt Marc Wüthrich, Geschäftsleiter von Gruner Roschi.

Gemäss Architekt Michael Meier darf der konstruktive und planerische Aufwand trotzdem nicht unterschätzt werden. Zum einen «beanspruchen Steigschächte immer viel Fläche, unabhängig davon, ob die Zuluft zentral erschlossen ist». Zum anderen betrat die Planergemeinschaft auch Neuland; die Planung der «2000-Watt-Siedlung Stöckacker Süd» beinhaltete eine Ökobilanzierung der technischen Installationen und der konstruktiven Bauteile. Die horizontale Luftverteilung wurde mithilfe eines Variantenstudiums bestimmt. Zur Auswahl standen unterschiedliche Deckenkon­struktionen aus Beton oder Holz. Am besten bezüglich der grauen Energie schnitt überraschenderweise der massive Vorschlag ab: eine Ortbetondecke mit reduzierter Mächtigkeit und minimiertem Bewehrungsanteil. Anstelle der sonst üblichen 24 cm genügen 18 re­spektive 20 cm dünne Schichten. Obwohl man auch hier eine technische Vereinfachung realisiert hat, haben es sich die Bauherrschaft und das Planungsteam in der Konzeptphase alles andere als einfach gemacht.


Anmerkung:
[01] Luftbewegungen in frei durchströmten Wohnräumen; AWEL Kanton Zürich 2014.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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