Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 2018|09
Kunst und Architektur
db deutsche bauzeitung 2018|09

Fordernde Räume

»Torre«, Fondazione Prada in Mailand (I)

Mit der Eröffnung des 60 m hohen Turms ist die viel beachtete Umgestaltung der ehemaligen Mailänder Brennerei zum Präsentationsort zeitgenössischer Kunst nun abgeschlossen. Das fremdartige Weißbetongebilde erweitert das vielschichtige, zumeist klösterlich introvertierte Raumangebot des Areals um kraftvolle Säle, die mit imposanten Ausblicken die ausgestellten Kunstwerke in Bezug zur Außenwelt setzen.

4. September 2018 - Achim Geissinger
Das Raumangebot der Fondazione Prada ist ähnlich vielfältig wie ihre Sammlung zeitgenössischer Kunst, die von Filmdokumenten über Gemälde bis hin zu großformatigen Plastiken reicht. Bei der Umwandlung der 1910 erbauten, später erweiterten und 1970 wieder geschlossenen Gin-Brennerei in ein Kunstmuseum bewahrte das Office for Metropolitan Architecture (OMA) den jeweiligen Charakter der unterschiedlichen Gebäude und stärkte diesen noch durch den Kontrast mit wenigen, mitunter stark raumgreifenden, in ­metallischer Ästhetik nur entfernt verwandt wirkenden Zubauten. Letztere bedienen aktuelle, betont offene und schwellenarme, wenn auch unterkühlte Präsentationsformen wie z. B. beim Louvre Lens (s. db 3/2013, S. 64). Dagegen vermitteln die charaktervollen vormaligen Lager- und Fabrikhallen eher den Eindruck einer Kunstmesse und feiern mit ihrem Werkstattflair das Prozesshafte, Rohe ebenso wie die Nostalgie des Angejahrten – ein Thema, das im Filmset-Ambiente des Cafés mit Formica-Möbeln buchstäblich greifbar wird.

Härtetest für Museumsbesucher

Das ganze Fondazione-Areal ist ein einziger Erlebnisparcours. Er will durchwandert und entdeckt werden. Man wechselt von Fluren zu Plätzen und wieder in andere Gebäudeteile, nutzt Aufzüge und Treppen, landet in ärgerlichen Sackgassen, dreht sich im Kreis und stößt dabei doch immer wieder auf ­Neues. Ein sinnfälliger Rundgang ist kaum möglich – und ohnehin nicht zielführend, da die einzelnen Gebäudeteile bisweilen mit thematisch unabhän­gigen Wechselausstellungen belegt sind. Die räumliche Vielfalt bringt reichlich Gelegenheit zu körperlichem Erleben mit sich, sorgt für Irritation, macht zwischen Keller und 10. Stock staunen, sie ermüdet schließlich den Körper, hält den Geist aber wach. Und ein wenig merkt man auch, dass die Kuratoren Spaß daran haben, sich von den unterschiedlichen Raumqualitäten fordern oder auch einfach nur lenken zu lassen. Mitunter aasen sie mit dem Raum­angebot und zeigen nur ein einzelnes Kunstwerk in einem riesigen Saal oder machen sich einfach die Kelleratmosphäre tief unter dem Kino für die Präsentation eines großformatigen Grotten-Fotos von Thomas Demand zunutze.

Der Mitinhaberin, Sammlerin und Stifterin Miucca Prada wiederum hat es der vierstöckige Gebäudeteil mit den kleinsten Räumen des klösterlich selbstbezogenen Geländes angetan; stets empfand sie ihn als einen verwunschenen Ort. Dieses »haunted house« beherbergt dauerhaft Arbeiten von Louise Bourgeois und Robert Gobers, die passenderweise das Verhältnis von Körper, Raum, Einbildungskraft und Wirklichkeit thematisieren.

Als Ausdruck der besonderen Wertschätzung dieser Räume wurden die Fassaden mit Blattgold belegt und haben sich dadurch in der allgemeinen Wahrnehmung als eine Art Signet des Museums eingebrannt.

Die Schau stiehlt diesem »Goldzahn« aber der erst mit einiger Verzögerung im vergangenen April eröffnete »Torre« schräg gegenüber in der äußersten Ecke des Areals. Der Turm ist mit seiner blockigen, von zunächst unverständlichen Schrägen gestörten Präsenz, seiner jegliche Maßstäblichkeit auf dem Gelände sprengenden Höhe und der gleißenden Weißbetonoberfläche ein echter Rüpel. Man möchte ihn ob seiner Unverschämtheit gegenüber dem dezent abgestimmten, bisweilen ironisch gebrochenen Ensemble gerne links liegen lassen. Doch ist er auch ein Charmeur, der mit verführerischen Angeboten zugunsten der Raumdramaturgie sogar die Vorgaben des Auftraggebers unterläuft.

Eine Absage an Neutralweiss

Dem Wunsch der Stiftung nach einer Reihe von »White Cubes« war in, um oder auf den historischen Gebäuden kaum sinnvoll nachzukommen – wohl aber in einer Ecke des Areals, auf mehrere Geschosse verteilt. In dem industriell geprägten Konversionsgebiet nahe der Porta Romana sind einzelne Hochpunkte von bis zu 60 m zugelassen. Man war gut beraten, dieses Maß auszuschöpfen, denn spätestens mit der kommenden Bebauung des aufgelassenen Bahngeländes jenseits der Straße wird die Notwendigkeit eines prägnanten Fingerzeigs offenkundig werden.

Ausgeschöpft wurde auch die Möglichkeit, vier der sechs Ausstellungsgeschosse in den Straßenraum hinein­ragen zu lassen, was neben der zusätzlichen Fläche auch spannungsreiche Schrägen in der Westfassade mit sich brachte. Sie resultieren aus der Notwendigkeit, die Lasten über die freie Höhe hinweg in den Erschließungskern einzuleiten. Im Grunde besteht das Tragwerk aus raumhohen (50 cm dicken!) Stahlbeton-Wandscheiben, die alternierend mal an der Schmal-, mal an der Breitseite jeweils ein Geschoss tragen und dabei raumhohe Verglasungen überbrücken. Damit die einseitig auskragende Konstruktion nicht kippt, ist sie rückwärtig mit einem Stahlbetonbalken und Bohrpfählen im Untergrund verankert. Weißbeton wurde gewählt, da es die Architekten ablehnten, die Materialität der Konstruktion zu kaschieren – ein Prinzip, das sich durch das ganze Gebäude zieht. Wo eine Innendämmung nötig ist, tritt diese mit einer Schalung aus OSB-Platten in Erscheinung und macht es den Kuratoren durchaus schwer, mit Kunstwerken gegen deren starke Struktur anzukommen. Einen White Cube stellt man sich anders vor. Glücklicherweise bietet die Sammlung entsprechende Formate, von quasi-konstruktivistischen Gemälden Michael Heizers bis hin zu den drei durchbohrten Chevrolets der »Bel Air Trilogy« Walter De Marias.

Auch die Glasfassaden mit ihren Ausblicken haben es in sich: Wo sie die Schmalseiten belegen, entsteht eine Röhre, deren gefühlter Sog sich immerhin mit entsprechenden Werken ausbremsen lässt. In den zur Nordseite hin gebäudebreit geöffneten Sälen kommt hingegen kaum etwas gegen die fantastische Aussicht auf die Mailänder Innenstadt samt Dom und Alpenhintergrund an. Das schaffen nur die quietschbunten Tulpen von Jeff Koons oder die Abertausende von Schmeißfliegen aus der Werkstatt von Damien Hirst. Wacker schlagen sich auch die konzentrierten, zwischen Nostalgie und Mahnung changierenden Arbeiten aus der Volksempfänger-Serie von Edward Kienholz und Nancy Reddin Kienholz, die jeweils einen eigenen Raum um sich herum definieren.

Gerne wäre man Mäuschen gewesen, als die Protagonisten von Stiftung und OMA die Raumkonzepte, die verlockenden Möglichkeiten und die kategorischen No-Gos miteinander aushandelten. Seit bald 20 Jahren entwickeln ­Prada und die Teams um Koolhaas gemeinsam Modenschauen und denken Showroom-Design von immer neuen Seiten her. Und man kann sich gut vorstellen, wie die Architekten dabei mit niederländischem Pragmatismus alle konventionellen Konzepte aus dem Feld zu schlagen verstehen.

Ruhe durch Ordnung

Die Architekten des OMA kokettieren bisweilen damit, Ästhetik sei nicht wichtig und niemals Grundlage für architektonische Entscheidungen. Die ausgefeilte Fügung allen Materials straft diese Aussage allerdings Lügen. Alles ist akkurat am Raster der Betonschalung ausgerichtet und bündig eingelassen, um bloß keine Unruhe aufkommen zu lassen. Keiner der Sprinklerauslässe tanzt aus der Reihe. Weder die Schienen der notwendigen Spotlights fallen ins Auge noch die Linienleuchten für die verhältnismäßig warme, dimmbare Grundbeleuchtung für gleichmäßiges Licht über den Tag hinweg (um die 3 000 K). Ebenso durchdacht sind die Anschlüsse der Glasfassade an Wand, Decke und Boden aus iranischem Travertin. Es gibt keine gestalterischen Ungereimtheiten, auch bei den Wandöffnungen zum Vorraum nicht, die zwar vorgeben, mit dem Schalraster nichts zu tun haben zu wollen, letztlich aber davon erzählen, wie die Ordnung hier genussvoll durchbrochen wurde. Und freilich verfehlt auch die Wandbekleidung im Treppenhaus das erklärte Ziel roher Materialehrlichkeit: Die unbehandelten, rosafarbenen Gipskartonplatten mit ihren charakteristischen Gipsklecksen wirken, hinter Gitterrosten indirekt beleuchtet, wie eine zwischen rigider Linie und fröhlichem Zufall fein ausgewogene Grafik.

Vertikalität

Rem Koolhaas lässt sich mit der Aussage zitieren, im 10. Stock fühle sich Kunst anders an als am Boden. In all den Räumen, in denen er die Höhe mit maximaler Öffnung inszeniert und dem Besucher die Sicherheit von Brüstungen verweigert, kann man dem nicht widersprechen. Was für ein Gegensatz zu Chipperfields 4 km entfernt liegendem Museo delle Culture (s. db 10/2015, S. 65), dessen fensterlose Räume im burgartigen Innenhof einer Fabrik die Flucht nach innen kaum mehr betonen können. Und welche Erleichterung, im obersten Ausstellungsgeschoss des Prada-Turms dann doch einen rundum geschlossenen Oberlichtsaal vorzufinden!

Weil das Raumerlebnis klar im Vordergrund steht, ist die Nutzung der Auf­züge nicht gern gesehen – lieber soll man sich die subtil nach oben hin von 2,7 auf 8 m zunehmende Höhe der Geschosse per Treppenhaus erschließen. Es lockt ein piranesihaftes Erlebnis der gegenläufigen Treppenanlage mit Ausblicken in die ehemalige Lagerhalle und weiter oben nach Süden auf Antonio Citterios Bürogebäude »Symbiosis«, in dessen Glasfassade sich dankenswerterweise die ganze Fondazione spiegelt.

Zu speziellen Anlässen auf der Dachterrasse oder in der angrenzenden Lagerhalle wird am Fuße des Turms ein zweiter Zugang zum Gelände geöffnet. So auch am Abend, wenn das Restaurant im 6. Stock mit edler Küche und Aussicht lockt. Wie die Kunstwerke im Turm steht auch die Einrichtung des opulent wie ein Herrenzimmer ausgestatteten Gastraums stellvertretend für das Wirken der Stiftung seit 1993, bzw. für die Sammlung, die sich vorwiegend aus Werken von 1960 bis heute zusammensetzt und auf dem ganzen Gelände nicht nur selbstreferenziell präsentiert wird, sondern auch als Ausgangspunkt für diverse Sonderausstellungen dient. Es gibt hier originale Einrichtungsfragmente des Four Seasons Restaurants in New York von Philip Johnson, pastose Skulpturen von Lucio Fontana, Gemälde von Jeff Koons, und und und.

Zu den Baukosten möchte man sich nicht äußern. Es wird aber betont, dass man sich Mühe gab, das Budget nicht unnötig mit Kinkerlitzchen zu belasten. Wie ironischerweise die Blattvergoldung des »Haunted House« belegt, von der berichtet wird, sie sei bei aller Handwerklichkeit immer noch günstiger gewesen als so manche andere ins Auge gefasste Alternative. Glücklich also der solvente, aber auch langmütige Bauherr, der die Architekten gute Lösungen ausprobieren lassen kann.

Auf die Frage, welches Maß an baulicher Prägnanz für die Kunstpräsentation angemessen sei, möchte man nach einem Besuch der Fondazione antworten: jegliches. Zur Leidenschaft von Privatsammlern passt der erlebnisorientierte Ansatz mit fordernden Räumen aber vielleicht doch besser.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Tools: