Zeitschrift

db deutsche Bauzeitung 2018|11
Architektur der Stille
db deutsche Bauzeitung 2018|11

Gang zur Ewigkeit

Aussegnungshallen des jüdischen Friedhofs Bushey (GB)

Der jüdische Begräbnisritus verlangt nach einer prozessionshaften Abfolge räumlicher Situationen. Im Grüngürtel der britischen Hauptstadt ließ sich ein raumgreifendes Programm mit überdachten Wandelgängen und einzelnen Gebäuden für Zusammenkunft, Gebet und Technik realisieren. Die archaisch anmutenden Formen aus zementgebundenem Stampflehm sind im Gegensatz zu den Gräbern durchaus nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeitlichkeit alles Seins ist im Entwurfsgedanken enthalten, der Rückbau bereits einkalkuliert.

5. November 2018 - Jay Merrick
Der stärkste Eindruck, der sich bei der Annäherungen an die neuen Gebäude auf dem New Jewish Cemetery in der kleinen Schlafstadt nordwestlich von London ergibt, ist jener extremer Einfachheit in Form und Material, gestützt durch das Fehlen aufdringlicher Details. Doch ist es genau diese gestalterische Zurückhaltung, insbesondere die schmucklose körperliche Präsenz, die das Projekt so bemerkenswert macht.

Auch die Verhandlungen zwischen den Architekten und dem Bauherrn »United Synagogue«, einer Vereinigung orthodoxer Synagogen in Großbritannien, verliefen ungewöhnlich. Die Architekten hatten es nicht mit einem einzelnen Repräsentanten des Bauherrn zu tun, nicht einmal nur mit einem Ausschuss: Bei Gestaltungsfragen waren stets mehrere Gruppen beteiligt; jedes Entwurfsdetail wurde mehrfachen, voneinander unabhängigen Begutachtungen unterzogen.

Dass es sich bei diesem bescheiden auftretenden Arrangement aus Gebäuden und Landschaftsgestaltung um Friedhofsbauten handelt, ist nicht offensichtlich. Sie entsprechen keiner Typologie, und sie sind außerdem nur auf Zeit gebaut: Wenn die 17.000 neuen Grabstellen südöstlich des angestammten Friedhofsgeländes belegt sind, wird es hier keine Bestattungen mehr geben, denn die Gräber bleiben bestehen. Stattdessen werden die Gebets- und die Aufbahrungshalle obsolet. Dies ist einer der Gründe, weshalb Andrew Waugh, Mitbegründer des Büros Waugh Thistleton Architects, entschied, die Gebetshallen aus verstärktem Stampflehm (mit Ton- und Zementanteilen) zu errichten. Alle Gebäude, auch die Stützen aus Lärchen-Leimholz, die die begleitenden Kolonnaden entlang einer Nord-Süd-Achse bilden, sind – in der Theorie – biologisch abbaubar; ein möglicher Zustand als Ruine ist mit hinein gedacht, die Formel »Erde zu Erde« liegt nicht fern. Tatsächlich sind die zementverstärkten Wände aber sehr dauerhaft, und so wird man am Ende der Nutzungsdauer zunächst die Dächer aus Brettschichtholzträgern samt PIR-Dämmung und Zinkeindeckung separat rückbauen müssen.

Jenseits gewohnter Pfade

»Wir hatten nie zuvor ein Gebäude außerhalb einer Stadt gebaut«, erklärt Andrew Waugh. »Immer hatte sich alles darum gedreht, das Baufenster einzuhalten und dabei alle Räume mit ausreichend Licht zu versorgen. Von daher war es eine neue Erfahrung, an einem regnerischen Tag hier inmitten von Kohlfeldern zu stehen.« Eine der ersten Entscheidungen war, die Gebäude an der tiefst liegenden Ecke des Geländes zu platzieren, um ihre Präsenz zu minimieren. Die Grabfelder werden durch einen Weg erschlossen, der die zentrale Achse des alten Friedhofs fortsetzt.

Auch der Einsatz von Stampflehm war neu für Waugh Thistleton. Doch das Büro zeichnet sich u. a. durch seinen starken Hang zur Vorreiterschaft aus. Beispielsweise war es das erste in Großbritannien, das große Projekte in furniertem Brettschichtholz ausführte (Gelegenheit zu einem Werkvortrag von Andrew Waugh gibt es auf der Fachtagung Holzbau am 7. November in Stuttgart). Der Versuch, den österreichischen Stampflehm-Spezialisten Martin Rauch (s. u. a. Hort Allenmoos in Zürich db 12/2013) zu kontaktieren, scheiterte zwar, doch machten die Tragwerksplaner Elliot Wood ein australisches Fachunternehmen mit einem auf der Insel ansässigen Partner, Bill Swaney, ausfindig, der eine Musterwand aus 500 mm dicken Stampflehmblöcken errichtete, die aus Sand, Kalkstein, Kies und 5 % Zement sowie Ton bestehen. Dieser stammt aus eigens angelegten Gruben und Tümpeln an den beiden tiefstgelegenen und feuchtesten Stellen des Baugrundstücks. Swaney und sein kleines Team hausten dort in Wohnwagen, die neben dem Schiffscontainer mit stählernen Schaltafeln standen, und stellten in zehn Wochen die Stampflehm-Konstruktion fertig.

Form und Grundriss der Friedhofsgebäude nehmen klaren Bezug auf die Kapellen und das Krematorium von Erik Gunnar Asplund und Sigurd Lewerentz auf dem Waldfriedhof in Farsta bei Stockholm. Anders als dort sind die Bauten in Bushey jedoch keine Etüde in architektonischer Raffinesse. Die Lehmwände der Kapelle strahlen eine poetisch uneindeutige Monumentalität aus, und ihre Erscheinung ist so unspektakulär wie die koscheren Särge aus Hartfaserplatten mit Tragegriffen aus Hanf, die bei jüdischen Begräbnissen meistens zum Einsatz kommen (in Israel werden die Toten vor der Bestattung lediglich in Tallitot, Gebetsmäntel, gehüllt).

Die Art und Weise, wie eine Beerdigung abläuft, definierte die Grundrisse, und die Anordnung der Gebäude – nämlich linear. Abgesehen vom Empfangsgebäude, das aus Rücksicht auf eine sehr alte Eiche aus der Achse heraus­gedreht wurde, ist der Ausrichtung der Hallen und der Wandelgänge bereits etwas Prozessionshaftes eigen, von der Ankunft bis zur Beisetzung. Es entstehen erinnerliche, aber nicht überdramatische Stimmungen für die Trauerriten in den Gebetshallen und in den offenen Versammlungsbereichen.

Trauergesellschaft trifft im Südosten auf dem Parkplatz ein und sammelt sich unter der Kolonnade vor dem hölzernen Empfangsgebäude, um der Stützenreihe dann entlang der Fassaden der Gebetshallen zu folgen.

Der Säulengang darf die Trauerhallen nicht berühren, genauso wenig wie die kleinen Räume neben den Hallen für die Kohanim, die Priester, denn der jüdische ­Begräbnisritus verbietet den Kontakt zwischen weltlichen und spirituellen Bereichen. So darf sich auch der Kohen nicht im selben Raum wie ein Sarg mit Leichnam aufhalten und leitet daher die Feier von außen, von einem Platz aus, der sich etwa 1 m vor den östlichen Türen der Trauerhalle unter einer separaten Dachkonstruktion aus Corten befindet.

Durch massige Corten-Tore betreten die Gäste die Halle von Westen her, um hier zu beten und zu trauern, und verlassen sie anschließend durch ebenso großformatige Tore auf der Ostseite. Der trapezförmige Grundriss der beiden Gebäude enthält jeweils eine von der Geraden abweichende Fassade; diese liegen sich gegenüber und bilden einen offenen Platz, auf dem die Nachrufe gehalten werden, bevor die Gruppe dem Sarg zum Grab hin folgt.

Das Corten stellt einen reichhaltigen visuellen und haptischen Kontrast zu den Stampflehmblöcken her, deren Oberflächen sehr uneben sind und unregelmäßige Färbungen zeigen. Die unbehandelten Oberflächen sind von den Spannlöchern und groben Schalungsfugen strukturiert; die Farben und Texturen ändern sich je nach Lichteinfall. Die handgefertigte Anmutung ist angemessen – deutet sie doch auf jene Erdklumpen voraus, die nach jüdischer Tradition von den Begräbnisteilnehmern auf die Särge geworfen werden.

Transitionsraum

Die Zurückhaltung der Architektur wirkt v. a. in der Atmosphäre und Materialität der Gebetsräume. Insbesondere die Art und Weise, wie Licht und Schatten auf die Lehmwände fallen, schafft eine beruhigende Stimmung genau dort, wo die Trauernden ihren Gefühlen expressiv Ausdruck verleihen.

Eine Zweiteilung symbolisiert auch hier den Aspekt des Voranschreitens und das transitive Moment des Ritus: Von einem liegenden Fenster über dem Eingang aus streift Licht entlang der geneigten Dachfläche weiter in den mit ­Eichenlatten ausgeschlagenen vorderen Raumteil, der für das Hier und Jetzt steht. Gleichsam von hinten, aus zunächst unsichtbarer Quelle, erhellt ein weiteres Fenster von Westen her den überhöhten hinteren Teil der Halle, der die Stampflehmstruktur zeigt und damit auf die letzte Ruhe in der Erde ­vorausweist. Je nach Witterung und Lichteinfall ergeben sich leuchtende Streifen auf Wänden und Boden. Das Licht, und auch der Schatten, erzeugen ­wunderbar feine Abstufungen in der Textur der Oberflächen.

Der Boden fällt ganz leicht von Westen nach Osten, zum gegenüberliegenden Ausgang hin ab – eine Referenz sowohl an Le Corbusiers sakrale Bauten in Ronchamp und Firminy als auch an so manche Renaissancekirche. In Bushey ist die Neigung jedoch nicht einfach eine smarte architektonische Idee, sondern soll buchstäblich den Beginn der Rückkehr des Körpers zur Erde spürbar machen.

Die Hallen werden über Niedrigtemperatur-Konvektionsheizungen im Boden geheizt. Das genügt, denn Anwesende tragen stets einen Mantel und halten sich hier nie länger als 20 Minuten auf.

Die ganze Anlage atmet einen Geist von Rechtschaffenheit und Anstand, der sich aus den ungewöhnlich detaillierten Diskussionen mit den Bauherrenvertretern speist, aus der Sorgfalt, mit der man die Baukörper so positionierte, dass sie der Gefahr der Dominanz über das Gelände entgehen, und aus der bedeutungsvollen, sinnstiftenden Qualität der Materialien.

[Aus dem Englischen von Dagmar Ruhnau]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Tools: