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TEC21 2019|16-17
Trinkwasser: Der Kreislauf stockt
TEC21 2019|16-17
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Trinkwasser im Dichtestress

Der Bund schlägt Alarm: Hunderte Grundwasserbrunnen sind von der Stilllegung bedroht, weil sie ungenügend geschützt sind. Die Raumplanung hat zu wenig aufgepasst. Der Kanton Solothurn will nun Gegensteuer geben.

26. April 2019 - Paul Knüsel
Oensingen ist beileibe nicht der Motor der Schweiz, aber ein Zahnrad, das läuft und läuft. Im fleissigen Dorf, eingeklemmt zwischen Autobahn A2 und Jurahügeln, verkehren fast so viele Arbeiter wie ständige Einwohner. Auch deshalb übertrifft die 6000-Seelen-Gemeinde das nationale Bruttoinlandprodukt um 35 %. Für die «Hauptstadtregion Schweiz», die das westliche Mittelland umfasst, ist Oensingen ein «Top-Entwicklungsstandort». Dumm nur, dass man sich dort eben selbst das Wasser abzugraben scheint. Nicht, was die wirtschaftliche Leistung betrifft, sondern im wahrsten Sinn des Worts: Das Grundwasserpumpwerk Moos, das sämtliches Trink- und Brauchwasser für die Haus­halte und Firmen liefern muss, wird vor allem von ­Letzteren bedrohlich eingekreist. Es steht mitten in einem fast 1 km2 grossen Gewerbegebiet, was für Gewässerexperten eine Art Tabubruch ist. Vor 50 Jahren wurde die Pumpstation auf Ackerland weit ausserhalb des Siedlungsgebiets gebaut. Jetzt ist es eingekesselt: Die Anlage, die sauberes Grundwasser aus 30 m Tiefe an die Erdoberfläche holt, ist sogar akut bedroht. Das kantonale Amt für Umwelt verlangt von der Gemeinde inzwischen, die Wasserbeschaffung so schnell wie ­möglich besser abzusichern und nach Alternativen zu suchen. Wir befragten den kantonalen Experten.

TEC21: Herr Hug, warum darf das Pumpwerk Moos nicht weiterhin Grundwasser fördern?

Rainer Hug: Wasser liefert der Brunnen effektiv genug, und auch die Qualität ist bislang nicht zu beanstanden. Doch das Problem ist: Das Einzugsgebiet der Fassung ist zu wenig gut geschützt.

Warum nicht?

Die Fassung liegt mitten in einer Industriezone, und rundherum ist praktisch alles überbaut. Damit steigt das Risiko, dass das Grundwasser unmittelbar verunreinigt werden kann. Gefährlich sind etwa Heizöltanks oder Betriebs­tank­stellen; bei Lecks oder anderen Zwischenfällen kann Öl oder Benzin in den Untergrund versickern. Noch problematischer sind die benachbarten Abwasser­leitungen: Falls diese undicht werden, können sie das Grundwasser lange Zeit unbemerkt verschmutzen.

Werden gesetzliche Regeln nicht beachtet?

Die Gewässerschutzverordnung schreibt für jede Pumpstation einen Umkreis von mindestens 100 m vor, der frei von Bauten und Anlagen zu halten ist. Dieser Sicherheitsabstand wird mit den Grundwasserschutzzonen 1 und 2 festgelegt. Er muss noch grösser sein, wenn das Grundwasser nicht mindestens zehn Tage braucht, um vom Rand der Freihaltezone bis zur Pumpfassung zu fliessen. In dieser Zeit soll der Boden eventuelle Verunreinigungen filtern oder bakteriell abbauen können.

Was kann die Gemeinde jetzt tun?

Zum einen soll die Gemeinde künftig das Wasser in der Fassung und im nahen Einzugsgebiet kontinuierlich auf potenzielle Schadstoffe über­wachen. Zum anderen muss sie sich auf ein zweites Standbein für die Wasserbeschaffung abstützen können, etwa indem sie sich an einer bestehenden, gut geschützten Grundwasserfassung anschliesst. In der Nachbarschaft stehen beispielsweise leis­tungs­­fähige und nahezu konfliktfreie Fassungen mit Reserven für einen Anschluss bereit.

Muss die eigene Fassung nicht aufgehoben werden?

Oensingen hat eine Frist von zehn Jahren erhalten. Ab dann darf das Pumpwerk Moos nur noch reduziert benutzt werden. Und ab dann soll das Werk bei einer Verunreinigung vom Netz genommen werden können, ohne die Versorgung der Gemeinde einschränken zu müssen. Trotzdem muss die ­Ge­meinde die Grundwasserschutzzone nun so weit möglich an die gesetzlichen Vorgaben anpassen. Kann die 100-m-Regel nicht eingehalten werden, braucht es andere, verschärfte Schutzmassnahmen.

Warum muss das nicht schneller gehen?

Rechtlich ist die Situation sogar so: Die Konzession für die Grundwassernutzung läuft erst 2040 ab. Den Schutzstandard jetzt schon zu aktua­lisieren war das Resultat von Verhandlungen zwischen dem Kanton und der Gemeinde. Da nun die letzten Flächen in der Schutzzone S3 überbaut ­wer­den sollen, musste der Kanton intervenieren. Die hydrogeologischen Bedingungen an diesem Standort entschärfen das Problem aber ein wenig: Der Grundwasserträger befindet sich im Vergleich zu anderen Fassungen weit unten. Dank der mächtigen Schutzschicht ist das Grundwasser von Oensingen besser geschützt, was uns Zeit für die Umsetzung gibt.

Ist Oensingen ein Spezialfall?

Leider nein, sondern beispielhaft für ein halbes Dutzend Trinkwasserfassungen im Kanton Solothurn. Die Ausdehnung des Siedlungsraums und der Bau von Verkehrsinfrastruktur wie Strassen und Tunnels setzen den Schutz der bestehenden Versorgung unter grossen Druck. Dass eine Grundwasserschutzzone S2 überbaut ist oder sich mit rechtmässigen Bauzonen überlagert, trifft jedoch für viele Gemeinden im gesamten Schweizer Mittelland zu.

Jede fünfte Anlage ist in Gefahr

Mindestens so langsam, wie Wasser durch den Boden sickert, so viel Zeit braucht es, bis Warnungen vor steigendem Nutzungsdruck an die Öffentlichkeit dringen. Vor 20 Jah­ren trat die nationale Gewässerschutzverordnung in Kraft, die alle Pumpstandorte angemessen schützen und weiträumige Schutzzonen vorschreiben soll. Ende 2018 liess der Vollzugsbericht des Bundesamts für Umwelt (Bafu) aufhorchen. Die befragten ­kantonalen Fachstellen beklagten sich über «schwerwiegende Konflikte» und «unzulängliche Zonenausscheidungen» in den Gemeinden.[1] Die Angaben liefern weitere Details zu diesem Versäumnis: Mehr als ein Drittel der Trinkwasserfassungen hält die rechtlichen Vor­gaben nicht ein. Und mindestens jede fünfte Anlage braucht zusätzliche Schutzvorkehrungen, um von einer sicheren Versorgung sprechen zu dürfen.

Allein der Kanton Bern musste in den vergangenen Jahren über 100 Fassungsgebiete aufheben und 350 Einzelfassungen stilllegen. Der Konflikt mit der Raumplanung hat gemäss dem Fachverband SVGW dazu geführt, dass fast jeder dritte Wasserversorger in den letzten 20 Jahren ein Fassungsgebiet schliessen musste. Doch die Kantone sind weiterhin ratlos, wie sie von den Gemeinden rechtskonformen Zustand einfordern können. In der Umfrage teilen sie dem Bafu zudem mit: «In dicht besiedelten Regionen ist es äusserst schwierig, geeignete Ersatzstandorte zu finden.»

Herr Hug, wie sieht die Situation in Solothurn aus: Wie viele Reservestandorte stehen zur Verfügung?

Auch bei uns ist der Raum knapp. Der Kanton Solothurn verfügt über drei grosse Grundwasservorkommen, die zu den grössten im Mittelland gehören. Trotz Wasserreichtum wird es zunehmend schwierig, freie Räume für die Trinkwasserproduktion zu finden. Zwischen Olten und Aarau setzt der Kanton nun mit 20 Gemeinden einen regionalen Wasserversorgungsplan um. Dort werden über 60 000 Menschen aus zehn Grundwasserfassungen versorgt. Vier davon müssen stillgelegt werden. Wir konnten zwei Ersatzstandorte bestimmen. Auch in diesem Raum verunmöglichen bereits überbaute Flächen oder ein im Bau befindlicher Eisenbahntunnel weitere Optionen.

Kann dies Versorgungsengpässe verursachen?

Wir haben kein quantitatives Problem; nicht einmal im trockenen Sommer 2018. In vielen Fassungen werden jeweils nur 30 bis 40 % des Dargebots effektiv ausgeschöpft. Das Problem ist, zusätzliche freie Nutzungsräume zu finden und nachhaltig zu schützen. Die jetzige Infrastruktur hat genug Reserve; Anschlüsse für Nachbargemeinden sind an vielen Orten möglich. Wir empfehlen deshalb, eher neue Leitungen zu bauen als neue Fassungen. Aber wichtig ist, dass jede Gemeinde ein zweites Standbein in der Trinkwasserversorgung aufbauen kann.

Was heisst das?

Dazu werden zwei Anschlüsse benötigt, an jeweils hydrogeologisch möglichst voneinander getrennte Grundwasservorkommen. Eine sichere Versorgungsinfrastruktur besteht daher aus zwei unabhängigen Pumpwerken und Einspeiseorten. Diese Versicherungs- und Vorsorgelösung lässt sich oft mit einer Regionalisierung verbinden. Doch häufig bremsen politische Befindlichkeiten eine Vernetzung. Die Wasserversorgung ist historisch kleinräumig gewachsen. Eine übergeordnete Planung kann schnell Widerstände provozieren. Die Gründe, warum man sich vernetzen soll, verstehen nicht alle Gemeinden. Erwidert wird: Wir haben sauberes Wasser und bezahlen wenig dafür. Warum soll man daran etwas ändern?

Hat der Kanton keine hoheitlichen Befugnisse?

Konzessionserneuerungen sind wichtige Hebel, um den Ersatz von schlecht geschützte Fas­sun­gen voranzutreiben oder die Vernetzung zu ver­bessern. Der Kanton kann selbst zwar regionale Versorgungsplanungen durchführen. Diese sind aber nur Leitplanken für neue Grundwasserfassungen und Verbundsleitungen. Die Umsetzung ist Sache der Gemeinden oder anderer öffentlicher Versorger.

Und was kostet das? Die Antwort geben wir hier selbst. Tatsächlich wird die öffentliche Wasserversorgung verursachergerecht finanziert. Aufgrund von Schätzungen geht man davon aus, dass derzeit rund 100 Franken pro Einwohner für die Erneuerung und den Ausbau der Infrastruktur jährlich investiert werden; ebenso viel wie für Unterhalt und Betrieb. Man rechnet auch mit einer ­Verdoppelung des Mittelbedarfs: Mittelfristig ist über eine Milliarde Franken pro Jahr für die Netz­erweiterungen bereitzustellen. Oensingen rechnet selbst mit einem höheren Aufwand und hat die kommunalen Wasserzinsen bereits 2018 erhöht.


Anmerkung:
[01] Schutz der Grundwasserfassungen in der Schweiz – Stand des Vollzugs, Bafu 2018.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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