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db deutsche bauzeitung 2019|06
Anders bauen!
db deutsche bauzeitung 2019|06

Grabenkampf im wilden Westen

Alnatura Campus in Darmstadt

Alnatura und haascookzemmrich STUDIO2050 wagen sich mit einem hybriden Ökogebäude auf schwieriges Terrain, probieren mutig alternative Bautechniken aus und bringen dabei Atmosphäre, Licht und Luft ins Unternehmen. Architektonisch und ökologisch bleibt das ­Gebäude ­jedoch hinter den hohen Erwartungen zurück.

12. Juni 2019 - Rosa Grewe
Es fühlt sich an wie das Ende der Welt mit Windgeflüster und staubigen Schuhen. Ist es aber nicht. Die weite Brache liegt in Darmstadts Westen, nah am Hauptbahnhof. Hier sollen auf 55 000 m² Fläche die »großen Fragen der Nachhaltigkeit und des menschlichen Lebensraums« in einem Gebäude samt Garten beantwortet werden. Nichts Geringeres versprechen die Architekten haascookzemmrich STUDIO2050. Man habe dabei die Ideale von Schönheit, Offenheit, Funktionalität, Kollegialität, Ökologie und Ökonomie vor Augen, ergänzt der Bauherr Götz Rehn. Und so planten sie hier die neue Alnatura-Zentrale für 500 Mitarbeiter, mit Biorestaurant, Kindertagesstätte und Außengelände. Ein Garten Eden im wilden Westen, dazu viel Renommee: Die Architekten, ehemals Partner bei Behnisch Architekten, akquirierten die Stuttgarter Ingenieure von Transsolar für die Klima- und Energieplanung, Kippers & Helbig für die Tragwerksplanung, den Stampflehmpionier Martin Rauch, und Prüfingenieur war Christoph Ziegert, einziger Professor für Lehmbau in Deutschland. Was kann da noch schief gehen?

Licht im Kuhstall

Viel, wie Haas sagt: »Dass wir nicht gescheitert sind, ist auch Glück.« Beim Bauplatz fing es an. Die 47,7 ha große, ehemalige US-Kaserne war in Bundesbesitz und ihre Nachnutzung lange umstritten. Der sandige Boden, von Altlasten verseucht, musste erst abgetragen werden, bevor Alnatura einen Teil der Fläche nutzen konnte. Darüber hinaus liegt das Areal in Erdbebenzone Eins. »Das Grundstück hätte schwieriger nicht sein können,« sagt der Architekt Martin Haas. Das finden andere wohl auch, denn elf Jahre nach dem Truppenabzug ist das Alnatura-Grundstück das einzig neu bebaute auf dem Areal. Wer ob der hohen Ideale eine spektakuläre Architektur erwartet, den wird die Einfachheit der Kubatur, die eher monotonen Längsfassaden und die städtebaulich weit zurückgesetzte Position des Gebäudes enttäuschen. Das Gebäude pflegt ein Image von Bodenständigkeit und Naturverbundenheit. »Kuhstall« ist der selbstgewählte Name für die Architekturidee. Zur Kubatur fanden die Architekten zusammen mit Transsolar. Sie wollten viel Licht ins Gebäude bringen, solare Einträge in den kalten Monaten nutzen und im Sommer vermeiden. Über Tageslichtsimulationen am Modell kamen sie zu einer Ost-West-Ausrichtung mit verglasten Stirnseiten und einer Abfolge von geschlossenen und offenen Elementen nach Süden und Norden. Ein durchlaufendes Fensterband auf der nördlichen Dachseite bringt Licht in die Tiefe und bestimmt die Atmosphäre im Innern. Der Bauherr wünschte sich einen weitläufigen Innenraum ohne Trennwände zwischen Abteilungen und Hierarchien. Die Arbeitsplätze verteilen sich auf vier geschwungenen Galerien um ein Atrium.

Treppen und Brücken verbinden die Flächen miteinander. Ganz ohne trennende Bauteile geht es nicht. Mehrere Gebäudekerne zonieren den offenen Hallenraum, und der Eingangsbereich ist nach Norden von Besprechungsräumen, nach Süden von einem öffentlichen Restaurant und geradeaus durch eine Zugangsschranke baulich begrenzt.

Herausforderungen: Akustik und Statik

Unten in der Halle stehend geht der Blick durch die verglaste Stirnseite hinaus bis in den Westwald. Über dem Dachfenster zieht fern oben ein Flugzeug seine weiße Linie durchs Blau. Die Höhe der Halle und die diffuse, kontrastarme Helligkeit erzeugen im Innern ein Gefühl von Weltentrückung. Dass es nicht hallt wie in einer Kirche liegt an den Materialien auf den Galerien: Die Lehmflächen und Teppichböden dämpfen die Akustik. Perforierte Holzplatten bekleiden die Gebäudekerne, akustisch wirksame Nadelholzlamellen die Dachunterseiten und Fensterumrandungen. Auf den Unterseiten der Betondecken kleben Absorberstreifen aus Schaumbeton, die zusätzlich den Nachhall dämpfen. Auch die Ausstattung mit hohen Sofas, Regalen und siebenlagigen Akustikvorhängen sorgt für ruhige Arbeits- und Konferenzbereiche.

Der offene Hallenraum forderte besondere Lösungen. Mit einer Hybridkonstruktion konnten die Architekten verschiedene bautechnische Anforderungen, die Architekturidee und ein Budget von 1 800 €/m² erfüllen: Das Gebäude ist in der Grundstruktur ein Stahlbetonskelettbau mit einem nicht hinterlüfteten Dachtragwerk aus Holzbindern. Die Fassaden bilden längsseitig Stampflehmwände und stirnseitig zwei Pfosten-Riegel-Glasfassaden. Es gab zwei statische Besonderheiten: Das durchlaufende Dachfenster verhindert, dass sich die gegenüberliegenden Dachträger kraftschlüssig miteinander verbinden. So entstehen zwei voneinander entkoppelte Systeme aus Holzbindern auf filigranen Stahlbetonstützen, eines davon mit einer weiten Auskragung über das Atrium. Die zweite Herausforderung waren die 12,5 m Höhe der Stampflehmwände. Dafür brauchten die Architekten bei der Genehmigung eine Zustimmung im Einzelfall, das erforderte hier auch wegen der Erdbebensicherheit viel Beratung mit den zuständigen Behörden. Dazu kommt das Kriech- und Schwindverhalten von Lehm. Haas sagt: »Wir haben hier Lehmbautoleranzen von 6 cm.« So erreichen die Lehmaußenwände mit Sicherheitszuschlägen eine Wanddicke von 69 cm, nur, um sich selbst zu tragen; sie nehmen dabei kaum fremde Lasten auf.

Schöner Stampflehm

Lehm als klimaneutraler und raumklimaregulierender Baustoff ist ökologisch vernünftig, entpuppte sich hier aber wegen der Stampflehmtechnik als sehr aufwendig. Zuerst sollten die Mitarbeiter selbst Lehmstampfen für den Teamgeist. Doch Haas sagt: »Die gute Qualität der Lehmblöcke konnten wir nur mit einer industriellen Herstellung erreichen.« Deshalb brachte der Stampflehmbauer Martin Rauch nicht nur erfahrene Handwerker aus Österreich mit, sondern auch eine Stampflehmmaschine. In der wurde der nasse Lehm und eine 17 cm schmale Dämmschicht aus recycelten Schaumglasschotter zu Blöcken gepresst und geschnitten. In einem benachbarten Schuppen fertigten die Handwerker 384 Lehmblöcke, von je 1 m x 3,5 m. Nach einer Trocknungsphase stapelten sie diese auf den Betonsockel des Gebäudes, füllten die Fugen mit Ton und Trasskalk zum Schutz gegen Erosion und stabilisierten das Ganze mit einem Geogitter. In der Bauweise steckt viel Experimentierlust, auch seitens der Bauherren. Der Stampflehmbau ist nicht normiert, bringt daher viel Aufwand bei der Fertigung, bei der Genehmigung sowie ein Risiko der Nachbesserung mit sich. Das ruft Kritiker auf den Plan: Der renommierte Lehmbauarchitekt Franz Volhard, Autor der Lehmbau Regeln, kritisiert u. a. den ­logistischen Aufwand. Eine enorme Masse Lehm wurde aus der Eifel und aus dem Aushub von Stuttgart 21 herbeigefahren. Außerdem verletzte der eingepresste Schaumglasschotter das Reinheitsgebot beim Lehmbau, dem Lehm keine Zusätze beizumischen für eine bessere Trennbarkeit und klimaneutrale Wiederverwertung. Dem bauphysikalischen Nutzen der Wand stehen planerische, statische, genehmigungsrechtliche, handwerkliche und logistische Schwierigkeiten gegenüber. Aber die Stampflehmwand hat eine hohe imageprägende und ästhetische Wirkung. Weil sie zudem die erste ihrer Art und Höhe in Deutschland ist, ist die mediale Wirkung hoch, nicht nur für ­Alnatura, sondern auch für den Lehmbau.

Mal Richtig durchlüften

Bei der Klimaplanung verzichten die Architekten weitgehend auf aktive Technikanlagen. Haas sagt: »Technik ist im Augenblick des Einbaus oft schon veraltet.« Die Belüftung des Alnatura-Gebäudes erfolgt über natürliche Thermik: Zwei Ansaugtürme ziehen Frischluft aus dem benachbarten Wald. Erdkanäle wärmen bzw. kühlen die angesaugte Luft und leiten sie zum Gebäude, wo ­sie langsam bis zum Dach strömt und austritt. Bei der Temperierung des Gebäudes setzen die Architekten auch auf die Lehmwand als passiver, latenter Temperaturspeicher, aber auch als aktivierte, abstrahlende Fläche: In den Lehm eingelassene Heizschlangen mit geothermisch temperiertem Wasser erwärmen oder kühlen die Wandflächen. Eine weitere Abwägung war die 478 m² große Photovoltaikanlage auf dem Dach mit einer Nennleistung von 90 kWp. Weil der Stromverbrauch des Gebäudes sehr gering ist, ist die Anlage, laut Haas, weniger relevant für die Strombilanz als für die Außenwirkung. Und sehr relevant für eine Zertifizierung durch die DGNB: Das Gebäude erreicht 100 % für die Ökologische Qualität, 83 % beim Gesamterfüllungsgrad und ­eine Platin-Plakette. Wie immer, wenn Überzeugungen aufeinandertreffen, werden die einen jetzt verächtlich die Nase rümpfen und die anderen anerkennend mit dem Kopf nicken. Mit seiner Unternehmenszentrale landet ­Alnatura mittendrin im wüsten Grabenkampf im wilden Westen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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