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TEC21 2019|25-26
Wenn der Berg kommt
TEC21 2019|25-26
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Der Cengalo – Prüfstein fürs Bergell

Nach einem Bergsturz stiessen im August 2017 mehrere Murgänge bis in den Talboden bei Bondo vor. Monatelang bestimmte das Naturereignis das Leben der Menschen im Bergell. Nun werden ­wichtige Weichen neu gestellt.

28. Juni 2019 - Lukas Denzler
Eigentlich war man im Bergell gut vor­bereitet. Aber nicht auf das, was im ­August 2017 geschah. Die seltene Verkettung von Naturereignissen überraschte damals alle: Fachleute und Wissenschaftler – und auch die Bergellerinnen und Bergeller. Am 23. August 2017 stürzte aus der ­Nordostwand des Pizzo Cengalo ein Felsvolumen von etwa 3 Mio. m3 ab (die Cheopspyramide in Ägypten hat ein Volumen von 2.6 Mio. m3). Die Wucht des Aufpralls erodierte am Fuss der Wand das Eis eines kleinen ­Gletschers.

Bereits 30 Sekunden nach der Ablagerung bewegte sich ein sogenannter Schuttstrom, ein zähflüssiger Murgang, mit etwa 8 m/s durch die Val Bondasca. Ein Teil davon durchfloss die enge Schlucht am Ende des Seitentals und erreichte knapp 20 Minuten nach dem Bergsturz Bondo. Bis am Abend folgten sieben flüssige Murgänge mit einem Gemisch aus Steinen, Blöcken und Geröll. Dieses lagerte sich im Gebiet ab, wo die Bondasaca sich unter der Umfahrungsstrasse hindurchzwängt und in die Maira, den Hauptfluss des Bergells, mündet.

Erstaunlich war, dass aus dem Bergsturzmaterial unverzüglich ein Schuttstrom entstand – eine bisher äusserst selten beobach­tete Verkettung von Naturereignissen. Und das alles an einem schönen Tag ohne einen Tropfen Regen.

Mai 2019: Die Bergeller Berge sind in Nebel ­g­ehüllt. Auch der Pizzo Cengalo zuhinterst in der Val Bondasca an der Grenze zu Italien. Sind starke Niederschläge angekündigt, kommt bei vielen Menschen im Bergell ein mulmiges Gefühl auf. Denn am Fuss des Cengalo und in der Val Bondasca liegt immer noch sehr viel Material. Wird es mobilisiert, stossen gewaltige Murgänge möglicherweise wieder bis in den Talboden vor.

Ein Weckruf im Sommer 2012

Im Bergell gab es in den letzten hundert Jahren immer wieder Hochwasser. Eines der schlimmsten ereignete sich 1927. Die Maira zerstörte Brücken im Tal, auch die Bondasca führte reichlich Geschiebe mit sich. Murgänge aus der Val Bondasca sind jedoch keine dokumentiert. Erst als sich am 27. Dezember 2011 ein erster Bergsturz mit einem Volumen von 1.5 Mio. m3 am Cengalo ereignet hatte, bildete sich im Sommer 2012 nach Starkniederschlägen eine Geröll- und Schlammlawine, die bis ins Haupttal vorstiess. Damals musste der Campingplatz am Ufer der Bondasca evakuiert werden. Der Murgang war ein Weckruf für die Behörden im Bergell. Zusammen mit den Fachleuten des Kantons leiteten sie diverse Massnahmen ein: Seit 2013 ist ein Murgangalarmsystem in Betrieb, und bis 2015 wurde ein Auffangbecken mit einem Fassungsvermögen von bis zu 200 000 m³ gebaut.

Die Realisierung des Auffangbeckens vor fünf Jahren sorgte vor allem in Bondo selbst für Diskussionen. Dessen Bau benötigte viel Land und war ein massiver Eingriff ins Landschaftsbild direkt neben dem Dorf. Nicht wenige empfanden das Schutzbautenprojekt als überrissen. Die Stimmberechtigen der Gemeinde Bregaglia bewilligten es jedoch. Somit wurde in Bondo ein Risikomanagement nach dem damaligen Stand des Wissens umgesetzt.

Die Ereignisse vom August 2017 sprengten jedoch alle Vorstellungen. Am Abend des 23. August 2017 lagen im und um das Auffangbecken herum etwa 220 000 m³ Material. Zwei Tage später folgte ein weiterer Murgang bei schönem Wetter, bevor am 31. August 2017 – ausgelöst durch Starkniederschläge – noch einmal 260 000 m³ Material bis nach Bondo gelangten. Insgesamt waren es rund eine halbe Million Kubikmeter.

Das Frühwarnsystem erfüllte seinen Zweck: Die Ampeln der Verkehrswege stellten umgehend auf rot, und die Einsatzkräfte begannen unverzüglich mit der Evakuierung von Bondo. Im Talboden kamen keine Menschen zu Schaden. Doch acht Alpinisten, die sich auf dem Abstieg von der Sciora-Hütte im hinteren Teil der Val Bondasca befanden, wurden von den Geröllmassen überrascht und werden seither vermisst.

Zunächst vermutete man einen Fehlalarm

Als die Alarmanlage an einem sonnigen Vormittag einen Murgang anzeigte, dachten alle alarmierten Personen zuerst an einen Fehlalarm. Sie wussten zwar aufgrund der neuesten Radarmessungen, dass sich die Felsen am Cengalo seit einigen Wochen schneller bewegten. Man rechnete mit einem baldigen Abbruch und hatte die Warntafeln in der Val Bondasca angepasst. Marcello Crüzer, der Leiter der Bauverwaltung im Bergell, fuhr sofort nach Bondo. Dort war die Evakuierung bereits angelaufen.

Beim Ausgang der Schlucht traf er auf Andrea Giovanoli, der als Revierförster im Bergell die Gemeinde als lokaler Naturgefahrenberater unterstützt. Er war dabei, das grosse Schiebetor bei der alten Brücke, die Bondo mit Promontogno verbindet, zu schliessen. Dieses Tor soll verhindern, dass mit der Bondasca mitgeführtes Material Schäden im Dorf anrichtet. «Das Wasser war sehr schmutzig», erinnert sich Andrea ­Giovanoli. «Uns war klar, jetzt passiert etwas, mit dem wir so nicht gerechnet haben.»

Er informierte Martin Keiser, den für das Bergell zuständigen Regionalforst­ingenieur beim kantonalen Amt für Wald und Natur­gefahren Südbünden, über die Situation in Bondo und organisierte für ihn einen Helikopter in Samedan. ­Wenige Minuten später flog Keiser ins Bergell. Er wies den Piloten an, sogleich zum Cengalo zu fliegen, um einen ersten Überblick zu erhalten. Rasch war ihm klar, dass sehr viel Fels abgebrochen war.

Zahlreiche Videodokumente zeigen, wie die Zerstörung im Talboden am ersten Tag ihren Lauf nahm. Der erste zähflüssige Schuttstrom blieb beim Kegelhals im obersten Teil des Auffangbeckens stecken. Wenig später folgte der erste flüssige Murgang, drohte bei der alten Brücke Richtung Bondo auszubrechen, zerstörte einige Ställe und die alte Mühle, drückte das geschlossene Tor von der Dorfseite ein und ergoss sich – glücklicherweise – schliesslich in das Auffangbecken.

Am zweiten Tag blieb es relativ ruhig. Die alte Brücke war beschädigt, wurde aber nicht mitgerissen. Als ­Engstelle stellte sie jedoch ein Risiko dar, weshalb man sie eilig abriss. Marcello Crüzer begann, schwere Baumaschinen für die Räumung aufzubieten.

Am dritten Tag erreichte ein nächster Murgang den Talboden und richtete weitere Schäden an. Damit war auch klar, dass die Bewohner von Bondo längere Zeit nicht ihre Häuser zurückkehren konnten. Knapp 150 Personen waren evakuiert, rund 10 Prozent der Bevölkerung im Bergell. Die meisten fanden bei Verwandten oder Bekannten Unterschlupf. Zerstört wurden alte Gebäude wie auch einige neuere Liegenschaften, die in den 1970er-Jahren erstellt wurden. Bis 2012 befanden sich diese Häuser in keiner Gefahrenzone.

Die Verkehrsverbindungen waren stark eingeschränkt. Die Umfahrungsstrasse blieb mehrere Wochen gesperrt. Die alte Kantonsstrasse auf der rechten Talseite war die Hauptverbindung und für die Einsatzkräfte zentral. Der letzte Murgang vom 31. August 2017 stiess bis zum Gegenhang vor und überschüttete auch sie. Es dauerte sieben Tage, bis die Strasse geräumt und wieder passierbar war.

Das grosse Aufräumen

Hohe Priorität hatte die Räumung des Auffangbeckens. Sie konnte aber nur erfolgen, wenn die Sicherheit der Arbeiter gewährleistet werden konnte. Der erste ­Schuttstrom zerstörte das Murgangalarmsystem in der Val Bondasca. Bis das automatische Warnsystem wieder einsatzfähig war und ein sogenannter Georadar die absturzgefährdete Flanke am Cengalo auch während der Nacht überwachte, übernahmen Beob­achtungs­posten diese Funktion: zunächst Gemeinde­angestellte,

Mitglieder der alpinen Rettung im Tal und der Feuerwehr, später auch Armeeangehörige. Diese Wachposten hatten die Aufgabe, über Funk zu warnen, sollten erneut Murgänge bis ins Tal vorstossen. Im Auffang­becken wieder­um waren Zivilschutzleistende in ständigem Sichtkontakt mit den Bagger- und Dumperfahrern, um diese, wenn nötig, aus dem Gefahrenbereich herauszuwinken. Die Vorwarnzeit betrug je nach Wetter zwischen zwei und vier Minuten. Nach Wiederinstand­stellung und Ausbau des automatisierten Frühwarn- und Alarmsystems konnte schliesslich auch nachts gearbeitet werden. Zwölf grosse Bagger und 15 Dumper standen bei der Räumung des Beckens im Einsatz. ­Dabei ereignete sich kein einziger Personen­unfall.

Wo aber soll in einem Tal, das über nur wenig ebene Flächen verfügt, so viel Material deponiert werden? Fast eine halbe Million Kubikmeter Material lag im und um das Auffangbecken. «Bereits am zweiten Tag haben wir auf einer nahen Fläche angefangen, den Humus abzutragen, um Platz für ein Zwischendepot zu schaffen», sagt Fernando Giovanoli, der Vize-Gemeinde­präsident. «In Absprache mit einem Vertreter des Amts für Natur und Umwelt haben wir rasch und unbüro­kratisch einen Standort für die definitive Deponie bestimmt.» Diese liegt etwas talauswärts, kann maximal 700 000 m³ Material aufnehmen und fügt sich erstaunlich gut ins Landschaftsbild ein.

Eine grosse Herausforderung war die Wiederherstellung der kommunalen Infrastruktur. Weil die Wasserfassungen der Quellen von Bondo in der Val Bondasca zerstört waren, musste eiligst eine neue Wasserleitung von Stampa nach Promontogno gebaut und von dort provisorisch über die Bondasca nach Bondo geführt werden. Die Armee stellte talabwärts eine Notbrücke auf, um bei einer erneuten Sperrung der Hauptzufahrt eine sichere Zufahrt nach Bondo zu gewährleisten.

Am 14. Oktober 2017 konnten die Menschen in ihre Häuser zurückkehren. Für zehn Personen war dies jedoch nicht möglich, weil ihre Häuser entweder zerstört waren, nicht mehr bewohnt werden durften oder der Platz später für die neuen Schutzbauten benötigt wird. Elf Wochen nach dem ersten Murgang war das Rückhaltebecken geleert. Die beschädigte Umfahrungstrasse ist am 24. November 2017 wieder geöffnet worden.

Die provisorische Hängebrücke verbindet

Bereits an einer Informationsveranstaltung Ende 2017 äusserten Einwohner von Bondo den Wunsch nach einer provisorischen Verbindung nach Promontogno, als Ersatz für die alte Brücke. «Es war unser erstes Projekt», sagt Marcello Crüzer. Nach der Bewilligung durch die Gemeindeversammlung wurde die Hängebrücke nach einem Monat im April 2018 bereits eingeweiht. An beiden Seiten befindet sich ein Lichtsignal, auf der Seite von Bondo auch eine Sirene, die an das automatische Alarmierungssystem angeschlossen sind.

Einen weiteren Bergsturz am Cengalo kann niemand ausschliessen. Die Schutzbauten sind provisorisch wiederhergestellt. Die Dämme sind etwas höher ausgebildet, das Rückhaltebecken kann bis zu 300 000 m³ Material aufnehmen. Das Frühwarnsystem ist suk­zessive ausgebaut worden. Neben dem Georadar zur Überwachung der Flanke des Cengalos stehen an zwei Stellen in der Val Bondasca je ein Pegelradar zur Erfassung des Wasserspiegels sowie eine Kamera zur Verfügung. An der oberen Überwachungsstelle befinden sich zudem drei Seismometer zur Detektion von Erschütterungen.

Die Kosten für die Überwachung betragen rund 250 000 Franken pro Jahr. «Das Alarmsystem ist bis Ende 2019 bewilligt», sagt Martin Keiser. Momentan werde abgeklärt, welche Anforderungen das Früh­warnsystem in den nächsten Jahren zu erfüllen habe. Solange die Prozesse, die nach dem Felsabbruch zur teilweisen Verflüssigung des Bergsturzmaterials mit nachfolgendem Murgang geführt haben, nicht besser verstanden sind, wird ein umfassendes Warnsystem inklusive der teuren Radarüberwachung der Flanke des Cengalos unumgänglich sein.

Schutzbauten und Gestaltungswettbewerb

Derzeit wird ein neues Schutzbautenprojekt ausgearbeitet, bei dem das kantonale Tiefbauamt die Federführung innehat. Die geschätzten Kosten liegen bei rund 23 Mio. Fr. Wie alle Naturgefahrenprojekte, die vom Bund unterstützt werden, muss auch dieses die Anforderungen an das Kosten-Nutzen-Verhältnis erfüllen.

Ende 2018 lancierte die Gemeinde Bregaglia einen Gestaltungswettbewerb für die landschaftliche Einbindung der neuen Schutzbauten unter Berücksichtigung des national geschützten Ortsbilds von Bondo. «Zentrales Element sind die drei Brücken», erläutert Fernando Giovanoli. Die Umfahrungsstrasse sowie die zentrale Brücke über die Maira liegen nach heutigem Kenntnisstand zu tief. Die neue Brücke anstelle der provisorischen Hängebrücke am Ausgang der Schlucht ist von elementarer Bedeutung für die direkte Verbindung zwischen Bondo und Promontogno. «Nach den turbulenten letzten zwei Jahren ist es nun wichtig, dass wir uns für die nächsten Entscheide etwas Zeit lassen», sagt der Vize-Gemeindepräsident. Vom Gestaltungswettbewerb erhofft sich Giovanoli, der als selbstständiger Architekt in Soglio ­tätig ist, nicht nur eine überzeugende Lösung, sondern auch Rückendeckung für deren Umsetzung.

Der Schaden der Ereignisse vom August 2017 wird auf rund 41 Mio. Franken geschätzt. Darin sind die indirekten Kosten nicht berücksichtigt. So hat etwa der Tourismus 2017 und 2018 Einbussen erlitten. Rechtzeitig für den Sommer 2019 sind einige Wege in der unteren Val Bondasca wieder geöffnet. Zur SAC-Hütte Sasc Furä, beliebt bei Bergsteigern als Ausgangspunkt für den Pizzo Badile, den Nachbar des ­Cengalo, wird derzeit ein neuer Weg gebaut. Die Sciora-Hütte bleibt hingegen bis auf Weiteres geschlossen.

Setzt der Cengalo neue Massstäbe?

Die Ereignisse von Bondo werden den künftigen Umgang mit Naturgefahren im Berggebiet beeinflussen. «Wir wissen jetzt, dass auch in den Alpen ein Bergsturz auf Gletschereis zu Murgängen führen kann», sagt Arthur Sandri von der Abteilung Gefahrenprävention des Bundesamts für Umwelt. «Andere Orte, wo etwas Ähnliches passieren kann und Schäden entstehen können, müssen wir nun identifizieren.» Ein vom Bund im Rahmen der Anpassung an den Klimawandel gefördertes Projekt fokussiert auf die zukünftigen Gefahren und Risiken aus gefrorenen Felswänden im Wallis. Laut Sandri sollte sich die dort entwickelte Methode später auf den gesamten Alpenraum anwenden lassen.

Nach fast zwei Jahren ist im Bergell ein bisschen Normalität eingekehrt. Wie die Verantwortlichen und die Menschen mit den Naturgewalten, die über das Tal hereinbrachen, umgegangen sind, beeindruckt.

Die nach der Naturkatastrophe eingegangenen Spenden in Höhe von 14 Mio. Franken zeugen schweizweit von einer grossen Solidarität. Der Kanton hat eine ­Kommission gebildet, um eine gerechte Verteilung der Spenden zu gewährleisten. Auch die Gemeinde profitiert davon, denn sie ist in den kommenden Jahren ­bei den Schutzbaupro­jekten mit hohen Restkosten ­konfrontiert. Doch einiges an Ungewissheit bleibt. Wie ein Damoklesschwert schwebt der Cengalo über allem. Der Berg ist und bleibt unberechenbar.

Steinschlag: Absturz von einzelnen Steinen mit Durchmessern von höchstens 0.5 m
Blockschlag: Absturz einzelner Blöcke mit Durch­messern > 0.5 m und einem Absturzvolumen unter 100 m³
Felssturz: Absturz einer Felsmasse zwischen 100 m³ und 1 Mio. m3
Bergsturz: Abbruchvolumen > 1 Mio. m3
Erdrutsch: hangabwärts gerichtete Bewegung von Gesteinsmassen auf einer Gleitfläche

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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