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TEC21 2019|27-28
100 Jahre Bauhaus I: Grenzüberschreitung
TEC21 2019|27-28
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Das Bauhaus weiterweben

Die Lehre am Bauhaus bezog ihre Energie aus dem erklärten Willen zum Experiment, zum individuellen Handeln. Eine Methode, die heute zwischen digitalen und theoretischen Aspekten der Ausbildung wieder einen prominenten Platz einnehmen muss.

12. Juli 2019 - Ákos Moravánszky
Vor 100 Jahren begründete Walter Gropius mit dem Bauhaus die wichtigste Schule für moderne Gestaltung. In mancher Hinsicht dient sie bis heute als Vorbild. Es sind allerdings weder die neuen Formen noch das Dogma des Funktionalismus, von denen immer noch Impulse ausgehen, sondern die Lehrmethoden: die Pädagogik des Bauhauses.

Man tut sich schwer mit diesem so kostbaren wie streitbaren kulturellen Erbe – das ist wohl die einzige Konstante in der wechselvollen Geschichte der Adaptionen. Im Gründungsjahr 1919 ging es noch vor allem um die Fortsetzung des «alten» Werkbundstreits zwischen den Befürwortern einer sozial wirksamen Serienproduktion und jenen, die nach einem neuen Stil suchten. Der Schweizer Architekturkritiker Peter Meyer warf 1927 dem Bauhaus, das sich für Flachdach und Metallglanz entschied, «klotzige Barbarei» vor.[1] Heute streitet man darüber, ob die «unpolitische Gesinnung des Bauhauses» ein berechtigter Grund für die Absage des Konzerts einer linken Punkrockband im ikonischen Dessauer Gebäude war. Die Sprecherin der Stiftung Bauhaus Dessau wurde jedenfalls entlassen.

Die Kritik am Bauhaus zur NS-Zeit, die 1933 zur Schliessung der Schule am dritten Standort in Berlin führte, ist weniger erstaunlich als die Attacken der Nachkriegszeit. Daran waren sowohl die aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrten Ästheten der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno beteiligt, die vom «barbarischen Zugriff» des Funktionalismus sprachen,[2] wie auch Architekten einer gemässigten Moderne. Rudolf Schwarz warf dem Bauhaus vor allem seine «unerträgliche Phraseologie» vor, jene dogmatische Haltung, die die Schule «immer tiefer in den Sumpf» steuerte.[3] Seine Polemik löste in der Bauhaus-Debatte von 1953 wütende Reaktionen aus. Die Ablehnung oder Annahme des Bauhaus-Gedankens war während des Kalten Kriegs in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland eine Frage der politischen Zuordnung.

Das Leben mit dem Bauhaus ist nicht leicht

Fast 30 Jahre später hatte der amerikanische Essayist Tom Wolfe leichtes Spiel, als er seinen Bestseller «From Bauhaus to Our House» schrieb: Die meisten kritischen Argumente wurden in den deutschen Diskussionen bereits verschossen. Wolfe hat sich aber vor allem darüber aufgeregt, dass eine Architektur, die in Deutschland als Antwort auf die Probleme der Zwischenkriegszeit entwickelt wurde, in den Vereinigten Staaten «nun hoch und breit aufgetürmt, in Form von Kunstgalerie-Anbauten für altehrwürdige Ivy-League-Universitäten, Museen für Kunstmäzene, Eigentumswohnungen für die Reichen, Firmensitzen, Rathäusern, Landhäusern» verwendet wird: «Arbeiterwohnungsbau für jeden Zweck, ausser für Arbeiter zum Wohnen».[4] Im Unterschied zum Originaltitel stellt die deutsche Version («Mit dem Bauhaus leben») resigniert fest, dass wir nun mit dem Bauhaus leben müssen, ob es uns gefällt oder nicht. Es ist eben nicht leicht, das Leben mit dem Bauhaus.

Wäre das Bauhaus zu seiner Blütezeit mit heutigen Kriterien evaluiert worden, hätte die sächsische Regierung die Institution schliessen müssen. In unserer Zeit der verwalteten Hochschulreputation findet die neuhumanistische Idee des Bauhauses – die technische und künstlerische Allgemeinbildung, die am Webstuhl oder in der Metallwerkstatt beginnt – keinen Platz in höheren Bildungsanstalten. Bildung, ursprünglich mit dem Programm der körperlichen und intellektuellen Selbsterziehung des Menschen, war im frühen Bauhaus noch mit Atemübungen und Mazdaznan-Ritualen verbunden und diente der Entfaltung der Begabungen.

Die Idee der Begabung ist jedoch suspekt geworden, weil sie der Gleichheit der Menschen widerspricht. Wir sprechen lieber über Skills, die alle erwerben können. Die moralisch begründete Ablehnung eines Studienkonzepts, das die Förderung und Entfaltung der Begabungen als seine wichtigste Aufgabe betrachtet, und die Kontrolle der Einhaltung von ethischen Grundsätzen im geregelten Studienbetrieb machten die Universität zu einer moralischen Instanz. Das war das Bauhaus nie. Die Schule hat ihren privilegierten Meistern fast unbeschränkte Freiheit und Autonomie gegeben, damit sie die Materialien und Techniken der neuen Realität durch ihr künstlerisches Sensorium und ihre Fantasie interpretieren und die Schüler so zum konstruktiven Denken und zum Erfinden erziehen.

Heute, angesichts der explosionshaften Erweiterung der zur Verfügung stehenden Werkstoffpalette und der technischen Möglichkeiten, erscheint es wichtig, das Potenzial dieser Pädagogik mit der Lehre in unseren Universitäten zu vergleichen.

Mass statt Lust und Neugier

Die europäischen Bildungsminister haben 1999 in Bologna die Übernahme eines nach dem dreistufigen angloamerikanischen System gestalteten Studienmodells beschlossen, um einen einheitlichen Bildungsraum einzurichten, in dem Leistungen verglichen werden und Studierende sich frei bewegen können. Die Umstellung des Architekturunterrichts auf das Bologna-System war keine bildungspolitische Notwendigkeit, aber ohne diese Umstellung wären Rankings kaum möglich gewesen. Messbarkeit hat aber Priorität: Die Studienleistungen werden mit dem European Credit Transfer System (ECTS) bewertet. Die Grundlage ist der Arbeitsaufwand, also die geschätzte Zeit, die ein Student braucht, um ein Lernziel zu erreichen.

Das Sammeln der Kreditpunkte macht es den Studierenden kaum mehr möglich, sich auf Gebiete und Themen zu konzentrieren, die sie interessieren. Die rigide Trennung von Forschung und Lehre im Bologna-Modell und die Verbreitung des Doktoratsstudiums als eigentliche Forschung, die zu einer Unterrichtstätigkeit unbedingt erforderlich ist, führen immer weiter weg von jener Einheit von Forschung, Lehre und Praxis, die die Grundlage der Bauhaus-Idee war. So geht auch jene Lust an der Forschung verloren, die von Neugier getrieben ist und keine notwendige Bedingung für den Beruf darstellt. Die Lust, sich mit Fragen zu beschäftigen, ohne sich Gedanken um ihre Verwendung in einem Curriculum machen zu müssen, gehörte zur Freiheit im Bauhaus – die dann vom Staat als Gefahr erkannt wurde, sonst hätte man die Schule nicht geschlossen. Bis 1927, als Hannes Meyer von Gropius zum Leiter der Architekturabteilung ernannt wurde, gab es im Bauhaus keinen Architekturunterricht – unter «Bauen» verstand man eine umfassende gestalterische und organisatorische Tätigkeit. Die Bauhaus-Diplome haben ihre Besitzer nicht zu gewissen konkreten Berufen befähigt, sondern die von ihnen besuchten Kurse und ihre Fähigkeiten aufgelistet.

Lernen in der Bauhaus-Werkstatt bedeutete etwas anderes als Lernen in einem Vortragsraum, wo auf der Powerpoint-Folie die zentralen Aussagen der Vorlesung hervorgehoben sind. Josef Albers, der 1923 mit László Moholy-Nagy die Leitung des Vorkurses übernahm, wollte keine mechanische Anwendung von erlerntem Wissen. Er bezeichnete seine Lehre als ein «induktives Lernverfahren», das mit dem Erlernen von grundsätzlichen Fertigkeiten beginnt, die dann zur Herstellung von Gegenständen führen. Ihre Kombinierbarkeit, ihr konstruktives Potenzial und ihre Rolle im Ganzen müssen erst dann verstandesmässig reflektiert werden. Seine Frau Anni Albers, die 1931 die Leitung der Bauhaus-Weberei übernahm, wurde nach der Auswanderung des Ehepaars nach Amerika als die wichtigste moderne Textilkünstlerin anerkannt und veröffentlichte auch Texte zur Frage des Webens als eines Konstruierens. Auf diesen Grundlagen, die auf die Schriften von Gottfried Semper zurückgehen, wurde nicht nur in Weimar und Dessau weitergebaut. Sie galten auch in North Carolina – Standort des Black Mountain College (wo neben dem Ehepaar Albers auch John Cage, Richard Buckminster Fuller, Merce Cunningham, Lyonel Feininger und Cy Twombly unterrichteten) –, in Chicago, in Ulm und in vielen anderen experimentellen Schulen.

Eine Gewebe von Studios

An Architekturhochschulen ist diese Arbeit heute vor allem in den Entwurfsstudios möglich. Dies bedeutet keinesfalls einen nostalgischen Handwerkskult. Das Experimentieren schliesst sowohl digitale als auch analoge Methoden ein. Wie im Bauhaus die Industrialisierung und die neuen technischen Prozesse, Standardisierung und Massenfertigung zu neuen Formen der Objektgestaltung und Architektur führten, beeinflussen digitale Entwurfs- und Fabrikationsmethoden die heutige Architektur. Die grössere Flexibilität und Komplexität der Welt der Objekte zeigt sich auch in den Entwurfsstudios, wo die Digitalisierung nicht im Vordergrund steht. Der Architekturgrundkurs der ETH, der auf Andrea Deplazes’ Handbuch «Architektur konstruieren» basiert, und die konstruktiven Experimente in den Studios von Fabio Gramazio und Matthias Kohler, Philippe Block oder Annette Spiro öffnen ein breites Spektrum von Möglichkeiten, das von ihren jüngeren Teamkollegen weitergeführt wird.

So haben Guillaume Othenin-Girard und Amy Perkins, wissenschaftliche Mitarbeitende im Studio Tom Emerson an der ETH Zürich, im März 2019 eine Seminarwoche mit dem Titel «Weaving Scripting Writing» organisiert. Die Teilnehmenden haben etwas über 3D digital knitting gelernt, Textilsammlungen besucht und schon am ersten Tag am Webrahmen gearbeitet. Die Übertragbarkeit der Experimente auf die Architektur zeigt der Schutzbau über einer archäologischen Grabungsstätte in Pachacámac bei Lima in Peru, ein Projekt initiiert am Lehrstuhl von Studio Tom Emerson in Zusammenarbeit mit der Architekturschule PUCP Lima unter der Leitung von Guillaume Othenin-Girard und Vincent Juillerat (PUCP). Dieser «Raum für Archäologen und Kinder» wurde aus Polyesterbahnen buchstäblich zwischen den Holzbalken der Tragkonstruktion gewebt.

Man findet unschwer weitere Beispiele für ein heutiges Bauhaus. Es befindet sich überall dort, wo innerhalb des regulierten Bereichs der Evaluationen und Leistungskontrollen Freiräume für Experimente entstehen können: Räume für Bildung, die man mit den Kriterien der vermarktbaren Kompetenz nicht evaluieren kann.


Anmerkungen:
[01] Peter Meyer, «Moderne Architektur und Tradition», Zürich: H. Girsberger 1927, S.42.
[02] Theodor W. Adorno, «Funktionalismus heute», in ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S.104–127, hier S.110.
[03] Rudolf Schwarz, «Bilde Künstler, rede nicht. Eine (weitere) Betrachtung zum Thema Bauen und Schreiben», in Baukunst und Werkform, Jg. VI (1953), Heft 1, S.9 ff.
[04] Tom Wolfe, «Mit dem Bauhaus leben. Die Diktatur des Rechtecks», Übers. Harry Rowohlt. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S.60 f.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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