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Sprechender Zeitzeuge

White City Center in Tel Aviv (IL)

Manchmal sind Entstehungsprozess und Hintergrund eines Projekts fast wichtiger als das architektonische Ergebnis. So auch beim White City Center in Tel Aviv. Aus einem Wohnhaus wurde ein Informationszentrum für das UNESCO-Welterbe Weiße Stadt. Vor allem aber schlägt sich an diesem Gebäude die besondere Beziehung zwischen Deutschland und Israel nieder – von der NS-Zeit bis heute.

9. Dezember 2019 - Christian Schönwetter
Wer durch die Straßen von Tel Aviv schlendert, wird ein klassisches Zentrum vergeblich suchen. Während sich die europäische Stadt zum Kern hin immer stärker verdichtet, zeigt sich Tel Avivs Mitte kräftig durchgrünt: offene Bauweise statt kompaktem Block, Mehrfamilienhäuser zwischen Bäumen statt komplett bebauter Grundstücke. An wenigen Orten der Welt wurde die Gartenstadtidee so konsequent umgesetzt wie hier, wo sie tatsächlich zu einer ganz eigenen, ausgewogenen Mischung aus Wohnen, Arbeiten und Handel geführt hat – deutlich urbaner als etwa be deutschen Gartenstädten, aber eben auch deutlich aufgelockerter als bei hiesigen Zentren. Es ist dieses besondere Gefüge, das neben der weltweit größten Ballung von rund 2 000 Gebäuden des internationalen Stils dazu geführt hat, dass der Kern von Tel Aviv, die Weiße Stadt, inzwischen zum UNESCO-Welterbe zählt.

Inmitten des geschützten Gebiets hat die Kommune nun ein Informationszentrum eingerichtet. Das White City Center klärt Touristen und Architekturinteressierte über die Geschichte der Weißen Stadt auf, betreibt Forschung und dient als Beratungsstelle für Eigentümer, die ihre denkmalgeschützte Immobilie sanieren wollen. Untergebracht ist die Institution in einem ehemaligen Wohnhaus unweit von architektonischen Attraktionen wie dem Rothschild Boulevard oder dem Dizengoff Square, wenn auch etwas versteckt in einer der ruhigeren Seitenstraßen. Geradezu beispielhaft eignet sich das denkmalgeschützte Bauwerk dazu, die Besonderheiten der Weißen Stadt zu veranschaulichen: 1936 errichtet, entstand es genau zu der Zeit, als viele Juden aus Deutschland nach Palästina auswanderten und Tel Aviv explosionsartig wachsen ließen, allein von 1931-38 von 46 000 auf 150 000 Einwohner. Der deutsche Arzt Max Liebling finanzierte das Haus und bezog eine der sechs großzügigen Vierzimmer-Wohnungen selbst. Daher legte er bei seinem Gebäude Wert auf repräsentative, anspruchsvolle Architektur. Die lieferte Dov Karmi. Wie viele seiner Kollegen in Tel Aviv schuf er eine regionale Spielart des Internationalen Stils, die an das subtropische Klima angepasst ist.

Ganz typisch an seinem Entwurf ist etwa die Grundrissfigur aus zwei gegeneinander verschobenen Volumina. Sie erzeugt einen kleinen schattigen Vorplatz auf dem Grundstück, der den Eingang betont, gleichzeitig erhöht sie die Zahl der Eckzimmer, die sich mit zwei Fenstern nach verschiedenen Seiten gut durchlüften lassen. Um die Innenräume vor der gleißenden Sonne zu schützen, setzte Karmi nicht auf die großen Glasflächen der europäischen Moderne, sondern auf die ortsüblichen kleineren Öffnungen. Und Le Corbusiers programmatisches Bandfenster transformierte er in eine schmale langgezogene Öffnung, die teils Fenster, teils schattenspendende Loggia ist, aber selbstverständlich ums Eck geführt wird, um der Straßenfront eine schwebend leichte Erscheinung zu geben. Der Vorgarten sorgt auch in den straßenseitigen Räumen des EGs für ein ausreichendes Maß an Privatsphäre.

Gemeinschaftsprojekt

Bis 1990 wurde das Haus bewohnt, dann an die Stadt vererbt, die im EG eine Kita und in den oberen Geschossen Büros einrichtete. Weil deutsche Einwanderer sowohl in der Geschichte des Gebäudes als auch der Weißen Stadt eine bedeutende Rolle gespielt hatten, entstand die Idee einer deutsch-israelischen Kooperation, als es nun um die Umnutzung des Hauses zum White City Center ging. Die Bundesregierung, vertreten durch das Amt für Bundesbau, unterstützte das Vorhaben finanziell, aber auch mit bauhistorischer Expertise, da es in Israel wenig Erfahrung im Umgang mit Denkmalen der Moderne gibt. Mit der Stadt Tel Aviv etablierte man für das Gemeinschaftsprojekt einen wissenschaftlichen Beirat mit Vertretern aus beiden Staaten, von deutscher Seite brachte etwa Winfried Brenne sein Wissen ein (siehe auch Seite 92-98). Die Planung des Umbaus übernahm das ortsansässige Büro von Dov Karmis Tochter Ada Karmi-Melamede. Im September fand die feierliche Eröffnung statt.

Besucher betreten das Gebäude durchs Treppenhaus, passieren die alten hölzernen Briefkästen und dürfen sich fühlen wie die Mieter von 1936 auf dem Weg in ihre Wohnung. Ein barrierefreier Zugang zum Hochparterre wurde unauffällig an der Rückseite im Garten angelegt. Dort erschließt ein neuer, vor die Fassade gestellter Aufzugsturm alle Geschosse. Weil er das gleiche beigeweiße Putzkleid wie der Altbau trägt, ist er allerdings nicht eindeutig als Bauteil unserer Tage zu identifizieren; vielleicht hätte sich ein anderes Material, z. B. entsprechend eingefärbter Sichtbeton, besser geeignet, um den Aufzug dezent als nachträglichen Anbau an das Denkmal kenntlich zu machen.

Neues Innenleben

Die stärksten Veränderungen erfuhr das EG. Hier lässt sich die Dauerausstellung besichtigen, in der die Geschichte der Weißen Stadt chronologisch erzählt wird. Um dafür einen ausreichend großen Raum zu schaffen, wurden einige Wände entfernt, ebenso für das Café. Die Abbruchkanten sind an Decke, Wand und Boden sichtbar belassen, verweisen auf den baulichen Eingriff und die ursprüngliche Grundrissaufteilung. Auch die Ausstellungsgestaltung deutet die frühere Nutzung als Wohnhaus an – vor den Wänden stehen Schubladen-Vitrinen in Form von Sideboards, darüber hängen Informationstafeln wie gerahmte Erinnerungsfotos.

Durchs Treppenhaus geht es weiter nach oben. An zwei Stellen fehlen die originalen Wandfliesen. Als sie vor vier Jahren abfielen und auf der Rückseite der eingeprägte Schriftzug »Villeroy & Boch« sichtbar wurde, stellte sich heraus, dass sie zu den unzähligen Baumaterialien gehören, die von 1933–39 nach Palästina verschifft wurden – als Teil des sogenannten Transferabkommens zwischen Deutschland und Palästina: Juden, die vor dem Nationalsozialismus flohen, wurden bei der Ausreise verpflichtet, an ihrem neuen Wohnort deutsche Waren zu importieren. Auf diese Weise kurbelte das NS-Regime die eigene Wirtschaft an und sicherte sich Devisen.

An vielen 30er-Jahre-Häusern im Zentrum Tel Avivs finden sich daher deutsche Bauprodukte. Weil das Gebäude auch in dieser Hinsicht typisch für die Weiße Stadt ist, wurden die Treppenhausfliesen nun besonders inszeniert. Per 3D-Druck fertigte man farbig abgesetzte Replikate an und setzte sie mit dem Schriftzug nach außen in die beiden Fehlstellen, sodass sie nun als neue Schicht von der deutsch-israelischen Vergangenheit erzählen.

Für die oberen Etagen fand man eine Nutzung, die sich bestens für die vorgefundene Raumstruktur eignet. Eine der beiden Wohnungen im 1. OG nimmt die Verwaltung auf, in der anderen ist die Forschungsabteilung mit Archiv untergebracht. Im 2. OG angekommen, können Besucher erneut das Wohngefühl der 30er Jahre nachempfinden. Die vordere Vierzimmer-Einheit zeigt sich im ursprünglichen Grundriss und wurde mit einigen originalen Möbelstücken eingerichtet. Besonders gut erhalten sind Bad und Küche mit alten Waschtischen, Armaturen und Fliesen. Die hintere Wohnung bietet heute Platz für Wechselausstellungen.

Sanierungsfall Fassade

Während sich die ehemaligen Wohnräume im gesamten Haus in einer Art Rohbauzustand ohne Tapeten oder Anstriche präsentieren, bekamen die maroden Fassaden ein erneuertes Putzkleid und zeigen nun wieder das Erscheinungsbild von 1936. Weil in Israel kaum ein Handwerker traditionelle Techniken der Restaurierung beherrscht, erfolgte auch das Wiederherstellen des Putzes als deutsch-israelische Gemeinschaftsarbeit. Azubis des Stuckateur- und Malergewerks aus beiden Ländern sanierten zusammen unter fachkundiger Führung die Gebäudehülle. Das Amt für Bundesbau bat hierzu die Sto-Stiftung um fachliche und finanzielle Unterstützung für die Entsendung der angehenden Handwerker nach Tel Aviv. Je eine Woche arbeiteten die gemischten Teams auf dem Gerüst und tauschten ihr Wissen aus, bevor die nächste Schicht anrückte. Um den Generalunternehmer des Umbaus von der Haftung zu entbinden, wurde die Fassadeninstandsetzung als eigenes »Projekt im Projekt« durchgeführt.

Inzwischen erstrahlt das Gebäude in jenem makellosen Glanz, den man gemeinhin mit der »Weißen Moderne« assoziiert. Aus seiner grauen Umgebung, in der viele Denkmale offensichtlich schon lange auf eine Sanierung warten, sticht es deutlich hervor. Man kann nur die Daumen drücken, dass das White City Center tatsächlich den beabsichtigten Impuls für die denkmalgerechte Erneuerung der Weißen Stadt gibt. Und hoffentlich findet es v. a. bei den Besuchern Anklang – statt bei den berüchtigten Fledermäusen, die in der Gartenstadt Tel Aviv überall in den Bäumen leben und im Nachtflug noch fast jede neue Putzfassade in kurzer Zeit mit ihren Hinterlassenschaften in ein bräunlich gesprenkeltes Action-Painting verwandelt haben.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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