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db deutsche bauzeitung 2020|05
Potenzial Topografie
db deutsche bauzeitung 2020|05

In den Hang komponiert

Schulcampus in Neustift im Stubaital (A)

Das Miteinander steht im Schulcampus Neustift an erster Stelle. Das zeigt das pädagogische Konzept der ­offenen Lerncluster, aber auch das Schulhaus selbst: Nach Plänen von fasch&fuchs.architekten entstand eine faszinierende Architekturlandschaft, die viel Bewegungsfreiheit bietet und zugleich behutsam in die Tiroler Bergwelt eingebettet ist.

7. Mai 2020 - Roland Pawlitschko
Die Gemeinde Neustift im Stubaital befindet sich auf rund 1 000 m Seehöhe einige Kilometer südlich von Innsbruck, ganz in der Nähe des Skigebiets ­Stubaier Gletscher. Sie setzt sich aus zahlreichen Ortsteilen zusammen, die als gleichmäßig verteilte Bebauungsinseln aus Wohnhäusern und Hotels fast nahtlos ineinander übergehen. Prägend für das Erscheinungsbild des Tals ist jedoch nach wie vor die weitläufige Wald- und Wiesenlandschaft. Am westlichen Rand des Ortsteils Kampl, am Übergang zu eben dieser Naturlandschaft, realisierte die Gemeinde im Rahmen eines zweistufigen, EU-weit offenen Architektenwettbewerbs den Schulcampus Neustift. Ziel des von ihr ausgelobten Verfahrens war die Zusammenführung mehrerer bislang auf dem Gemeindegebiet verstreuter Schulen mit insgesamt rund 450 Schülern der 1.-9. Klassenstufe. Teil des Campus sind die Volksschule, die Neue Mittelschule, die Polytechnische Schule und die Skimittelschule mit Ski-Trainingszentrum (inklusive Internat) und Mensa sowie eine auch für Breitensportaktivitäten und andere Veranstaltungen konzipierte Sporthalle. Sieger des Wettbewerbs wurde das Wiener Büro fasch&fuchs.architekten, das die Konkurrenz so klar für sich entschied, dass die Jury keinen zweiten, dafür aber zwei dritte Preise vergab.

Schule mit Weitblick

Das 12 000 m² große, zuvor unbebaute Grundstück liegt gut erschlossen direkt an einer Landesstraße am Rand des Ortsteils Kampl. Es fällt nach Westen leicht ab und bietet eine geradezu kitschig schöne Aussicht auf die Wälder, Almwiesen und Heuschober der nur spärlich bebauten westlichen Talflanke. Dass dieses einzigartige Umfeld eine bauliche Lösung erforderte, die die Landschaft in besonderer Weise würdigt, war für die Architekten schon nach der ersten Begehung klar. Entsprechend entwarfen sie ein kleinteiliges, sensibel mit einem eingeschossigen und zwei höheren Bauvolumen in den Hang komponiertes Gebäudeensemble. Dies ermöglicht von fast jedem Innenraum Blickbezüge in die Umgebung, ohne gleichzeitig mit den Baukörpern den dörflichen Maßstab zu sprengen. Zur Einbettung in die dörflichen Strukturen tragen auch die unaufdringlich eleganten Holzfassaden bei. Die OGs der beiden höheren Gebäude verfügen über Fassaden aus grazilen vorvergrauten Lärchenholzstäben, während das beide Gebäude verbindende EG mit einer einfachen Schalung aus Fichtenholzbrettern bekleidet ist.

Auch wenn im Bewerbungsverfahren der ersten Wettbewerbsphase explizit nach Referenzprojekten mit hoher Qualität in Bezug auf »maßstäbliches und landschaftsbezogenes Bauen« verlangt wurde, ist der Landschaftsbezug nicht der einzige Grund für das Konzept einer gebauten Landschaft. Vielmehr übersetzten die Architekten damit auch den Wunsch der Ausloberin nach einer »Schule von morgen«, die vielfältige pädagogische Ansätze und insbesondere einen »offenen« und »verschränkten« Unterricht mit ineinander übergehenden Lern- und Freizeitphasen ermöglichen soll. Zu den unerlässlichen Voraussetzungen zur Umsetzung solcher Ansätze zählt nicht zuletzt eine hohe Aufenthaltsqualität der Innen- und Außenräume, über die der Schulcampus heute zweifellos verfügt.

Auf Entdeckungsreise

An der Landesstraße tritt die Schule zunächst als zweigeschossiger Baukörper in Erscheinung. Dass dieser Kopfbau neben der Volksschule im OG auch eine gut 8 m hohe Dreifachturnhalle mit Zuschauertribüne beherbergt, lässt sich nur anhand der Glas-Oberlichter auf dem Vorplatz zur Straße erahnen. Von hier aus ebenfalls kaum auszumachen sind die sechs eingeschossigen Lerncluster, die terrassenartig gestaffelt links und rechts einer mittigen Erschließungsachse angeordnet sind. Die Polytechnische (Berufs-)Schule und die Skimittelschule für junge Ski- und Snowboardtalente belegen jeweils einen der oberen Cluster; die Neue Mittelschule ist in den unteren vier Clustern ­untergebracht. Den talseitigen Abschluss des Gebäudeensembles bilden schließlich eine von allen Schülern gemeinsam genutzte Mensa und das fünfgeschossige Trainingszentrum der Skimittelschule.

Wer den Schulcampus über den Haupteingang am Vorplatz betritt, taucht in ein lichtdurchflutetes Gebäude ein, das sich sofort als vielschichtige Architekturlandschaft entpuppt. Faszinierend ist dabei keineswegs nur die Präsenz der umgebenden Natur, sondern auch die strukturelle Offenheit – im EG selbst, aber auch von hier zu den darüber und darunter liegenden Geschossen. Das macht neugierig und weckt die Lust, sich auf Entdeckungsreise zu begeben. Den Auftakt bildet die Aula mit Schulbibliothek und Lesearena in der Eingangsebene. Wirklich interessant wird es aber erst, wenn man eine der zahlreichen Treppen und Rampen begeht. Letztere sind mit 9,5 % Steigung nicht wirklich rollstuhlgerecht, aber für Selbstfahrer in der Regel noch machbar. Um den Vorschriften Genüge zu tun, gibt es an jeder der vier Treppen in der mittigen Erschließungsachse einen Treppenlift – im Kopfbau und im Ski-Trainingszentrum gibt es zudem Aufzüge. Die Wahrscheinlichkeit, sich im Haus zu verlaufen, ist denkbar gering; und das liegt v. a. an zwei Aspekten: an der Hanglage und an der Erschließungszone in der Mitte. Im Zusammenspiel bilden sie perfekte Orientierungselemente, die stets vor Augen halten, wo man sich gerade befindet.

Wie in einem Bergdorf

Prinzipiell führen von jedem Ort im Gebäude zwei Wege nach oben oder unten. Da gibt es einmal die Möglichkeit, sich auf dem Dach im Freien zu bewegen: Grasflächen, Holzdecks, flache Treppen sowie Sitzgelegenheiten an Bäumen dienen hier zudem als kleinteilige Aufenthaltsbereiche. Hinzu kommen die sechs Innenhöfe der Lerncluster, die jeweils einen Zugang ins Gebäudeinnere bieten und zusammen mit den Wegen eine Art dezentralen Pausenhof bilden. Räumlich ganzheitlich erlebbar wird der Schulcampus aber erst, wenn man auch die mittige innere »Straße« einbezieht. Sie schließt den Kreis und lässt ein engmaschig vernetztes Wegesystem entstehen, das den Schülern und ­Lehrern viel Bewegungsfreiheit beschert. Das Besondere an diesem Rückgrat ist zum einen der leichte Knick, der dafür sorgt, dass von einem Ende nicht das andere zu sehen ist, zum anderen ist es nicht einfach als abgetreppter Flur konzipiert; wie auf dem Dach gibt es auch hier Treppen, Rampen und Sitzstufen sowie als Garderoben genutzte Auf­weitungen unmittelbar vor jedem Cluster, die den Weg wie in einem Bergdorf in Straßen, offene und eher zurückgezogene Bereiche gliedern. Großzügig wirkt die innere Straße aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil die zahl­reichen Glasfelder der Fassade zu den Innenhöfen für viel Tageslicht sorgen.

Flexibilität und Farbverläufe

Alle Lerncluster sind gleich aufgebaut: Es gibt zwischen zwei und vier Klassenräume, die dem zum Innenhof orientierten Bereich für offenes Lernen gegenüberstehen, sowie seitlich je ein Lehrerzimmer und einen Gruppenraum. Große Glaswände zwischen den einzelnen Räumen unterstützen den Austausch. Zugleich gewährleisten sie, dass die Schüler auch dann beaufsichtigt werden können, wenn sie sich zum Lernen, Arbeiten oder Erholen auf den ganzen Cluster oder die Innenhöfe verteilen. Eine Besonderheit des offenen Lernbereichs ist seine Ausstattung mit eigens von den Architekten entworfenen Möbeln. Dazu zählen etwa unterschiedlich hohe, aufklappbare und mit Rollen versehene Schränke, in denen sich u. a. Unterrichtsmaterialien befinden, und die sich auch als Stehtisch oder Raumteiler eignen. Hinzu kommen frei im Raum verteilte Sitzsäcke und rechtwinklige Sitz- und Liegepolster. Resultat ist ein flexibel nutzbares Umfeld, das offene Lernformen ebenso fördert wie alternative Körperhaltungen. Die angenehme Offenheit und die inspirierende Vielfalt der Ausstattung sind nur möglich, weil sämt­liche Bereiche über eine Sprinkleranlage verfügen.

Im Wesentlichen prägen fein verarbeiteter Sichtbeton sowie weiße Geländer, Holzfußböden, Akustikelemente und Einbauten die Innenräume. Dass bei aller Gleichförmigkeit der Cluster und der Haupterschließungsachse dennoch individuelle Bereiche entstehen, liegt am feinsinnigen Farbkonzept der Künstler Hanna Schimek und Gustav Deutsch. Auf Grundlage des Naturphänomens, dass Farben mit zunehmender Entfernung immer mehr verblassen, gestalteten sie die mittige Straße mit sanften Verläufen von hellen zu dunklen Farbtönen. Von oben nach unten lässt die Farbintensität z. B. der roten Akustikdeckenfelder zusehends nach, während die türkisfarbenen Setzstufen und Rampen von unten nach oben immer heller werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Mobiliar in den Clustern, dessen Farbigkeit gemäß dieser Idee ebenfalls variiert.

Die insgesamt eher zarte Farbgebung unterstreicht den Natur- und Ortsbezug der Schule ebenso wie das im pädagogischen und räumlichen Sinne inklusive Gebäudekonzept: In einer sorgfältig in die Topografie und Dorfstruktur eingebetteten Architekturlandschaft treffen Kinder aus vier Schularten und neun Klassenstufen aufeinander, die sich hier völlig selbstverständlich und frei bewegen können und sollen, und die nicht zuletzt dank der in jeder Hinsicht offenen Gestaltung eine große Gemeinschaft ausbilden.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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