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Dem Ort verbunden

Wohn- und Werkhaus in Schwaikheim

Durch die Zusammenarbeit von Bauherren und Planern, die sich jeweils ihrer vielschichtigen baulichen Verantwortung bewusst sind und auf Langlebigkeit statt hohe Rendite setzen, konnte in Schwaikheim ein Mut machendes Bauensemble entstehen, dem große Strahlkraft über den Ort hinaus zu wünschen ist.

8. Dezember 2020 - Martin Höchst
Seit dem Anschluss von Schwaikheim an das Eisenbahnnetz Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Ort vom Bauerndorf zur Wohngemeinde. Statt von der Landwirtschaft wird das Ortsbild der heute knapp 10.0000 Einwohner zählenden Gemeinde mittlerweile von den Wohnsiedlungen der in den großen Unternehmen der Städte ringsum Beschäftigten geprägt. Der Ort wuchs über die Zeit v. a. nach Süden in Richtung des ursprünglich 1 km vom Ortskern entfernt liegenden Bahnhofs. Und so führt heute der Weg des dort Ankommenden zur historischen Ortsmitte durch ein überraschend großes Wohngebiet, das so auch am Rande einer ausgewachsenen Stadt liegen könnte. Angekommen .im nur teilweise historisch erhaltenen Dorfkern, stößt man auf die große Baustelle der »Neuen Ortsmitte«, eines Wohn- und Geschäftshauskomplexes, der leider in seiner ertragsoptimierten Bauweise nicht viel zur Reparatur des Ortsbilds beitragen wird. Nur 20 km vor den Toren der teuren Landeshauptstadt gelegen und mit direkter S-Bahnverbindung dorthin, ist die Nachfrage nach Wohnraum groß. Und so wurde erst vor Kurzem ein neues Wohngebiet am Ortsrand erschlossen.

In Schwaikheim, wie auch sonst vielerorts in ehemals von der Landwirtschaft geprägten Gemeinden, besteht jedoch insbesondere entlang der historisch gewachsenen Hauptverkehrsachsen das größte Potenzial und zugleich auch der größte Nachholbedarf, identitätsstiftend tätig zu werden: Der ursprünglich attraktive Standort an der Hauptstraße mit kurzen Wegen in repräsentativer Lage verkam mit dem stetig wachsenden Autoverkehr über die Jahrzehnte zur lauten B-Lage. Zudem lässt sich die hier immer noch häufig vertretene Bautypologie des bäuerlichen Anwesens nur sehr bedingt an den vorherrschenden Bedarf nach bezahlbarem und zeitgemäßem Wohnraum anpassen.

Zwischen Lärm und Wiesen

Nördlich des Ortskerns zeigt sich der Gürtel mit Wohngebieten nicht ganz so ausgeprägt. Und so liegt der Neubau eines Mehrfamilienhauses und einer Werk- und Abstellhalle, geplant von Markus Binder (CAPE Ingenieure, Esslingen) und schleicher.ragaller architekten (Stuttgart), ganz nah am historischen Kern und zugleich fast unmittelbar am Feldrand: vorne laute Durchgangsstraße und nach hinten die leicht hügelige Landschaft mit Feldern, Obstwiesen und Hängen, auf denen u. a. Wein kultiviert wird.

Bereits der erste Blick auf das mit dunkel lasiertem Holz bekleidete Bau­ensemble vermittelt eine Mischung aus Vertrautheit und Besonderheit, aus Funktionalität und hohem gestalterischen Anspruch. Zwischen 80er-Jahre-Architektur und einem in die Jahre gekommenen historischen Bauernhof gelegen, streckt sich das dreigeschossige Wohngebäude mit seiner Giebelseite recht nah an die Straße, während das rund ein Geschoss niedrigere Pendant der Werk- und Abstellhalle deutlich nach hinten gerückt ist. Jeweils völlig fensterlos und mit einem Satteldach ohne Überstand ausgestattet, sehen die beiden gleich breiten Giebelseiten frontal betrachtet wie die Abstraktion eines bäuerlichen Anwesens aus. Auch der Sichtbetonsockel des Wohnhauses, der sowohl die Garagentore an der Stirnseite als auch die großzügige Eingangsnische rahmt, unterstützt diesen Eindruck. Das Bild der vormaligen Bebauung des Grundstücks mit einer großen Scheune und einem kleinen Wohnhaus wurde neu interpretiert und dadurch in gewisser Weise sogar bewahrt.

An der Rückseite stehen die beiden Baukörper im abfallenden Gelände in derselben Flucht und nehmen im ebenfalls in Sichtbeton gefassten Hanggeschoss eine Wohnung mit Gartenzugang und drei gedeckte Stellplätze unterhalb der Werkhalle auf.

Die Größenverhältnisse des vormaligen Bestands von Wohnhaus und Funktionsgebäude haben sich mit der Neubebauung umgekehrt: Insgesamt sechs großzügige Zweizimmerwohnungen sowie drei Autostellplätze kommen im Wohnhaus unter, während das »Werkhaus« dem Bauherrn, Jens Wössner, seiner hobbymäßigen Tätigkeit im ursprünglich erlernten Beruf als Zimmermann dient. Jens Wössner und seine Schwester Sabrina Hiss, Erben des Familienanwesens, entschieden sich, anstatt das Objekt an einen Bauträger zu verkaufen, selbst eine Mietimmobilie zu realisieren und dadurch auch ein Stück Verantwortung für ihren Heimatort zu übernehmen.

Im besten Sinne Vernünftig

Befreundet mit den Bauherren, wurde Architekt Markus Binder, der auch als Professor am Fachgebiet Integrierte Gebäudetechnik an der Hochschule für Technik Stuttgart tätig ist, um Rat gefragt und schließlich auch beauftragt, das ambitionierte Familienprojekt in Kooperation mit den Planern von schleicher.ragaller architekten umzusetzen. Die unterschiedlichen Schwerpunkte ihrer jeweiligen Planungstätigkeit – auf der einen Seite Ressourcenschonung und Energieeffizienz und auf der anderen die klassische Entwurfs-, Planungs- und Bauleitungstätigkeit – führten zwar mitunter zu Reibungen, was sich letztlich aber immer als gewinnbringend für das Projekt erwiesen habe, so berichten Markus Binder und Michael Ragaller unisono.

Dass ein im besten Sinne vernünftiges Gebäude eines sei, das den Anspruch hat, eine gute Mischung aus Sparsamkeit und Langlebigkeit abzubilden, darin waren sich Planer und Bauherren einig. Und auch darüber, dass dies nur im Zusammenspiel einer zukunftsfähigen Baukonstruktion und Gebäudetechnik mit einer funktional wie ästhetisch langlebigen Gestaltung erreicht werden könne.

So wurde das Wohnhaus als ressourcenschonender Holzbau (teurer als der Standard, aber schneller zu errichten) mit Vollholzdecken und hochgedämmten Holzständerwänden auf einem robusten kerngedämmten Betonsockel (ebenfalls nicht die kostengünstigste Bauvariante, stattdessen jedoch langlebig und alterungsfähig) errichtet. Das Wohnhaus erreicht somit einen KfW55-Standard und kann mit der auf der optimal nach Süden ausgerichteten Dachfläche projektierten PV-Anlage in der Jahresbilanz sogar noch zum Nullenergiegebäude werden.

Die Überlegungen zum Ausgleich von Erstellungskosten und langfristiger Wirtschaftlichkeit des Gebäudes spiegeln sich auch in der Grundrissgestaltung der Wohnungen wider, die kleine Spannweiten der Decken erlaubt, aber zugleich Platz für Loggien statt der üblichen Balkone bietet. Auch im angenehm lichten Treppenhaus trifft diese abwägende Gestaltungshaltung in Form einer sehr großzügigen Verglasung und einer unbekleideten Betonfertigteiltreppe aufeinander. Selbst die Aufstellung der Luftwärmepumpe innerhalb des Gebäudes, und in Kauf zu nehmen, dadurch vermietbare Fläche zu »verschenken«, folgt dem Bestreben nach Architektur mit hoher Haltbarkeit.

Das sorgfältig detaillierte und umgesetzte Ergebnis all dieser Überlegungen überzeugte Bauherrn Jens Wössner schließlich so sehr, dass er, obwohl dies anfänglich gar nicht vorgesehen war, selbst in eine der Wohnungen einzog.

Der großzügige, zur Straße hin offene Vorplatz dient nicht nur als Werkhof für seine Zimmerei und als Mieterparkplatz, sondern auch als alljährlicher vorweihnachtlicher Treffpunkt des ganzen Orts bei seinem Weihnachtsbaumverkauf. Mit der Pflanzung eines schattenspendenden Baums würde hier, vor dem kleinen Bauensemble, das sich dem Ort so verbunden zeigt, sicherlich auch im Rest des Jahres noch das eine oder andere Dorfschwätzchen gehalten werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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