Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 2021|06
Bauen für Kinder
db deutsche bauzeitung 2021|06

Fast wie in der Gründerzeit

Kita Ötztaler Straße in Stuttgart

Auch wenn Architektur für Kinder längst nicht mehr so laut und bunt daherkommt wie noch vor einigen Jahren – eine Kita, die den Bestand einfach ergänzt und sich gut ins Quartier einfügt, ist eine genauere Betrachtung und einen Artikel allemal wert. Mitten im Stuttgarter Neckarvorort Untertürkheim gelang einem erfahrenen kleinen Büro genau das.

7. Juni 2021 - Christoph Gunßer
»Wie hätte man das vor hundert Jahren gemacht?«, fragten sich Stefanie und Stephan Eberding von se, als sie mitten im intakten gründerzeitlichen Baublock einen Ersatz für die altersschwache Kita schaffen sollten. Das Büro, das die Suche im Namen trägt und schon rund ein Dutzend sehr indi­viduelle Kitas realisiert hat, fand hier als Antwort: ruhig und flexibel wie in der Gründerzeit!

Gleich nebenan macht es ihnen die ehemalige Kleinkinderschule (heute: Hort) vor, ein klar rhythmisch gegliederter Jugendstilbau mit offenen Etagen und großen Fenstern bis hinauf ins raumhaltige Dach. Ihm wollten sie einen Bruder im Geiste zur Seite stellen, mit zeitgenössischen Mitteln, versteht sich.

Klare Kante, aber durchlässig zum Hof

Nachdem den Architekten im Rahmen einer Machbarkeitsstudie klar geworden war, dass die auch deutlich zu kleine Vorgänger-Kita nicht zu halten und das Bewahrenswerte an der Situation der von alten Kastanien verschattete Hof war, wussten sie: Es läuft auf eine mehrgeschossige Lösung hinaus, die den Block auf der Nordseite schließt und sich zum Hof hin öffnet.

Der neue Baukörper ordnet sich der Jugendstilschule mit ihrem dominanten Mansarddach unter, indem er nur zwei Vollgeschosse hat und darüber ein Satteldach mit Kniestock, in den straßenseits vier Gaupen eingeklinkt sind, ein modern-machbares Echo der opulenten Dachlandschaft nebenan. Sechs Gruppen passen so in den Neubau, zwei auf jeder Etage. Die Dachräume werden zusätzlich durch vier Lichtkamine erhellt, die wie die Gaupen einen häuslichen Maßstab etablieren, der den im Kontext doch recht großen Baukörper feingliedriger macht.

Dazu trägt auch die Materialisierung der Fassaden bei: Wie bei der Schule ist dies nach außen Sichtmauerwerk, doch nicht weiß geschlämmt, sondern im roten Naturton des Klinkers, wie er ähnlich an etlichen Altbauten im Quartier vorkommt. Im selben Ton eingefärbter Mörtel beruhigt die Flächen, ebenso die nur wenigen großen (meist geschosshohen) Öffnungen, die von grauen Betonstürzen nachvollziehbar überspannt werden. Über die Nebenraumfenster und auch die Ruheräume der Kleinen zieht sich die Vormauerschale als ­offenes diagonales Gitter, eine elegante Lösung, um Luftbedarf und formale Großzügigkeit zu vereinbaren.

Innen ist das Haus symmetrisch zweigeteilt, auch brandschutztechnisch. In den Vollgeschossen gibt es einen etwas dämmrigen Innenflur, an dem straßenseitig die Nebenräume, zum Hof die Gruppenräume liegen. Parallel ­verläuft auf der Hofseite in den OGs ein gedeckter Laubengang mit den erforderlichen zwei Treppenhäusern an den Enden. Zwischen den Erschließungen spannt sich jeweils ein durchgesteckter Spielflur. Die Kita folgt dem Konzept der offenen Gruppenräume, in denen sich die Kinder selbst orientieren ­dürfen. Von daher ergibt das durchlässige, flexible Raumkonzept Sinn. Die ganz kleinen Kinder spielen im EG mit direktem Hofzugang, und im introvertierten Dach die größeren.
Im EG liegt gleich am Entree der große Bewegungsraum, der auch für Versammlungen genutzt wird und sich für Feste anmieten lässt. Leider wurde hier keine Bewirtungsmöglichkeit erlaubt. Auch eine Mehrfachnutzung des schönen Spielhofs verbieten die Regularien – im dicht bebauten Quartier ist er eine Oase, nun halt nur tagsüber für die Kita-Kinder. Nicht einmal die vom Hort nebenan dürfen ihn nutzen.

Ein robustes, flexibles Haus

Konstruktiv ist das Gebäude eine Mischkonstruktion aus Mauerwerk und Ortbeton-Massivbau, was auch die Logistik im sehr engen Quartier nahelegte. Der sauber brettergeschalte Sichtbeton empfängt einen gleich im Entree und zieht sich meist flächig durch die Flure. Die Aufenthaltsräume hingegen sind weiß verputzt. Kontrastiert werden diese Flächen stets vom hellen Holz des Ausbaus: Feine Lamellendecken, Holz-Glas-Trennwände, meist bodentiefe Holzfenstertüren mit Lüftungselementen bieten solide, langlebige Qualität; allein unter der Dachschräge kollidiert diese Finesse bisweilen etwas unschön mit den gewöhnlichen »Sauerkraut-Platten«. Das fällt bei den üblichen Flachdach-Kisten naturgemäß leichter …

Hat man sich aber einmal von der überkommenen Vorstellung verabschiedet, dass unsere Kinder in luftigen Pavillons im Park fernab jeden Trubels verwahrt werden, erscheint diese »urbane Kita« als eine recht humane Alterna­tive. Nah am Wohnort der Familien und damit fußläufig erreichbar, fügt sie sich in bestehende Netzwerke und stärkt das Quartier sozial, aber auch baulich. Wer hier aufwächst, braucht keine Helikoptereltern, kein Taxi hierhin und dorthin, sondern kann sich bald selbst orientieren. Viele Städte haben das auch aus Knappheit an Bauland längst erkannt und aus der Not eine Tugend gemacht. Den Planenden verlangt das die Fähigkeit ab, sich einzufügen, aber auch stadträumliche Bedürfnisse gegen die der Kinder abzuwägen, letztlich die Stadt kinderverträglich zu gestalten. Das ist hier mit einigem Erfolg versucht worden. Sicher, man wünschte sich schon bei der Annäherung ein breiteres Trottoir, vielleicht ­einen Shared-Space-Straßenraum, in dem die Menschen Vorrang vor den ­Autos genießen. Doch mit dem Daimler-Stammwerk fast in Sichtweite fällt die Verkehrswende offenbar schwerer als andernorts, wird jeder Pkw-Stellplatz verteidigt.

Auch das Gebäude selbst könnte in manchem noch kindgerechter sein: Die Laubengänge, speziell der im Kniestock, sind sehr neutral und karg gestaltet, als schlichte Verbindungswege. Es sieht bisher nicht danach aus, als funktionierte hier die gewünschte Mehrfachnutzung. Wie die Treppenhäuser entsprechen sie halt dem Brandschutz, entwickeln aber keinen rechten räum­lichen Eigenwert. Manchmal brauchen Kinder doch einen architektonischen Stups, um Räume zu erobern. Hier fehlt es vielleicht auch noch an Zeit, denn die Kita wurde erst im Herbst, mitten in der Pandemie, eröffnet und ist noch immer nicht voll in Betrieb. Zudem gilt es zu bedenken: Die anfangs ­erwähnte Flexibilität der Gründerzeit-Strukturen verband sich mit einem solche Interaktionen inspirierenden Detailreichtum, den heutige Budgets nicht mehr ­erlauben.

Dass hier trotzdem vieles richtig gemacht wurde, illustriert eine Beobachtung vor der Tür der Kita: Ein kleiner Junge an der Hand seines Vaters bummelt die Ziegelwand entlang. Er streicht bedächtig über die Fugen, be-greift vermutlich gerade, dass dieses große Haus ganz ähnlich gefügt wurde wie seine eigenen ersten Versuche mit Bausteinen. So beginnt Aneignung von Welt.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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